Tödliche Pandemiephase in Russland
Russland verzeichnet aktuell die höchsten Infektionszahlen seit Pandemiebeginn. Täglich werden über 35 000 Neuinfektionen gemeldet und nach offiziellen Angaben der Infektionsbehörde hält sich die Zahl der Corona-bedingten Todesfälle seit Tagen konstant über der Tausendermarke. Seit Pandemiebeginn sind insgesamt 233.898 COVID-19-Patient:innen in Russland gestorben. Weltweit liegt Russland bei den Infektionszahlen auf Platz fünf, bei den Totenzahlen auf Platz vier.
Die Übersterblichkeit Russlands in der Pandemie liegt sogar bei 463.000 Toten (Quelle). Millionen müssen ab dieser Woche mit strengen neuen Corona-Beschränkungen rechnen, nachdem eine schleppende Impfkampagne, ein überlastetes Gesundheitssystem und ein weit verbreitetes Misstrauen gegenüber der Regierung das Land in die bisher tödlichste Phase der Pandemie gestürzt haben.
Großteil verzichtet entweder vollkommen auf Masken oder trägt sie irgendwie unterhalb der Nase
Ich schreibe diese Zeilen aus Moskau, wo ich mich gerade auf einem Stipendienaufenthalt der Internationalen Journalistenprogramme (Quelle) bei der regierungskritischen Zeitung Novaya Gazeta (Quelle) befinde. Das Infektionsgeschehen spielt sich buchstäblich vor meinen Augen ab. Jeder Husten in der stets überfüllten Moskauer Metro, wo weder auf Masken noch Abstände geachtet wird, lässt mich zusammenzucken. Wenn überhaupt, tragen hier vor allem eher ältere Menschen einfache medizinische Masken, der Großteil verzichtet entweder vollkommen darauf oder trägt sie irgendwie unterhalb der Nase.
FFP2 oder FFP3 Exemplare sind hier rares sowie teures Gut. An jeder U-Bahnstation stehen Automaten mit Händedesinfektionsmittel, angesichts der Lage wäre zu erwarten, dass mehr Menschen diese benutzen würden. Obwohl der Moskauer Bürgermeister Sergej Sobjanin verkündet hatte, dass es nun Strafen für Missachtung der eigentlich geltenden Maskenpflicht in Moskau geben würde, scheint sie niemand so richtig durchsetzen zu wollen. In den öffentlichen Verkehrsmitteln wird einfach nicht darauf hingewiesen, in Flugzeugen ab und an, jedoch nur halbherzig. Und die Ermahnten reagieren sichtlich genervt oder kommen der Aufforderung nicht nach.
„arbeitsfreie Woche“ statt Lockdown?
Am 20. Oktober billigte der russische Präsident Wladimir Putin einen Vorschlag der Regierung, vom 30. Oktober bis zum 7. November in ganz Russland „arbeitsfreie Tage“ auszurufen, um die jüngste Pandemiewelle einzudämmen. Auch hochrangige Persönlichkeiten des Landes haben inzwischen offen zugegeben, dass die Lage angesichts des bevorstehenden Winters sehr ernst ist. Die „arbeitsfreie Woche“ ist ein vage definiertes Konzept, welches sich jedoch von einem Lockdown, wie ihn viele europäische Länder kennen, unterscheidet. Es handelt sich dabei nicht um eine vollständige Schließung; stattdessen werden nicht benötigte Arbeitnehmer:innen aufgefordert, zu Hause zu bleiben, während ihre Arbeitgeber:innen dazu angehalten werden, ihnen dafür zumindest den Mindestlohn zu zahlen.
Putin sagte, dass die Arbeitnehmer:innen auch dann bezahlt werden sollten, wenn sie nicht arbeiten, legte aber nicht fest, wer für die Rechnung aufkommt. Die Einzelheiten der Umsetzung des Dekrets, einschließlich der Frage, wer als unentbehrliche Arbeitskraft gilt, werden den regionalen Verantwortlichen überlassen (Quelle). Viele Arbeiter:innen äußerten Sorge, keinen Lohn zu erhalten, wie auch schon bei den letzten „arbeitsfreien Tagen“ im Frühling 2020.
Lockdown für Moskau & St. Petersburg
Da die Pandemie in Russlands Großstädten am stärksten wütet, kündigte auch Moskaus Bürgermeister Sergej Sobjanin einen Lockdown für die Hauptstadt an (Quelle). In Moskau sollen sich außerdem ungeimpfte Über-60-Jährige und chronisch Kranke ab dem 25. Oktober für vier Monate in Selbstisolierung begeben. Außerdem wird älteren Menschen die kostenlose Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel nicht mehr gestattet werden, so die angekündigten Einschränkungen. Darüber hinaus versprach Sobjanin älteren Einwohner:innen umgerechnet 140 Dollar als Anreiz für die Impfung zu zahlen. Nur ein Drittel der über 65-jährigen Moskauer:innen ist geimpft, was unter dem städtischen Durchschnitt liegt.
Kurz darauf wurde auch in St. Petersburg ein Lockdown angekündigt. Auf der Krim und in Sotschi wurden verpflichtende QR-Codes eingeführt, die man nur bei vollständiger Impfung erhält, um einreisen zu können oder Restaurants etc. betreten zu können. Man munkelt, dass man mit diesen Maßnahmen Moskauer:innen davon abhalten will, dem Lockdown in ihrer Stadt zu entfliehen. Stattdessen explodieren nun die Buchungszahlen bei diversen Reiseanbietern, vor allem nach Ägypten, in die Türkei oder auf die Malediven zieht es den wohlhabenderen Teil der russischen Bevölkerung, die den Lockdown für einen Urlaub mit der Familie nutzen wollen.
Ein tatsächlicher Lockdown sind diese arbeitsfreien Tage sowieso nicht. Zum Beispiel bleiben in Moskau Museen und Theater geöffnet. Betreten werden können sie jedoch nur beim Vorzeigen eines QR-Codes, den man bei vollständiger Impfung erhält (Quelle). Bisher hat die Regierung jedoch stets erklärt, dass es keinen Grund für die Ankündigung einer vollständigen Abriegelung gibt.
Anwachsen der Corona-Zahlen zufällig erst nach den Wahlen?
Besonders auffällig ist das rasante Anwachsen der Coronazahlen erst nach den russischen Parlamentswahlen, die am 19. September 2021 stattgefunden haben.
Um die Unterstützung seiner Wählerschaft nicht während der Wahlen zu verlieren (Ergebnisse hier), die übrigens von massiven Wahlfälschungsvorwürfen überschattet waren (Quelle), hat der Kreml bisher gezögert, unpopuläre Beschränkungen zu verhängen, denn der Großteil der russischen Gesellschaft hat eine gleichgültige oder ablehnende Haltung gegenüber den Maßnahmen aufgrund wirtschaftlicher, existentieller Ängste. Die teilweise Schließung im Frühjahr 2020 stürzte die russische Wirtschaft 2020 in eine Rezession, damit auch Putins Zustimmungswerte inmitten seiner Kampagne für Verfassungsänderungen, die seine Herrschaft möglicherweise bis 2036 verlängern könnten.
Russland hob daraufhin die Sperrmaßnahmen in den Wochen vor der Abstimmung über die Änderungen rasch auf und vermied eine Wiederholung, selbst als die Fälle während der zweiten Welle im Herbst 2020 in die Höhe schossen. Abriegelungsmaßnahmen und Impfaufträge wurden stattdessen an die lokalen Behörden delegiert (Quelle).
russische Regierung unentschlossen sowie planlos
Seit Pandemiebeginn wirkt die russische Regierung stets unentschlossen sowie planlos und gibt nur wenige Empfehlungen ab, um die Pandemie bestmöglich zu überstehen. Die arbeitsfreien Tage erscheinen eher wie eine symbolische oberflächliche Maßnahme, die wenig bis nichts am hohen Infektionsgeschehen ändern wird. Mitte Oktober prognostizierte die Regierung eine Verkleinerung der Bevölkerung im Laufe der nächsten 9 Jahre (Quelle). Im vergangenen Jahr ist die Bevölkerung Russlands zum ersten Mal seit 17 Jahren um 577,6 Tausend Menschen zurückgegangen. Am 1. Januar 2021 lag sie bei 146,17 Millionen, einschließlich der annektierten Krim. Die Regierung geht zwar davon aus, dass sich der Bevölkerungsrückgang ab dem Jahr 2022 verlangsamen wird. Ein Wachstum wird jedoch nicht vor 2030 erwartet. Nach diesen Berechnungen wird sie bis dahin auf 130 Millionen Menschen gesunken sein. Gleichzeitig ist die Sterblichkeitsrate um 16 Prozent gestiegen.
In den 12 Monaten von Oktober 2020 bis September 2021 war der Bevölkerungsrückgang in Russland wahrscheinlich der größte in der friedlichen Geschichte, schätzte der Demograf Alexei Raksha. Insgesamt lag dieser bei etwa 997.000 Menschen, einschließlich der Krim. Fast der gesamte Anstieg der Todesfälle ist auf eine Infektion mit dem Coronavirus zurückzuführen (Quelle). Kremlgegner Michail Chodorkowski kommentierte daraufhin auf Twitter, dass er das erste Mal in seinem Leben die Gewissheit habe, dass es der russischen Regierung gelingen würde, das gesetzte Ziel zu erreichen, auch angesichts der zuvor durchgeführten Erhöhung des Rentenalters.
Bevölkerung schrumpft
Die Gesamtbevölkerung Russlands wird bis 2021 um 535.500 und bis 2022 um weitere 533.400 abnehmen. Diese Prognose ist im Einheitlichen Plan der Regierung zur Erreichung der nationalen Entwicklungsziele Russlands enthalten, der diese Woche verabschiedet wurde. Die Bell-Redaktion hatte die Möglichkeit, das Dokument zu studieren.
Viele Russ:innen haben Fragen zur Impfung, ihrer Effektivität und Richtigkeit der Zahlen. Einige unterstützen zwar strengere Maßnahmen, weil sie sich über den Ernst der Lage im Klaren sind, umso mehr verstehen jedoch die Dringlichkeit der Situation nicht und haben Zweifel an den Informationen, welche seitens der Regierung bereitgestellt werden. Außerdem glauben viele der mehr als 8 Millionen Menschen, die die Krankheit bereits hatten, dass sie nicht Gefahr laufen, sich erneut anzustecken.
Misstrauen in den Sputnik-Impfstoff
Das Misstrauen in Sputnik ist enorm, die Angst davor bei manchen größer als vor Corona, obwohl die Impfung mittlerweile als sicher und wirksam eingestuft wurde (Quelle). Die Impfskepsis resultiert vor allem aus dem schleppendem Impfprogramm und Versagen der staatlichen Nachrichtenübermittlung heraus sowie einer unsteten, sprunghaften Coronapolitik. Eine Ipsos-Umfrage vom Mai ergab, dass die Impfbereitschaft unter nicht geimpften Menschen in 15 Ländern in Russland (41 %) und den Vereinigten Staaten (46 %) am niedrigsten ist. Und eine im September veröffentlichte Studie des Levada-Zentrums ergab, dass 52 % der Russen nicht bereit sind, sich impfen zu lassen (Quelle).
Nur 32,5 Prozent der russischen Bevölkerung sind bislang mit beiden Dosen einer der drei angebotenen, im Inland hergestellten Impfungen vollständig geimpft, obwohl Russland eines der ersten Länder war, welches mit der Impfung der Bevölkerung begonnen hat. Mindestens 80 Prozent müssen jedoch geimpft sein, um die Pandemie unter Kontrolle zu bekommen. Hinzu kommt eine neue, aggressivere Delta Variante AY 4.2, die sich rasch im Land ausbreitet (Quelle).
Die Krankenhausbetten werden knapp
Eine dramatische Entwicklung nimmt die Situation allmählich in den Krankenhäusern an, denn die Krankenhausbetten werden knapp. Vor allem in ländlichen Regionen ist die medizinische Ausstattung nicht auf dem besten Stand. Außerdem bricht den Krankenhäusern das behandelnde Personal weg: Andrej Makarow, Vorsitzender des Haushaltsausschusses des Unterhauses des Parlaments, unterstrich, dass in den ersten sechs Monaten dieses Jahres 1.100 Ärzt:innen in Russland an Covid gestorben seien (Quelle), mehr als doppelt so viele wie im gesamten Jahr 2020.
Der Peak der aktuellen Welle ist noch nicht erreicht, Expert:innen gehen davon aus, dass die Morbidität weiterhin steigen wird. Außerdem gibt es Befürchtungen, dass die offiziellen Zahlen Russlands nicht das wahre Ausmaß des Gesundheitsnotstands widerspiegeln. „Eine Person, die an Atemversagen durch Covid stirbt, wird in den Statistiken oft als eine Person geführt, die an Atemversagen, aber nicht an Covid gestorben ist“, sagt Wassili Wlassow, ein russischer Epidemiologe und ehemaliger Berater der Weltgesundheitsorganisation (WHO) (Quelle).
Wir berichteten bereits im Sommer darüber, dass russische Behörden die Zahl der Corona-Todesfälle zu niedrig ansetzten:
Fail! Querdenker feiern „Corona-Diktatur“ Russland – Impfzwang & extrem harte Maßnahmen
In den meisten russischen Regionen gibt es mittlerweile irgendeine Form der Impfpflicht für die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter in einigen Berufsbranchen. Russische Verkaufsverbände forderten am 27.10. 2021 die Einführung einer allgemeinen Impfpflicht im Land, um der Wirtschaft nicht erneut einen enormen Schaden zuzufügen (Quelle). Dieser Schritt wäre im autokratisch regierten Russland nicht undenkbar, wo bereits jetzt Hausarrest für Ungeimpfte über 60 eingeführt wurde. Während Putin und seine Coronapolitik lange als vermeintliches Positivbeispiel für Impfgegner:innen fungierte, müssten diese spätestens jetzt in ihrem Glauben erschüttert sein.
In einer früheren Fassung hieß es, dass das Schrumpfen der Bevölkerung bis 2030 ein Ziel sei, es war jedoch eine Prognose, das war ein Übersetzungsfehler. Artikelbilder: Anastasia Tikhomirova
Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI.