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„Staatsversagen“: Darum schlägt Sascha Lobo jetzt einen Untersuchungsausschuss vor

von | Mrz 18, 2021 | Aktuelles

Darum schlägt Sascha Lobo jetzt einen Untersuchungsausschuss für die Pandemiebekämpfung vor

Kennt ihr dieses triste Gefühl, wenn ihr eigentlich im Februar schon mal mit der dünnen Übergangsjacke ein bisschen Frühling geschnuppert habt, und dann müsst ihr im März bei 4 Grad doch wieder die ganz dicke Winterjacke rausholen, weil sich das kälter als der ganze zurückliegende Winter anfühlt? Genau das gleiche Gefühl habe ich gerade in Bezug auf die Pandemie.

Waren wir nicht schon auf einem ganz ordentlichen Weg? Doch, waren wir, mit sinkenden Infektionszahlen, sinkenden Sterbezahlen, ja, fast schon Vorfreude. Endlich hatten wir diesen fiesen Winter hinter uns, der von politischem Duckmäusertum geprägt war und von Entscheidungen, die zum schreiend-aus-dem-Fenster-Springen einluden.

Im November 2020 schrieb ich noch:

Stehen 16 Ministerpräsident:innen vor einem brennenden Haus. Sagt der eine „Wollen wir die Feuerwehr rufen? Das Feuer könnte sich auf die anderen Häuser ausbreiten“. „Nein“, antwortet der andere, „die Sirenen könnten die Bevölkerung stören und dann werde ich nicht wiedergewählt“.

Einer der Dachbalken löst sich und fällt splitternd zu Boden, Funken stieben in den Nachthimmel. „Wollen wir erst mal nach Hause und nächste Woche noch mal herkommen?“. „Ja, gute Idee“. Alle gehen nach Hause. Keine Pointe.

Wer mehr Freiheiten möchte, muss jetzt für einen harten Lockdown sein

Lockdown Light ist wie Cola light – schmeckt schlecht und man nimmt davon trotzdem zu

Wir haben darüber gestritten und debattiert und am Ende hatte die Mehrheit (gefühlt) schon irgendwie registriert, dass Lockdown Light genauso fragwürdig ist wie Cola light – schmeckt schlecht und man nimmt davon trotzdem zu. Ja, vermutlich wäre es für alle Beteiligten besser gewesen, das „light“ zu streichen, die Zahlen effektiv zu senken und in einen für alle akzeptablen Modus zu kommen.

Na gut, wie sagt dieses Sprichwort? „Vor Fehlern ist niemand sicher. Das Kunststück besteht darin, denselben Fehler nicht zweimal zu machen.“ Womit wir im März 2021 angekommen wären, in dem es mir die schiere Anzahl vollkommen absurder, in keinster Weise nachvollziehbarer Entscheidungen zunehmend schwermachen, mich überhaupt noch darüber aufzuregen. Selbst meine Motivation, aus goldenen Steilvorlagen der Kultusministerien einen satirischen Tweet zu formulieren, wird immer mehr ersetzt durch ein Gefühl von „Ach…“.

Eine bleierne Müdigkeit

Während jede Nachricht zur Corona-Pandemie bis vor ein paar Monaten noch meinen Adrenalinspiel ansteigen ließ, ich jeden Abend die neusten weltweiten Infektionsdaten checkte und generell viel Energie und Zeit in die Frage investierte, wie ich mein eigenes Verhalten noch optimieren kann, wurde dieses Gefühl in den letzten Wochen immer mehr verdrängt von etwas anderem: einer bleiernen Müdigkeit.

Das politische Versäumnis von heute wird zu schnell abgelöst vom Versäumnis von morgen, um sich darüber angemessen zu empören. Es erinnert mich etwas an die Trump-Präsidentschaft, dessen erstaunliches Ausmaß an Inkompetenz den Skandal gewöhnlich machte und die kurze Zeit zwischen den Skandalen zu etwas Besonderem. Ach, heute hat niemand seine politische Verantwortung in einer tödlichen Pandemie kolossal vernachlässig? Macht ein rotes Kreuz in den Kalender!

Ja, mit dieser traurigen Form von Zynismus rette ich mich jetzt über den Tag. Aber auch wenn Zynismus in diesen Tagen vollkommen nachvollziehbar ist, so birgt er auch die Gefahr, dass wir uns immer mehr in politikverdrossene Wutbürger:innen verwandeln. Sascha Lobo brachte das in seiner Spiegel-Kolumne deutlich prägnanter unter der Überschrift „Sätze zum Ausflippen“ auf den Punkt, als er vorletzte Woche schrieb:

Nach der Wut kommt die Müdigkeit, aber irgendwann ist man selbst für Müdigkeit emotional zu erschöpft, und dann bleibt ein tiefer, dumpfer Dauergroll, der nicht so scharfkantig ist wie die Wut. Aber gefährlicher.

Wir waren lange geduldig, aber davon ist nicht mehr viel übrig

Ja, denn selbst Menschen, die nicht bei jedem Skandal sofort grafisch unterentwickelte Sharepics mit vielen Ausrufezeichen in Kommentarspalten posten, könnten Risse in ihrer Bereitschaft bekommen, Demokratie, EU und unseren Rechtsstaat gegen gemeine Impulse aus ihrem Geduldzentrum im Gehirn zu verteidigen. Das meckert ja schon seit März 2020, aber in den letzten Monaten ist das Meckern zu einem konstanten Rufen geworden: „Wann ist dieser Mist endlich vorbei?“ pöbelt es uns jetzt täglich an.

Von der Hoffnung auf eine baldige Verbesserung ist aktuell nicht mehr viel übrig. Die Erkenntnis, dass die damals schon bemängelten Management-Fehler eher dem System zuzurechnen sind und nicht der Ausnahme, hat diese Hoffnung der fachgerechten Implosion zugeführt. Ich laufe Gefahr, ebenfalls zum von Sascha Lobo erdachten „Grollbürger“ (eine Art Wutbürger light) zu werden.

Lobo muss es ähnlich gegangen sein. Sein Artikel war gespickt mit angesichts der versammelten Inkompetenz grandios lustigen Formulierungen. Hätten wir keine Pandemie, wäre sein Text „Sätze zum Ausflippen“ der perfekte Start in den Tag. Durch die Realität atmet er aber ebenfalls eine gewisse Hoffnungslosigkeit und eine gute Portion Ärger. Am besten legt ihr ihn euch in die Twitter-Lesezeichen und lest ihn im September nochmal. September 2022.

Sascha Lobo konfrontiert Brinkhaus mit „Staatsversagen“

6 Tage nach diesem Artikel saß Lobo bei Markus Lanz, und man konnte ihm den besagten Ärger ansehen, als er Ralph Brinkhaus von der CDU nicht damit durchkommen ließ, wie dieser das eigene Versagen nicht als Versagen bezeichnet wissen wollte. Wären Sendungen von Markus Lanz Thema auf Schulhöfen, es käme wohl zur Formulierung, dass Brinkhaus ganz schön rasiert wurde.

Das war für uns Neu-Grollbürger ein befriedigender Schlagabtausch, aber den Groll beseitigte er leider nur ganz kurz. Es wirkt so, als wäre das Lobo ähnlich gegangen, der einen Tag später mit seinem Text „Konservativ ist zu langsam“ nachlegte und darin überlegte, was wir mit diesem ganzen Groll denn nun konstruktiv anstellen wollen.

Früher konnten Wut, Empörung und Groll ja wenigstens noch dazu führen, dass Verantwortliche ihren Posten räumen müssen, aber seit die Unionsparteien diese Tradition offenbar begraben haben, müssen wir uns anders behelfen. Lobo schreibt:

Es ist leider auch so, dass Wutenergie nur bis zu einem bestimmten Grad politisch konstruktiv gewendet werden kann. Wut verpufft, wenn die Adressaten sie kalt abtropfen lassen, und es gibt wenig, was die Merkel’sche Union besser kann als genau das […]. Deshalb braucht der politische Diskurs in diesem Land eine nächste Stufe nach der Wut. Ich hätte da eine Idee.[…] einen Corona-Untersuchungsausschuss des Parlaments.

Ein Untersuchungsausschuss

Mein Grollbürger-Ich hat sich direkt die Haare zurückgekämmt und ein ordentliches Hemd angezogen, als es das gelesen hat. Ein Untersuchungsausschuss, Heureka! Der hätte gleich mehrere Vorteile:

Wütend sein ist ja verständlich und manchmal auch notwendig, aber bitte nicht pauschal auf alle Volksvertreter:innen und Regierungsberater:innen, die in diesem Mammutprojekt irgendeine Aufgabe erledigt haben. Es gibt ja vermutlich Tausende Menschen, die seit 12 Monaten einen echt guten Job machen und ohne die alles noch viel schlimmer wäre.

In einem Untersuchungsausschuss könnten die Versäumnisse in einer fairen Art und Weise sortiert und aufgearbeitet werden. Wer nicht vorsätzlich oder fahrlässig handelte soll nicht an den Pranger gestellt werden für die neue, sehr unübersichtliche Situation:

Parlamentarische Untersuchungsausschüsse sind kein Gerichtsverfahren und sollten auch keinen Tribunal-Charakter haben. Sie dienen, wenn sie richtig geführt werden, vor allem der Klärung, der Erklärung und damit dem öffentlichen Verständnis des Geschehens.

Es gibt aber auch die andere Seite:

Nach Recherchen des SPIEGEL haben sich fast zwei Dutzend weitere Abgeordnete an unterschiedlichen, bestimmt auch lieb gemeinten Maskengeschäften beteiligt, ob und wie dabei Provisionen in welcher Höhe geflossen sind, ist bisher nicht öffentlich bekannt.

Korruptions-Affären in der Union: Nüsslein & Löbel nur die Spitze des Eisberges – alle Fakten

Auch dafür ist ein umfassender Untersuchungsausschuss vielleicht der bessere Modus, als wenn tröpfchenweise alle 7 Tage neue Skandale ans Licht kommen. Hinzu kommt das schiere Ausmaß der Krise, in der wir uns befinden. Lobo zählt in seinem Artikel beispielhaft 8 Fragen auf, die im Interesse der Bevölkerung beantwortet werden sollten. Auch im Hinblick auf die potenzielle Gefahr, dass das nicht die letzte Pandemie gewesen sein wird, ist meine persönlichen Top 3 daraus:

Warum haben sich speziell die Ministerpräsidentenkonferenz und der Föderalismus allgemein als derart hinderlich für ein strukturiertes und funktionierendes Maßnahmenpaket erwiesen?

Warum wurden die Impfdosen so spät und in unzureichender Menge bestellt, warum hat man in den dazugehörigen Verhandlungen sparen wollen und nicht die Kosten eines Lockdowns berücksichtigt, wieso war in den ersten Monaten die Impflogistik so schlecht durchgeplant?

Warum ist in der digitalen Bildungspolitik speziell durch die Kultusministerkonferenz über den pandemischen Sommer 2020 so verstörend wenig geschehen?

Und: Warum ignoriert man wiederholt glaubhafte Warnungen aus der Forschung?

Ich würde noch ergänzen: Warum wurden die sehr glaubhaften Warnungen aus der Forschung wiederholt ignoriert, bis die Realität höchstselbst deren zwingende Plausibilität schon wieder unter Beweis stellte? Wie kann es sein, dass der Forschungsbetrieb wiederholt Himmel und Hölle in Bewegung setzte, um uns mit so viel Informationen wie möglich zu versorgen, nur um mit diesen Informationen gar nicht gehört zu werden?

Was wurde hier rumdiskutiert, warum in Deutschland weniger sequenziert wird als in England oder Dänemark. Es gab ernste Anschuldigungen und Vorwürfe, bis wir dann zuletzt doch ziemlich exakte Daten darüber hatten, wie stark sich welche Mutante bereits ausgebreitet hatte. Und wozu? Damit die Ministerpräsident:innen den Inzidenzwert für die „Lockdown-Notbremse“ angesichts einer ansteckenderen und leider auch tödlicheren Mutante einfach auf 100 erhöhen und anschließend selbst das von Landkreisen ignoriert wird. Na herzlichen Dank, dafür hätten wir dann ja auch nicht sequenzieren müssen, dann hätte jemand bei der CDU mit dem Geld stattdessen güldene Atemmasken kaufen können.

Seit Februar erklären uns Intensivmediziner:innen, dass unsere Maßnahmen langfristig nicht ausreichen, um den R-Wert mit der britischen Mutation unter 1 zu halten. Mit gruseliger Genauigkeit folgte die Infektionskurve den Prognosen der Fachleute, nur die Reaktion darauf blieb aus. Es erinnert an die verstörende Szene aus Chernobyl, in der der stellvertretender Chefingenieur Anatoli Djatlow nicht wahrhaben will, dass ihm gerade der ganze Reaktor explodiert ist und noch über Stunden behauptet, er sei intakt. Nur dass selbst bei der Reaktorkatastrophe viel weniger Menschen umgekommen sind als durch den Größenwahn, ein Virus durch stetes Hoffen und Daumendrücken besiegen zu können.

Wir brauchen Aufklärung

Aber auch diese Frage ist nur ein Beispiel. Bei der Pandemiebekämpfung sind so viele Menschen beteiligt, und wir sind so weit hinter dem zu erwartenden Zustand, den man den ach so gut organisierten Deutschen gerne zugetraut hätte, dass wir mehr Aufklärung erwarten dürfen als Hunderte lose, unzusammenhängende Schnipsel der Berichterstattung und ein paar Leitartikel, die bei aller Ausführlichkeit aber auch nur einen Bruchteil des Geschehens abbilden können.

Lobo zitiert die Definition auf Wikipedia:

Aufgabe des Untersuchungsausschusses ist es, Sachverhalte, deren Aufklärung im öffentlichen Interesse liegt, zu untersuchen und dem Bundestag darüber Bericht zu erstatten.

Das öffentliche Interesse an so ziemlich jedem Aspekt der Pandemiebewältigung dürfte gewaltig sein. In der 19. Wahlperiode gab es drei Untersuchungsausschüsse im Bundestag: Einen zum Terroranschlag auf dem Breitscheidplatz, einen zur Autobahnmaut und einen zum Wirecard-Skandal. Diese Pandemie hingegen beschäftigt uns seit 12 Monaten gesundheitspolitisch, ökonomisch, gesellschaftlich und auf Bildungsebene so stark, dass dieses eine Ereignis mehr Auswirkungen auf uns hat als alle drei vorherigen Ausschussthemen zusammen. Mit großem Abstand.

Wenn die einen Untersuchungsausschuss spendiert bekommen haben, dann hat die Pandemiebekämpfung ungefähr 10 verdient.

Artikelbild: Screenshot zdf.de

Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI.