Rund viereinhalb Jahre nach dem brutalen Übergriff auf zwei Göttinger Journalisten fiel gestern, am 15. September 2022, das Urteil gegen die beiden angeklagten Neonazis Gianluca B. und Nordulf H.: Ins Gefängnis muss das Duo, das sich unter anderen der gefährlichen Körperverletzung zu verantworten hatte, nicht. Stattdessen sprach das Landgericht Mühlhausen erstaunlich milde Strafen aus: der jüngere der beiden Täter wurde nach Jugendstrafrecht verurteilt und muss 200 Arbeitsstunden ableisten, der ältere Angeklagte erhielt ein Jahr Freiheitsstrafe – auf Bewährung.
Das gesprochene Urteil blieb somit weit unter der Forderung von Staatsanwaltschaft und Nebenklage. Als Begründung gab die Vorsitzende Richterin an, die Kammer habe nicht feststellen können, dass es sich bei der Tat um einen gezielten Angriff auf Journalist:innen gehandelt habe. Das geringe Strafmaß sorgte für massive Kritik.
Angriff mit Reizgas, Baseballschläger, Schraubenschlüssel und einem Messer
Nordulf H. (heute 23 Jahre alt), der älteste Sohn eines ranghohen NPD-Politikers, und Gianluca B. (heute 28 Jahre alt) ehemals Vorsitzender der Göttinger NPD, hatten am 29. April 2018 zwei Investigativ-Journalisten mit dem Auto verfolgt, nachdem diese das Grundstück des damaligen Thüringer NPD-Chefs Thorsten Heise in Fretterode fotografierten. Nachfolgend attackierten sie die Fotografen mit Reizgas, Baseballschläger, Schraubenschlüssel und einem Messer. Einer der Messerstiche, verursacht durch den jüngeren Täter, in das Bein eines Journalisten sei sogar “abstrakt lebensgefährlich” gewesen, stellte die Vorsitzende Richterin später in der Hauptverhandlung fest. Weiterhin erlitt das zweite Angriffsopfer eine Schädelfraktur. (Quelle, Quelle)
Die beiden rechtsextremen Angeklagten waren bereits zum Prozessbeginn im September 2021 teilweise geständig, haben die Ereignisse aber relativiert und angegeben, in einer Art Notwehr gehandelt zu haben. (Quelle)
Gericht meint, journalisten seien für “linke szene” gehalten worden – und dann ist es nicht so schlimm?
Das Gericht sah den Vorwurf des gezielten Angriffs auf Journalist:innen und auf die freie Presse als nicht erwiesen an. Wenn es so wäre, sagte die Vorsitzende Richterin in der Urteilsbegründung, hätte das strafverschärfend berücksichtigt werden müssen. Die Kammer gehe vielmehr davon aus, dass Nordulf H. und Gianluca B. die beiden Pressevertreter als Angehörige der linken Szene identifiziert hätten. Dafür spreche auch, dass die Journalisten während der Attacke als „Zecken“ bezeichnet wurden, sagte die Juristin, und sprach von “zwei ideologischen Lagern”, die “weit auseinander liegen”.
Die Staatsanwaltschaft sah das anders: Sie forderte im August dieses Jahres Haftstrafen für die Angeklagten. Bei den Tätern handele es sich um Rechtsextreme, die im April 2018 aus menschenfeindlichen Motiven die beiden Journalisten angegriffen und schwer verletzt hätten, so ein Vertreter der Staatsanwaltschaft am Donnerstag in seinem Plädoyer vor dem Landgericht Mühlhausen. Einen gewöhnlichen Raubüberfall schloss die Staatsanwaltschaft aus. (Quelle)
Drei Jahre bis zur Anklage – und dann mildes Urteil
Der Übergriff in Fretterode in Nordthüringen war bundesweit als Attacke auf die Pressefreiheit gewertet worden. Pikant: Es dauerte über drei Jahre, bis überhaupt Anklage erhoben wurde.
Die Nebenklage übte nach der Verkündung des Strafmaßes massive Kritik aus. Das Urteil des Landgerichts Mühlhausen sei ein “fatalen Signal für den Schutz von Journalisten” und reihe sich ein in eine Vielzahl von “außerordentlich milden Urteilen, die die Thüringer Justiz in den letzten Jahren gefällt hat, wenn es um Gewalttätigkeiten von Neonazis ging.“ (Quelle)
Mildes Urteil wird harsch kritisiert
„Dieses skandalöse Urteil ist ein Schlag ins Gesicht nicht nur der beiden angegriffenen Journalisten, sondern all unserer Kolleginnen und Kollegen, die sich mit ihren Recherchen zum Rechtsextremismus Tag für Tag großen Gefahren für Gesundheit und Leben aussetzen“, so die Bundesgeschäftsführerin der Deutsche Journalistinnen- und Journalisten-Union, Monique Hofmann, in einer Pressemitteilung der ver.di.
Der Rechtsstaat habe die Chance verpasst, ein klares Zeichen gegen rechte Angriffe auf Pressefreiheit und Demokratie zu setzen, erklärte ver.di-Mediensekretär Peter Dinkloh: „Stattdessen sendet das Urteil das fatale Signal an die rechtsextreme Szene, dass diese ihren menschen- und demokratiefeindlichen Bestrebungen nachgehen kann, ohne dafür ernsthafte strafrechtliche Konsequenzen fürchten zu müssen.“ Dinloh war bei der Urteilsverkündung vor Ort. (Quelle)
Das Urteil des Landgerichts ist noch nicht rechtskräftig. Staatsanwaltschaft und Nebenklage teilten mit, man werde Rechtsmittel gegen die Entscheidung prüfen. (Quelle)
Artikelbild: Dietzel, Silvio