8.820

Wieso die meisten die Niedersachsen-Wahl falsch deuten

von | Okt 10, 2022 | Aktuelles

Lasst uns einmal kurz über das Wahlergebnis in Niedersachsen reden. Das vorläufige Wahlergebnis sorgt für viele verkürzte Schlussfolgerungen und Fingerzeige. Schuld an der AfD sei Merz, die Ampel, die LINKE. Die Grüne und die SPD hätten gewonnen, aber dann wiederum seien sie abgestraft worden. Die FDP macht gleichzeitig zu wenig und zu viel „linke“ Politik. Was ist da los?

Quelle

Die Narrative, die ich persönlich nach dem Wahlergebnis in Niedersachsen entdecken konnte, sind meistens nicht besser als Horoskope Lesen. Jede Partei zieht ihre eigenen, teils gegensätzlichen Schlussfolgerungen aus dem Ergebnis. Alles mögliche soll die Wahl erklären. Dabei werden unterschiedliche Dinge missachtet oder falsch umgedeutet. Ich möchte ein paar Punkte hier in ihren richtigen Kontext rücken.

AfD gewinnt stark hinzu – Schuld der Ampel? Der CDU und Merz? Der LINKE? Der FDP?

Reden wir über die größte Sache zuerst: Die AfD hat knapp 11% gemacht und im Ergebnis von 2017 zugelegt. Dafür sollen eigentlich alle schuld sein, je nachdem, wen du fragst. Hier haben die anderen Oppositionsparteien die AfD stark gemacht:

Hier sollte Merz mit seinem – auf jeden Fall kritisierenswerten – „Sozialtourismus“-Statement allein der AfD Zugewinne von Union beschert haben.

Umgekehrt schlussfolgern natürlich wiederum Personen vom anderen Spektrum, dass die Ampel Schuld sei. Die FDP mache „linke Politik“ zum Beispiel, heißt es aus der CSU.

Dabei ist die Antwort doch viel naheliegender: „Je schlechter es Deutschland geht, desto besser für die AfD“. Der Satz des langjährigen Pressesprechers der AfD, Christian Lüth bringt es am besten auf den Punkt. Oder aktueller: AfD-Abgeordneter Weyel sagte erst letzten Monat, er hoffe, dass es in Deutschland „dramatisch“ werde, damit die AfD Stimmen gewinnt.

Besser belegt: Die Energieversorgung und die Preissteigerungen waren laut Umfragen das wichtigste Thema bei der Wahl in Niedersachsen.

Quelle

Und wenn man genau auf die Rechtsextremist:innen schaut waren die wichtigsten Gründe für ihre Wahl – neben dem Dauerbrenner Rassismus – Einkommen und Preissteigerung.

Quelle

Ich meine, ist es nicht offensichtlich? Natürlich hat das Verhalten der anderen Parteien einen Einfluss, aber die AfD ist eine Partei, die mit (falschen!) Versprechen und Lösungsansätzen Krisen ausnutzt. Und das war sie schon immer gewesen. Und ja, das ist ein ganz eigenes Problem, über das wir an einer anderen Stelle reden müssen. Aber dazu müssen wir uns dessen erst einmal bewusst sein!

Was alles am Wahlergebnis schuld war!

Die verkürzten Takes gehen aber noch weiter. So hat die CDU angeblich wegen Gleichberechtigung die Wahl verloren.

Oder die FDP wegen Marco Buschmann und dem Infektionsschutzgesetz.

Herr Lindner glaubt, weil die FDP „linke“ Politik mache.

Und andere, weil die FDP genau das eben nicht macht:

Und ich will gar nicht groß auf jede einzelne dieser komischen Schlussfolgerungen eingehen. Jeder interpretiert das Wahlergebnis gerade so, wie es ihm oder ihr gerade in die Agenda passt. Schuld ist zu rechte Politik der FDP, zu viel linke Politik der FDP, zu linke Politik der Ampel, zu rechte Politik der LINKE, und gleichzeitig Gleichberechtigung in der CDU und Rechtspopulismus von Merz.

Schauen wir uns mal an, was wirklich passiert ist

Die meisten Analysen schließen ihre Schlussfolgerung mit dem (doch naheliegenden) Vergleich der Ergebnisse in Niedersachsen von 2017 mit 2022. Das ist natürlich sinnvoll, aber seit diesem sind fünf Jahr vergangen, nicht fünf Wochen. Viele geben Friedrich Merz populistischer Kritik an der Ampel und dessen Fischen am rechten Rand die Schuld für den Verlust von Stimmen für die CDU. Umgekehrt muss man allerdings auch feststellen, dass Merz erst ein Jahr Parteichef ist. In der Zeit hat die CDU in Niedersachsen eigentlich richtig viel zugelegt laut Umfragen.

Quelle

Vor einem Jahr stand die CDU noch bei 19%. Eine „Erholung“ auf 28% ist zwar immer noch ein Verlust im Vergleich zu 2017, aber dieser Verlust lässt sich sicher nicht auf die Entwicklungen in den letzten Monaten zurückführen, oder? Man könnte aber auch feststellen, dass Merz‘ Fischen am rechten Rand auch nicht geholfen zu haben scheint.

Bleiben wir mal bei den Trends: Die Grünen haben zwar enorm zugelegt, aber sie standen noch im Juli bei 22%, die AfD hätte im Sommer sogar noch aus dem Parlament fliegen können. Auf diesem Level befand sie sich fast die ganze Legislaturperiode. Es sind extrem kurzfristige Entwicklungen, die nun mal mit der(den) alles dominierenden Krise(n) zu tun haben. Der Vergleich zu den Stimmen bei der Bundestagswahl zeigt: Die FDP verliert, die Union und die AfD legen zu, die Grünen verlieren – wenn man kurzfristige Gründe sucht.

Fun fact: Linksruck in Niedersachsen

Was viele bei den Stimmen für die Faschist:innen – und der Zuwachs der AfD ist besorgniserregend, aber dazu gleich mehr – als große Rechte Bedrohung sehen ist auf dem Papier aber tatsächlich ein Linksruck im Vergleich zu 2017. Rot/Grün hatte gemeinsam 2017 49% der Sitze (67 von 137). 2022 haben sie 55% der Sitze (81 von 146) (Quelle, Quelle). Was zum großen Teil auch am Ausscheiden der FDP aus dem Landtag liegt.

Je nachdem, ob man den Vergleich der Umfragen (und der Bundestagswahl) heranzieht oder das Ergebnis von 2017, kann man völlig unterschiedliche Dinge schlussfolgern. Und dabei hat immer noch niemand darüber geredet, dass die Politik in Niedersachsen ja doch wohl auch einen Einfluss darüber hat, was die Wählenden in Niedersachsen davon halten, nicht nur die Bundespolitik.

Quelle

„Quittung“ – und Populismus

Und jetzt die umgekehrte Frage: Was sind denn die wirklichen Gründe? Nun, das Ergebnis der Wahl in Niedersachsen ist eine Mischung aus dem Spiegeln von größeren Wahltrends im Bund der letzten Jahre – die den größten Wahlerfolg der Grünen dort zum Beispiel erklären, sowie Verluste von CDU und SPD. Und natürlich der Politik in Niedersachsen! Der Zugewinn der Grünen liegt an allgemeinen Trends der letzten Jahre seit 2017, erst die letzten wenigen Monate – und Ukraine und Energiekrise – haben diesen jedoch geschmälert.

Bei der Union war es umgekehrt: Sie haben die letzten Jahre ordentlich Stimmen verloren, und konnten sich erst in den letzten Monaten wegen der Krise etwas verbessern. Weniger weil sie am rechten Rand fischen, noch weil sie konstruktive Oppositionspolitik machen, sondern weil viele Wählende, die unzufrieden mit der Ampel sind, aber weder LINKE noch AfD wählen wollen dorthin gehen (müssen).

Auch das Ergebnis der FDP ist ein Ergebnis sehr kurzfristiger Entwicklungen. Vor einem Jahr hätte sie 10% kriegen können, jetzt flog sie aus dem Landtag in Niedersachsen. Die Analyse warum ist hier komplizierter. Machen sie zu linke Politik oder zu wenig? Ich vermute beides. Wer die Ampel von rechts kritisieren will, hat genug „Alternativen“ und mag von der FDP enttäuscht sein. Umgekehrt begeistert die FDP eben auch keine Wählenden von links der Mitte mit ihren Positionen beim 9€-Ticket zum Beispiel. Sie bekommen gerade das schlechteste beider Welten: Sie machen Kompromisse, die keine Seite mag.

Mehrheiten sind links der Mitte zu finden, wenn man den Erfolg der Grünen sieht, aber mein Rat an die FDP wäre, sich zu entscheiden, was für eine Art Politik man machen will. Ein Rechtsruck wäre gefährlich, nicht nur, weil es die Koalition sprengen würde.

Der richtigste Take: Die Linke

Also kurzfristig profitieren von der Krise – wenig überraschend – die Oppositionsparteien im Bund CDU und AfD, die im Vergleich zum letzten Jahr Zugewinne machten. Die ganzen Anschuldigungen verdecken diese simple Feststellung. Warum wiederum die LINKE das nicht tut und sogar verliert, ist umgekehrt auch offensichtlich.

Eine linke (!) Partei, die vor allem damit auffällt Rechtspopulismus (!) zu machen, und ihr pro-russischer Kurs kommen nicht gut an. Diese Randfeststellung ist immerhin korrekt. Die Unfähigkeit der LINKE, den verschwörungs- und Fake News affinen Wagenknecht-Flügel einzufangen oder am besten rauszuwerfen, wenn sie nicht damit assoziiert werden will, ist Schuld an ihren Verlusten. Wer die Ampel von links kritisieren will, hat in den großen Parteien keine Optionen, weil die LINKE so wahrgenommen wird, dass sie keine linke Oppositionsarbeit macht – sondern Rechte.

Die Likes, die Wagenknecht & Co. in Social Media bekommen, kommen halt nicht von LINKE-Wählenden, sondern aus der extrem rechten und Aluhut-Blase. Und die wählen vieles, aber nicht die LINKE. Wagenknechts‘ Flügel sabotiert ihre eigene Partei, den Stimmen gewinnen tun sie damit offensichtlich keine.

AfD: Kein Weltuntergang

Versteht mich nicht falsch, dass die Faschisten-Partei von der Krise profitiert und kurzfristig so eine Zuwachs an Stimmen (auch im Bund) gewinnt, ist gefährlich, keine Frage. Und wir müssen davor warnen und auch den Stimmen in FDP und CDU Einhalt gebieten, die zum Rechtspopulismus greifen und Hetze der Rechtsextremen übernehmen wollen. Nicht nur, weil das essentiell für die Demokratie ist, sondern auch weil es sich nicht auszahlt, wie man an Maaßen sehen konnte:

Aber solange es Selbstmord für die Union und die FDP wäre, mit der AfD zu koalieren, wird das Problem nicht größer. Es ist ein schwacher Trost, denn es gibt viele Menschen, die den Hass und den Faschismus der AfD wählen. Aber es werden erstmal nicht mehr. Das Potential derjenigen, die die Partei wählen ist gefährlich groß, aber meine Einschätzung ist: Mehr gibt es vorerst nicht, wenn die anderen demokratischen Parteien rote Linien beachten. In Krisenzeiten steigt sie auf ihr maximales Potential. Und das an den Wählenden, die abgeschottet sind vom Rest der Welt in ihrer rechtsextremen Filterblase. Wie wir die angehen, das ist eine Diskussion für einen anderen Text.

Wenn – falls – wir die Krise über den Winter gut durchstehen, unabhängig von Putin werden und die Post-Ukraine-Post-Corona-Welt stabilisiert, fällt die AfD wieder. Das heißt natürlich auch, dass die Politik gefragt ist und dafür sorgt, dass die Energiesicherheit und der Wohlstand erhalten bleibt. Und davon sieht man sicherlich nicht genug, weswegen wir auch bis gestern 250.000€ für die Tafeln gesammelt haben.

Fazit: Vielleicht mehr Contenance

Ich habe mich hier versucht, kurz zu fassen, aber die Debatte ist komplizierter als die populistischen Takes in Twitter und auch als das, was ich hier aufgeschrieben habe. Wer auch einige meiner Erklärungen für zu kurz findet: Ja, ihr habt Recht. Wichtig ist: Die Niedersachsen-Wahl war ein Schnappschuss der derzeitigen, kurzfristigen Entwicklungen, die wiederum auf lange Trends aufbauen. Aus dem Ergebnis kann jetzt aber jede Partei alles herauslesen, was sie kritisieren will. Das ist nicht sinnvoll.

Man kann einen Sieg von Grün-Rot herauslesen im Vergleich zum Ergebnis von 2017, oder deren Abstrafung mit dem Vergleich von 2021 (oder Juni 2022). Man kann das Scheitern der FDP ihrer angeblich linken Politik zuschreiben oder dass sie zu wenig davon machte. Und die CDU kann ihr Ergebnis auch interpretieren, wie sie es möchte. Aber alles ist komplexer als das, wie ich hoffentlich ausreichend dargestellt habe. Der Zugewinn der AfD ist ärgerlich und gefährlich und die Selbstdemontage der LINKE zu gewissem Grad auch.

Aber die wichtigste Schlussfolgerung für mich ist: Die Regierung – Land oder Bund – sollte Politik machen, die die Probleme der Bürger:innen adressiert. Energiesicherheit, Wohlstand. Wir werden sehen, was die kommenden Monate bringen. Jetzt alles mögliche aus der Niedersachsen-Wahl schlussfolgern, hilft aber nicht.

Artikelbild: Sina Schuldt/dpa