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Was tun, wenn die AfD in Thüringen oder Sachsen die Gerichte blockiert?

von | Mrz 18, 2024 | Analyse

Gastbeitrag von Zora Machura & Jakob Weickert, zuerst erschienen bei Verfassungsblog

Antidemokratische Kräfte erstarken – und mit ihnen die parlamentarische Obstruktion in Bund und Ländern. Wenn solche Kräfte in den anstehenden Landtagswahlen mehr als ein Drittel oder gar die Mehrheit der Stimmen gewinnen, stellt sich mit Dringlichkeit die Frage, wie die Landesverfassungsgerichte funktionsfähig bleiben können. Eine derzeit diskutierte Möglichkeit besteht darin, die für das Bundesverfassungsgericht diskutierten Mechanismen auch auf die Landesverfassungsgerichtsbarkeit zu übertragen (dazu auch Gundling und Reutter). Eine andere Option wäre es, den Weg zu beschreiten, den das Grundgesetz in Art. 99 GG vorgezeichnet hat: die Organleihe.

Wie die Organleihe funktioniert

In Thüringen wird für die Wahl der Verfassungsrichter:innen eine Zweidrittelmehrheit benötigt (vgl. Art. 79 III S.3 ThürVerf. Bis zum Jahr 2029 scheiden alle neun amtierenden Thüringer Landesverfassungsrichter:innen und sieben ihrer Stellvertreter:innen aus dem Amt aus. Da ein geschäftsführender Verbleib perspektivisch durch die harte Altersobergrenze und weitere Voraussetzungen (§ 4 ThürVGHG) beschränkt ist, könnte sich dieses Problem in nicht allzu ferner Zukunft zuspitzen (siehe hier).

Schon wenn mehr als ein Drittel der Abgeordneten die Verfassungsrichter:innenwahl konsequent blockieren, könnte das Landesverfassungsgericht personell ausbluten. Dann könnten landesverfassungsrechtliche Streitigkeiten – vom Wahl- und Wahlprüfungsrecht über die Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse bis hin zur Wahl der Ministerpräsident:innen – kaum mehr entschieden werden. Selbst wenn zunächst genügend Richter:innen geschäftsführend im Amt verbleiben, stellt sich irgendwann die Frage, ob das Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) verletzt ist.

Nach Artikel 99 Alt. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht das Recht, über Landesverfassungsstreitigkeiten zu entscheiden, wenn ihm von den Ländern eine solche Befugnis übertragen wurde. Das Land darf dem Bundesverfassungsgericht dabei nur solche Kompetenzen übertragen, die er auch einem Landesverfassungsgericht übertragen kann (siehe BVerfGE 1, 208). Das Verfahren würde nach den landesrechtlichen Vorschriften vor dem Bundesverfassungsgericht geführt. (Detterbeck, GG-Kommentar Sachs, 2021, Art. 99 Rn. 6.)

Zurück zum Beispiel Thüringen:

Nach Art. 80 ThürVerf kann das Landesverfassungsgericht sowohl über landesrechtliche Verfassungsbeschwerden von Bürger:innen und Gemeinden, abstrakte und konkrete Normenkontrollen, Zulässigkeit von Volksbegehren, Verfassungswidrigkeiten von Untersuchungsaufträgen (Art 64 I ThürVerf) und Anfechtungen der Prüfung der Wirksamkeit der Landeswahl entscheiden. All diese Kompetenzen könnte der Thüringer Landesgesetzgeber an das Bundesverfassungsgericht übertragen. Der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ist dabei das Landesverfassungsrecht.

Es umfasst alle Grundrechte, Grundentscheidungen und Grundsätze, die aus dem Text und Gesamtinhalt der Landesverfassung ableitbar sind. (Meyer, GG-Kommentar Von Münch/ Kunig, 2021, Art. 99 Rn. 9.) Das Grundgesetz kann zwar durch seine Prinzipien hineinwirken, aber das Landesverfassungsrecht bleibt Landesverfassungsrecht. Das bedeutet, dass das Bundesverfassungsgericht als beliehenes Landesverfassungsgericht agiert und der Streitgegenstand stets ein Landesstaatsakt und dessen Vereinbarkeit mit der jeweiligen Landesverfassung sein muss. (Hopfauf, Schmidt-Bleibtreu GG-Kommentar Hofmann, Hennecke, 2022, Art. 99 Rn. 7.)

Neben der Verfassungsgerichtsbarkeit hat auch die einfache Landesgerichtsbarkeit eine essenzielle Bedeutung für den Rechtsstaat und den Individualrechtsschutz. Deshalb wäre es wichtig, dass der Landesgesetzgeber nach Art. 99 Alt. 2 GG den Bundesgerichten als Revisionsinstanz zudem die letztinstanzliche Entscheidungskompetenz bei der Anwendung von einfachem Recht zuweist. (Haratsch, GG Sodan, 2018, Art. 99 Rn. 4.) Im Gegensatz zu der Organleihe des Bundesverfassungsgerichts ist das aber nicht die alleinige Entscheidung der Länder. Der Bund darf nicht von seiner vorrangigen Gesetzgebungskompetenz nach Art. 74 I Nr. 1 GG oder Art. 108 VI GG Gebrauch gemacht haben. (Schulze-Fielitz, GG-Kommentar Dreier, 2018, Art. 99 Rn. 17.) So könnten auch Landesrechtssachen, die keine Verfassungsstreitigkeiten sind, an die rechtsstaatlichen, funktionierenden Bundesgerichte gegeben werden.

Schon ein einfaches Landesgesetz könnte die Resilienz erhöhen

Bisher wurde Art. 99 GG in der Geschichte der Bundesrepublik nur in Schleswig-Holstein angewendet, bis das Bundesland 2008 ein eigenes Landesverfassungsgericht einrichtete (früher Art. 44 I LVerf SH, jetzt Art. 51 I LVerf SH). Eine Kompetenzverlagerung für den Fall einer Funktionsunfähigkeit der Landesverfassungsgerichtsbarkeit gab es in der Geschichte des Grundgesetzes noch nie. Dennoch widerspricht der Regelungsvorschlag nicht dem Zweck der Norm: Einerseits gab es den Wunsch einzelner neu gebildeter Länder, in denen ehemaliges einheitliches (z.B. preußisches) Landesrecht noch anwendbar ist, für Fragen aus diesem Rechtsgebiet eine einheitliche letzte Instanz zu schaffen. (Verfassungsausschuss der Ministerpräsidentenkonferenz der westlichen Besatzungszonen, Bericht über den Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10.-23. Aug. 1948, in: Das GG- Dokumentation seiner Entstehung (Hrsg, Hans Peter Schneider), S.372 Rn. 5.) 

Anderseits sollte den Bundesländern der Verzicht auf ein eigenes Verfassungsgericht ermöglicht werden.(Walter, GG-Kommentar Düring/Herzog/Scholz, Lfg 96 Nov. 2021, Art. 99 Rn. 2.) Jedoch wurde die Norm explizit nicht auf eine der unterschiedlichen Intentionen beschränkt. (Vgl. Meyer, GG-Kommentar Von Münch/Kunig, 2021, Art. 99 Rn. 2.)

das Prinzip der Bundesstaatlichkeit nicht verletzt

Die Möglichkeit der Organleihe verletzt auch nicht das Prinzip der Bundesstaatlichkeit – das Grundgesetz schafft bei der rechtssprechenden Gewalt explizit „Verbindungswege“ für die sonst grundsätzlich getrennten und eigenständigen Verfassungsräume des Bundes und der Länder. So gibt es im Gegensatz zu den USA nicht nebeneinanderstehende Instanzenzüge von Landes- und Bundesgerichten, sondern Bundesgerichte bilden regelmäßig die letzte Instanz.

Entscheidungen eines Landesverfassungsgerichts können Gegenstand einer Bundesverfassungsbeschwerde sein und das Bundesverfassungsgericht kann gem. Art. 98 V S.3 GG über landesinterne Streitigkeiten in Form der Richteranklage entscheiden, sofern dieses Instrument gem. Art 98 V S. 1 GG iVm II im jeweiligen Landesrecht besteht. (Burkiczak, Bonner Kommentar GG, Lfg 220 Juli 2023, Art. 99 Rn. 26ff., 38.) Darüber hinaus geht die Kompetenzverlagerung gem. Art 99 GG von den Ländern aus. Dadurch untergräbt sie eine Landesverfassungsgerichtsbarkeit nicht, sondern soll sie gewährleisten, indem sie ihren Ausfall auffängt.

Jetzt oder nie

Die Grundlage dafür kann der Landesgesetzgeber nicht nur durch Landesverfassungsrecht, sondern auch durch ein formelles Landesgesetz schaffen. (Schulze-Fielitz, GG-Kommentar Dreier, 2018, Art. 99 Rn. 8; Kment, GG-Kommentar Jarass/Pieroth, 2022, Art. 99 Rn. 1; Fraglich ist dabei, ob dies auch gilt, sollten die einzelnen Landesverfassungen höhere Anforderungen als das GG an die Kompetenzübertragung stellen. In Art 80 V der Thüringer Landesverfassung steht “Das Nähere regelt das Gesetz”- ob dies die Regelung einer Kompetenzabgabe umfasst, ist unklar.) 

Gerade deshalb sollte der Thüringer Landtag die jetzt noch vorhandenen demokratischen Mehrheitverhältnisse dazu nutzen, eine solche Verfassungsänderung – oder aber zumindest ein einfaches Gesetz – zur Organleihe auf den Weg zu bringen und damit einen wichtigen rechtsstaatlichen Resilienzmechanismus zu schaffen.

Um den Sorgen einer unnötigen Kompetenzverlagerung weiter entgegenzuwirken, könnte der Gesetzesentwurf auch Sicherheitsklauseln festlegen; etwa die Organleihe erst aktivieren, wenn das Gericht nicht mehr beschlussfähig ist oder es selbst präventiv mit einer qualifizierten Mehrheit die Kompetenzabgabe beschließt.

Organleihe über den Weg des Bundeszwangs?

Doch was ist, wenn die Akteure vor den Landtagswahlen im September nicht mehr rechtzeitig eine Regelung schaffen: Gehen dann die landesverfassungsgerichtlichen Lichter aus?

Sollte ein Bundesland seine Verpflichtungen gegenüber dem Bundesstaat verletzen, sieht das Grundgesetz Schutzmechanismen vor, als schärfstes Schwert den Bundeszwang in Art. 37 GG. Dessen Anwendung, um die Organleihe des Bundesverfassungsgerichtes anzuordnen, wäre ein verfassungsrechtliches Novum und ein bislang nicht einmal diskutierter Ansatz. Die Bundesrepublik stand jedoch auch noch nie vor derartig gravierenden Herausforderungen in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Es könnte daher geboten sein, den „Knüppel aus dem Sack“ zu lassen – wenn auch als ultima ratio. (Schubert, GG-Kommentar Sachs, 2021, Art. 37 Rn. 3)

Der Bundeszwang sieht vor, dass die Bundesregierung mit Zustimmung des Bundesrates die „notwendigen Maßnahmen treffen” kann, um sicherzustellen, dass das Land seine Bundespflichten gem. Art 28 I GG erfüllt. Dazu gehört eine funktionsfähige Landesverfassungsgerichtsbarkeit.

Auch in Landesverfassungen werden elementar wichtige Regelungen getroffen:

unter anderem das Wahlrecht, die Einsetzung parlamentarischer Untersuchungsausschüsse und die Wahl der Ministerpräsident*innen. (Beinahe berüchtigt mittlerweile Art. 70 III ThLV, Art. 60 SächsVerf, Art 83 BbgVerf.) Eine Landesverfassungsordnung – mit für die Demokratie unverzichtbaren Regelungsgehalt – bedarf daher einer funktionsfähigen Verfassungsgerichtsbarkeit. Das Bundesverfassungsgericht zieht eine Pflicht zur Einrichtung einer Landesverfassungsgerichtsbarkeit auch aus der Vorlagepflicht bei vermuteten Verstößen gegen Landesverfassungsrecht (vgl. Art. 100 I GG; BVerfGE 96, 345 Rn. 79). Dass eine solche Gerichtsbarkeit – nicht nur vorübergehend – nicht handlungsfähig ist, dürfte wohl Teil dieser Pflicht sein.

Möglich wäre, dass die Bundesregierung einen Rechtsakt erlässt, der – zumindest temporär – die Organleihe (Art. 99 GG) anordnet. Gegen den Erlass oder die Änderung eines Landesverfassungsgesetzes wird das Argument der Verfassungsautonomie der Länder in Stellung gebracht (Art. 28 I GG). (Vgl. Klein, GG-Kommentar Düring/Herzog/Scholz, Lfg. 57 Jan. 2010, Art. 37 Rn. 86) Die Länder sollen ihre eigene verfassungsmäßige Ordnung gestalten dürfen. Doch gerade diese Ordnung würde de facto außer Kraft gesetzt, wenn es keine funktionierende Gerichtsbarkeit mehr gäbe, um sie durchzusetzen.

viel weniger intensiver Eingriff in die Verfassungsautonomie

Würde keine funktionale Verfassungsgerichtsbarkeit bestehen, könnte es dazu kommen, dass der Bund zahlreiche Aufgaben des Bundeslandes im Wege der Ersatzvornahme wahrnehmen müsste – bis hin zur Besetzung einer Landesregierung. Indem der Bund hier eingreift und eine Gerichtsbarkeit einsetzt, die weiterhin an die Landesverfassung gebunden ist, bewahrt er die verfassungsmäßige Ordnung des Landes mit einem viel weniger intensiven Eingriff in die Verfassungsautonomie. Ein Bundeszwang, der gerade die Einhaltung von Homogenitätsanforderungen der Länder durchsetzen soll, würde leerlaufen, wenn er an der föderalen Zuständigkeit scheitert. Der Bund muss daher auch Landesgesetze und für diesen Fall auch der Landesverfassung gleichstehende Gesetze erlassen können.

Allgemein wird angenommen, die Judikative sei aufgrund ihrer Unabhängigkeit (vgl. Art. 97 GG) von Maßnahmen des Bundeszwang ausgenommen. Jedoch greift auch dieses Argument hier nicht durch, denn die Anordnung einer anderen Gerichtsbarkeit ließe die richterliche Unabhängigkeit in der Entscheidungsfindung unangetastet. (vgl. Bauer, GG-Kommentar Dreier, 2018, Art. 37 GG Rn. 13; klarstellend: Klein, GG-Kommentar Düring/Herzog/Scholz, Lfg. 57 Jan. 2010, Art. 37 Rn. 94.) Das ist schlüssig, da die Zuweisung einer Entscheidungskompetenz genuin die Aufgabe der Legislative ist.

„alle erforderlichen Maßnahmen“

Es verbleibt der Einwand, dass der Art. 99 GG nach Wortlaut und auch historischem Zweck gerade den Ländern die Möglichkeit zur Kompetenzabtretung geben sollte und nicht den Bund zum Kompetenzannex befugt. Allerdings wäre hier die Kompetenzgrundlage gerade nicht Art. 99 GG, sondern die Bundespflichtverletzung und damit Art. 37 GG ist., der „alle erforderlichen Maßnahmen“ ermöglicht. Die Organleihe ist hierbei unabhängig von Art. 99 GG, als weniger eingreifend in die Verfassungsautonomie des Landes, vorzugswürdig; insbesondere, da das Grundgesetz diese Möglichkeit sogar vorsieht.

Wenn sich eine der Bundespflichtverletzungen (nach Art. 28 I und gegebenenfalls 100 I GG) materialisiert, hat die Bundesregierung die Kompetenz nach Art. 37 GG einzugreifen. Dabei steht ihr jedoch kein Entscheidungsermessen zu. (Vgl. Bauer, GG-Kommentar Dreier, 2018, Art. 37 GG Rn. 13; klarstellend hierzu: Klein, GG-Kommentar Düring/Herzog/Scholz, Lfg. 57 Jan. 2010, Art. 37 Rn. 94.)

Art. 28 III GG verpflichtet den Bund, die verfassungsmäßige Ordnung der Länder zu gewährleisten. In der Wahl seiner Maßnahmen ist der Bund frei. Eine Organleihe über den Bundeszwang anzuordnen, dürfte dabei milder sein, als im Bundeszwang direkt die Richterbesetzung am Landesverfassungsgericht zu übernehmen. Der Bund – mithin die Bundesregierung – dürfte nicht nur handeln, er müsste!

Fundamente der Demokratie schützen

Sowohl Landes- als auch Bundesverfassungsgerichtsbarkeit sind Fundamente des Rechtsstaats und einer funktionierenden Demokratie. Mit Blick auf den internationalen Vergleich wird am Beispiel Polen klar, wie schwer es ist, die Funktionsfähigkeit und Unabhängigkeit eines Verfassungsgerichts wiederherzustellen, wenn diese einmal verloren ist. Deshalb ist es jetzt vor dem Hintergrund der kommenden Wahlen besonders wichtig, die notwendigen Resilienzmechanismen zu schaffen. Von den eingriffsärmeren Möglichkeiten wie der landesgesetzlichen Organleihe muss Gebrauch gemacht werden – solange diese noch bestehen.

Zum Thema:

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.deCC BY-SA 4.0. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Vor kurzem wurde das Thüringen-Projekt gestartet.

Zora Machura ist Studentin der Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin und studiert im trinationalen Studiengang Humboldt European Law School. Sie arbeitet als studentische Hilfskraft am Lehrstuhl „Öffentliches Recht und Gender Studies“ von Prof. Dr. Dr. h.c. Susanne Baer (LL.M.).

Jakob Weickert ist Redaktionsassistent beim Verfassungsblog und studiert Rechtswissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin. (Foto: Julia Berger)

Die Autor:innen bedanken sich für die großzügige Unterstützung von Dr. Ulrich Karpenstein. Artikelbild: MDart10