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4000-Tonnen-Stahl-Fake: BILD lügt über Windkraft & Chef des Chemieverbandes

von | Okt 13, 2022 | Analyse

Na, habt Ihr letzte Woche auch gehört, dass Windkraft laut des Chefs des Chemieverbands ein großer Unfug ist, weil jede Anlage 4.000 Tonnen Stahl benötigt? Tja, ist nur leider doppelt Unsinn: Es sind viel weniger als 4.000 Tonnen, nämlich 600 und Markus Steilemann, Chef des Verbands der Chemischen Industrie, findet Windkraft tatsächlich sehr wichtig und hat dafür geworben, sie konsequent auszubauen. BILD dreht ihm die Worte im Mund herum.

Chemieverbandchef findet Windkraft richtig – BILD verdreht es total

Um zu verdeutlichen, dass wir ihr als Gesellschaft die nötige Priorität einräumen müssen, ging er auf den Ressourcenbedarf ein – aber eben als Weckruf, dass sich unsere Energieprobleme nicht von allein lösen werden und es eine lohnende Kraftanstrengung ist. Konkret sagte er in einer Diskussionsrunde des Verbands der Chemischen Industrie zum Thema “Energie und Klima”:

„Das möchte ich mal sehen, wie wir das auf den Weg kriegen. Da müssen wir hin. Weil ansonsten wird alles, was wir hier heute diskutieren, Makulatur bleiben. Und Deutschland wird sich von einer Industrienation in ein Industriemuseum verwandeln, und zwar schneller, als wir uns das vorstellen.“

Aus dieser recht unmissverständlichen Aussage hat das Boulevard-Magazin „BILD“ eine vollkommen andere Geschichte gemacht, und zwar diese:

Der neue Präsident des Chemieverbands VCI, Markus Steilemann (52), warnt den Wirtschaftsminister vor dem Kollaps des Industriestandorts Deutschland. Es drohe gigantischer Strommangel, da der geplante Ausbau der Windkraft nicht zu stemmen sei.

Konkret warnt Steilemann: Um Habecks Energieziele bis 2030 zu erreichen, bräuchte man “jeden Tag zehn Windkraftanlagen. Eine davon braucht 4000 Tonnen Stahl; das ist ein halber Eiffelturm. Das heißt: fünf Eiffeltürme jeden Tag. Und das für die nächsten 8 Jahre.”

Steilemann knallhart: “Das möchte ich mal sehen, wie wir das auf den Weg kriegen.” Deutschland drohe der Absturz “vom Industrieland zum Industriemuseum”.

BILD hat komplett das gegenteil daraus gemacht

Man muss keinen Deutsch-Leistungskurs absolviert haben, um zu erkennen, dass das zwei vollkommen unterschiedliche Aussagen sind. Steilemann appelliert, die Größe der Aufgabe nicht zu unterschätzen und sie deswegen lieber heute als morgen anzugehen. Die BILD stellt es hingegen so dar, als könne Deutschland die Aufgabe laut Steilemann gar nicht bewältigen. Typischer Bild-„Journalismus“ eben, der übrigens immer noch nicht richtig korrigiert ist. Es gibt ein Update unten am Artikel und das verkürzte Zitat wurde gestrichen, im Text steht immer noch der Fake, dass Steilemann gegen Windkraft sei. Macht nichts, der Fake ist in der Welt. BILD hätte auch vorher Journalismus betreiben können, statt das andere für sich erledigen zu lassen. Im Titel ist immer noch das irreführend aus dem Kontext gerissene Zitat.

Seitdem häufen sich in den sozialen Medien entsprechende Meinungsbeiträge, die Deutschlands Kraftwerksausbau mit Hilfe der Fake News von BILD schlechtreden: So hat der neueste Offshore-Prototyp SG 14-222 DD von Siemens Gamesha mit recyclebaren Rotorblättern beim Test an der dänischen Küste einen neuen Weltrekord aufgestellt und innerhalb von 24 Stunden 360 MWh Strom erzeugt (damit lassen sich im gleichen Zeitraum 36.000 Haushalte mit Strom versorgen). Eigentlich Tolle Neuigkeiten, aber gleich der erste sichtbare Kommentar fabuliert, das sei ein Irrweg, weil es ja angeblich zu viel Stahl benötigt:

Die 4000 Tonnen Stahl sind falsch – es sind 600

Nun ist das glücklicherweise alles nicht zutreffend, wie der Bundesverband WindEnergie e.V. längst klargestellt hat: Onshore-Anlagen mit 5 Megawatt Leistung benötigen etwa 600 Tonnen Stahl. Für die Ausbauziele des Bundeswirtschaftsministeriums (57 zusätzliche Gigawatt bis 2030) benötigen wir auch keine 10 davon täglich, sondern laut Berechnungen der dena etwa 6 Anlagen pro Tag.

Auf den Fehler angesprochen räumte Markus Steilemann umgehend ein, falsche Zahlen genannt zu haben und korrigierte sich auf Twitter. Ein solcher Fehler kann in einem Live-Gespräch übrigens schneller passieren als am PC-Bildschirm mit 50 offenen Wikipedia-Browsertabs. Insofern wäre ich vorsichtig mit Vorwürfen, die Herrn Steilemann Vorsatz unterstellen, wie ich sie auf Twitter gelesen habe.

Steilemann gesteht Fehler ein – bei BILD bleibt der Fake stehen

Abgesehen von der plausibleren Erklärung eines unbeabsichtigten Fehlers aufgrund der Live-Dynamik ist so eine Unterstellung auch unplausibel, da Steilemann sich bereits in der Vergangenheit klar zum Ausbau der Windkraft bekannt hat, so sagte er bereits 2019 in einem Interview beim Tagesspiegel:

„Der Neubau von Windkraftanlagen ist praktisch komplett eingebrochen, und ich sehe keine Aussicht auf Besserung. Wir bekommen auch bei der Speicherung und Regelung von erneuerbarer Energie und dem Leitungsausbau die Beine nicht auf den Boden. Das muss sich ändern!“

Das ist ziemlich genau das Gegenteil von dem Eindruck, den die meisten nach Lektüre des BILD-Artikels vermutlich haben. Leider interessiert das die Anti-Energiewende-Front nicht besonders, sie greift gerne die Version der BILD auf und erzählt nun überall rum, Deutschland könne nicht genug Windkraft installieren, weil wir nicht genug Stahl hätten.

Daran ist besonders drollig, dass sich hier viele selbsternannte Patrioten tummeln, die in der Regel mit vor Stolz geschwellter Brust in der Gegend herumlaufen, weil die deutsche Wirtschaft ja nun mal die beste und tollste sei und überhaupt, Made in Germany, f**k yeah!

6 Windkraft-Anlagen pro Tag sind für Deutschland zu stemmen

Ja, die deutsche Wirtschaft kann echt viel und macht unser aller Leben ziemlich komfortabel, insbesondere Energie- und Chemiebranche. Aber wenn 80 Millionen Menschen dann pro Tag 6 Windkraftanlagen errichten sollen, dann wird der deutsche Wirtschaftspatriot auf einmal ganz zaghaft, verwechselt Deutschlands Bruttoinlandsprodukts mit dem von Liechtenstein und versteckt sich unter dem Bett.

In diesem Sinne mal zur Einordnung, was Deutschland so alles herstellen kann: Wir leben in der viertgrößten Volkswirtschaft der Erde, die sechs Jahre in Folge Exportweltmeister war und immer noch einen gigantischen Output von Maschinen, Waren und Dienstleistungen hat. Trotzdem bekommen Leute mit doppeltem Doktortitel und dem Hashtag #ILOVECAPITALISM in der Twitter-Bio kalte Füße beim Gedanken an die Produktion von 300 Windkraftanlagen pro Monat? Ja lol ey…

Kapitalismus ist geil und Deutschland sowieso! Warum? Na, weil alle deutsche Autos so sehr lieben, dass wir in Nicht-Pandemie-Zeiten 14.000 davon pro Tag herstellten. Aber 10 Windkraftanlagen am Tag? Nee nee, dafür ist ja zu wenig Stahl da. Was glauben diese angeblichen Wirtschaftsfans eigentlich, wie viel Stahl wir in Deutschland so herstellen? Selbst das Deutsche Reich hat vor dem ersten Weltkrieg bereits um die 50.000 Tonnen Stahl pro Tag hergestellt. Moderne Stahlwerke sind so krass, dass allein Thyssenkrupp jeden Tag 30.000 Tonnen Rohstahl herstellt.

2014 wurden schon 5 Windkraft-Anlagen pro Tag errichtet

In diesem Sinne ist es wenig überraschend, dass wir in Deutschland im Jahr 2014 schon mal etwa 5 Windkraftanlagen pro Tag errichtet haben (zusätzlich zu all dem anderen Plunder) – die waren zugegeben auch etwas kleiner, aber selbst die Konstruktion der anvisierten 6 moderne Anlagen pro Tag, um die Ausbauziele zu erreichen, würden gerade mal ein Zehntel des Outputs von Deutschlands größtem Stahlhersteller benötigen.

Irgendwie atmen diese ganzen ängstlichen Beiträge aus der Anti-Energiewende-Bubble den Pioniergeist einer Amish-Siedlung. Bloß mal nichts wagen, könnte ja schief gehen! Bloß nicht nach Westen segeln, da fallen wir von der Kante der Erde runter! Dieses bornierte Gezaudere können wir uns echt nicht mehr leisten.

Wo ein Wille ist…

Aus dem eigenen Buch zitieren, ist ja immer etwas lame, aber ich war zu faul, das alles noch mal zu formulieren:

„Deutschland hat zwischen 1865 und 1875 13 000 Kilometer Schienennetz inklusive Bahnhöfe aufgebaut und in ähnlichen Zeiträumen 5000 Lokomotiven und Züge hergestellt, und das mit der Technik des 19. Jahrhunderts ohne moderne Kransysteme, Präzisionsbohrmaschinen, Lasermessgeräte oder Fließbandfertigung. Was in aller Welt sollen wir sagen, wenn uns mal ein Zeitreisender von 1875 besucht, der Eisenbahnbrücken in Mittelgebirgen errichtet hat und wissen will, warum das mit unserer Energiewende nicht vorangeht? Ihm sagen, dass wir jedes Jahr tausende Tonnen nutzlosen Schrott herstellen, aber uns für eine Energiewende leider das Personal fehlt?“

Das Problem ist (wie fast immer bei der Klimakrise) nicht, dass uns die Technik fehlt oder die Rohstoffe. Es fehlt allein der Wille. Und die Erkenntnis bei noch viel zu vielen Bürger:innen, dem Desinformationsblatt BILD weder Interviews zu geben, noch Glauben zu schenken.