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Ex-Verfassungsrichterin: Was man auch statt eines ganzen AfD-Verbots tun könnte

von | Okt 15, 2023 | Analyse

Die Instrumente des Parteiverbots und der Grundrechtsverwirkung

Gastbeitrag Gertrude Lübbe-Wolff, zuerst erschienen bei Verfassungsblog

Die Rede von der „wehrhaften Demokratie“ bezog sich ursprünglich auf die militärische Wehrhaftigkeit nach außen. Das änderte sich mit Karl Loewensteins Überlegungen zur „Militant Democracy“ (1937)“, in denen es um die notwendige Wehrhaftigkeit der Demokratie nach innen ging, gegen den Faschismus, der ihr den Krieg erklärt hatte. In dem seither vorherrschenden innengerichteten Sinn gilt das Prinzip der wehrhaften oder, weniger prägnant, der streitbaren Demokratie heute in Deutschland als Verfassungsprinzip. 

Es soll, so das Bundesverfassungsgericht, „gewährleisten“, dass „Verfassungsfeinde nicht unter Berufung auf die Freiheiten, die das Grundgesetz gewährt, und unter ihrem Schutz die Verfassungsordnung oder den Bestand des Staates gefährden, beeinträchtigen oder zerstören“ (s. hier, Rn. 418). Als Ausdruck dieses Prinzips betrachtet das Gericht vor allem die grundgesetzlichen Vorschriften zum Verbot verfassungsfeindlicher Vereine (Art. 9 Abs. 2 GG) und Parteien (Art. 21 Abs. 2 GG) und zur Verwirkung von Grundrechten (Art. 18 GG), aber auch noch eine Reihe weiterer Institutionen (näher hier, Rn. 418; s. auch, zur Möglichkeit des Vereinsverbots als Ausdruck wehrhafter Demokratie, hier, Rn. 101, zur Möglichkeit geheimdienstlichen Verfassungsschutzes hier, Rn. 150, zur beamtenrechtlichen Treuepflicht hier, Rn. 39).

Zum Arsenal der wehrhaften Demokratie gehört auch die 2017 – nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts, mit dem zum zweiten Mal ein Verbotsantrag gegen die NPD scheiterte – in das Grundgesetz aufgenommen Möglichkeit, zum Schutz der freiheitlichen demokratischen Grundordnung eine Partei von staatlicher Finanzierung auszuschließen (Art. 21 Abs. 3 GG).

Die Mär vom wehrlosen Weimar

Mit der Kennzeichnung der grundgesetzlichen Ordnung als „wehrhafte“ Demokratie verbindet sich die Vorstellung, der Weimarer Verfassung habe es an der Wehrhaftigkeit gefehlt, die nötig gewesen wäre, um das nationalsozialistische Unrechtsregime zu verhindern. Auch das Bundesverfassungsgericht schien zunächst dieser Vorstellung anzuhängen. In seinem Extremistenbeschluss hieß es 1975, das Grundgesetz habe „die Bundesrepublik Deutschland aus der bitteren Erfahrung mit dem Schicksal der Weimarer Demokratie als eine streitbare, wehrhafte Demokratie konstituiert“ (hier, Rn. 96).

Im NPD-Urteil von 2017 heißt es an einer Stelle, die „Etablierung des Parteiverbots in Art. 21 Abs. 2 GG“ sei Ausdruck des Bestrebens des Verfassungsgebers „strukturelle Voraussetzungen zu schaffen, um eine Wiederholung der Katastrophe des Nationalsozialismus und eine Entwicklung des Parteiwesens wie in der Endphase der Weimarer Republik zu verhindern“ (hier, Rn. 514). Auch damit wird die Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes in einen Gegensatz zur Weimarer Verfassungslage gerückt. An etwas späterer Stelle qualifiziert das Gericht dann allerdings Art. 21 Abs. 2 GG als Reaktion auf den Aufstieg des Nationalsozialismus und „die (vermeintliche) Wehrlosigkeit der Weimarer Reichsverfassung gegenüber den Feinden der Demokratie“ (ebd., Rn. 583). Das trifft die Sache sehr viel besser.

Mythos Weimarer Verfassung

Die nach Kriegsende aufgekommene Idee der Weimarer Verfassung als einer im Gegensatz zum Grundgesetz wehrlosen gehört zu den diversen Selbstentlastungslegenden, mit denen die Eliten der ersten Nachkriegsjahrzehnte sich selbst und die öffentliche Meinung davon zu überzeugen suchten, dass für das Vorausgegangene Andere und Anderes als sie selbst verantwortlich waren. Um solche Legenden handelte es sich auch, wenn der spätere erste Bundespräsident Theodor Heuss im Parlamentarischen Rat, und nach ihm zeitweilig die intellektuelle Mehrheitsmeinung, die Weimarer direkte Demokratie zum Wegbereiter der Diktatur erklärten, und wenn Gustav Radbruch und seine Nachbeter als Quelle des totalitären Übels den angeblich herrschenden Gesetzespositivismus identifizierten, der die Menschen unfähig zum Widerstand gegen Unrecht in Gesetzesform gemacht habe (S. zu Theodor Heuss‘ vielfach aufgegriffenen Einlassungen über die direkte Demokratie Lübbe-Wolff, Demophobie, 2022, S. 29 ff. Zur Radbruch’schen „Positivismus-Legende“ treffend Horst Dreier, hier, S. 120 ff.)

Neue der Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes?

Was das angeblich Neue der Wehrhaftigkeit des Grundgesetzes angeht, ist festzustellen: Von einer konstitutionellen Wehrlosigkeit der Weimarer Demokratie kann überhaupt keine Rede sein. Die Weimarer Republik verfügte über Polizei und Geheimdienste mit weitreichenden Befugnissen. Auch eine beamtenrechtliche Treuepflicht gab es schon unter der Weimarer Verfassung. Nur weil das so ist, konnte das Bundesverfassungsgericht die beamtenrechtliche Treuepflicht zu den von Art. 33 Abs. 5 GG verbindlich gemachten „hergebrachten“, d.h. mindestens schon unter dieser Verfassung in Geltung gewesenen Grundsätzen des Berufsbeamtentums im Sinne des Art. 33 Abs. 5 GG zählen (hier, Rn. 40 ff.).Beamte wegen verfassungsfeindlichen Verhaltens aus dem öffentlichen Dienst zu entfernen, war auch zur Weimarer Zeit möglich (Näher zur Entwicklung der Weimarer Rechtslage und Rechtsprechung Schmahl, Disziplinarrecht und politische Betätigung der Beamten in der Weimarer Republik, 1977, S. 52 ff. u. passim.).

In Weimar war ein Parteienverbot einfacher

Und Parteien mit verfassungswidrigen Zielsetzungen zu verbieten, war damals nicht etwa schwieriger, sondern sehr viel einfacher als unter dem Grundgesetz. Art. 21 Abs. 4 des Grundgesetzes monopolisiert zur Vermeidung von Missbräuchen die Entscheidung über die Verfassungswidrigkeit einer Partei beim Bundesverfassungsgericht und erschwert damit ein solches Verbot. Unter der Weimarer Verfassung konnten dagegen Parteien wie beliebige andere Vereine von den dafür zuständigen Ordnungsbehörden verboten werden. Tatsächlich war die NSDAP sowohl in verschiedenen Ländern als auch nach dem Hitler-Putsch von 1923 auf Reichsebene zeitweise verboten. Aber eben nur zeitweise. Was fehlte, war nicht die rechtliche Handhabe, sondern der politische Wille, dieser Partei das Handwerk zu legen.

(Zu den zeitweiligen Verboten näher Schön, Gundlagen der Verbote politischer Parteien als politische Gestaltungsfaktoren in der Weimarer Republik und in der Bundesrepublik, Diss. Würzburg 1972, S. 26 ff., 50 ff; Gusy, Die Lehre vom Parteienstaat in der Weimarer Republik, Baden-Baden 1993, S. 37 ff.; Stein, Parteiverbote n der Weimarer Republik, 1999, S. 80 ff. u. passim (auch zu Verboten auf anderer als vereinsrechtlicher Grundlage). Nach der nationalsozialistischen Machtergreifung alle Parteien außer der NSDP durch Gesetz verboten.)

Die Potentialitätsrechtsprechung des BVerfG

Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat nun ein Parteiverbot noch deutlich über das offenkundig im Text des Grundgesetzes Angelegte hinaus erschwert. Nach Art. 21 Abs. 2 GG sind Parteien verfassungswidrig, die nach ihren Zielen oder nach dem Verhalten ihrer Anhänger „darauf ausgehen“, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden.

Ein solches „Daraufausgehen“ soll nach der Entscheidung zum NPD-Verbot aus dem Jahr 2017 nur noch angenommen werden können, wenn „konkrete Anhaltspunkte von Gewicht“ es möglich erscheinen lassen, dass die Partei in ihrem verfassungsfeindlichen Handeln „erfolgreich sein kann“ (Rn. 585). Eine Partei muss, um verboten werden zu können, über „hinreichende Wirkungsmöglichkeiten“ verfügen, die „ein Erreichen der von ihr verfolgten verfassungsfeindlichen Ziele nicht völlig aussichtslos erscheinen lassen“ (Rn. 586). Weil es an dieser sogenannten „Potentialität“ fehlte, scheiterte der Antrag, die NPD zu verbieten.

Das Gericht bescheinigte der Partei verfassungsfeindliche Zielsetzungen und ein planmäßiges Hinarbeiten auf deren Verwirklichung, aber für deren Durchsetzbarkeit fehle es an hinreichenden Anhaltspunkten von Gewicht. Eine Durchsetzung „mit parlamentarischen oder außerparlamentarischen demokratischen Mitteln“ erscheine ausgeschlossen; speziell im parlamentarischen Bereich verfüge die Partei – die damals nur rund 5000 Mitglieder hatte, bei der zurückliegenden Bundestagswahl mit einem Stimmenanteil von 1,3% den Einzug ins Parlament verpasst hatte und auch auf Länder- und Kommunalebene nur geringfügige Erfolge verbuchen konnte – „weder über die Aussicht, bei Wahlen eigene Mehrheiten zu gewinnen, noch über die Option, sich durch die Beteiligung an Koalitionen eigene Gestaltungsspielräume zu verschaffen“ (Rn. 896 f.).

Schwenk in der Rechtsprechung

Dieser Schwenk in der Rechtsprechung, die früher derartige Anforderungen nicht enthielt – von seiner Interpretation der Worte „darauf ausgehen“ im KPD-Verbotsurteil von 1956 hat das Gericht sich ausdrücklich distanziert (Rn. 586) –, ist kaum verständlich ohne die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Dieser hatte in dem Bestreben, dem exzessiven türkischen Parteiverbotswesen eine Grenze zu ziehen, etwas unvorsichtig formuliert, einem Staat könne nicht abverlangt werden, abzuwarten, bis eine verfassungsfeindliche Partei die Macht ergriffen und mit der Umsetzung ihrer demokratie- und menschenrechtsfeindlichen Ziele begonnen hat, obwohl die Gefahr „hinreichend erwiesen und unmittelbar“ (sufficiently established and imminent) ist.

Der Gerichtshof erkenne vielmehr an, dass ein Staat gegen die Umsetzung derartiger Ziele einschreiten dürfe, wenn nach eingehender Prüfung der nationalen Gerichte, die insoweit strenger europäischer Kontrolle unterlägen, das Vorliegen „einer solchen“ Gefahr festgestellt worden sei (hier, Rn. 102). In Teilen der Literatur ist daraus geschlossen worden, dass der EGMR ein Parteiverbot nur bei konkreter Gefahr für eine die Menschenrechte achtende demokratische Ordnung zulasse (einige Nachweise hier, Rn. 619).

NPD-Verbot und Straßburger Gerichtshof

Dem ist das Bundesverfassungsgericht mit Recht nicht gefolgt (Rn. 619). Tatsächlich verwendet der Straßburger Gerichtshof den Gefahrenbegriff nicht in der engen Bedeutung, der ihm im deutschen Sicherheitsrecht zukommt (s. z.B. für die gleichbedeutende Verwendung des Risikobegriffs hier, Rn. 104, und hier, Rn. 83). Er stellt nicht zusätzlich auf das Vorliegen einer konkreten Gefahr ab, sofern eine Partei Gewalt oder Aufrufe zu Gewalt als Mittel zur Verfolgung ihrer Ziele einsetzt (s. z.B. hier, Rn. 79). Zudem hat er betont, dass die erforderliche Gesamtwürdigung auch eine Berücksichtigung der Verhältnisse und der historischen Hintergründe des Parteiverbotsverfahrens im jeweiligen Land einschließen müsse (u.a. hier, Rn. 105).

Ob das Bundesverfassungsgericht der Meinung war, dem EGMR wenigstens mit einer etwas weniger anspruchsvollendie Erfolgschancen der jeweiligen Partei betreffenden Verbotsvoraussetzung, eben dem Potentialitätsätskriterium, entgegenkommen zu müssen, geht aus der Entscheidung zum NPD-Verbotsverfahren nicht klar hervor. Erforderlich dürfte ein solches Entgegenkommen jedenfalls nicht gewesen sein. Dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sich quergestellt und ausgerechnet dem deutschen Bundesverfassungsgericht einen Menschenrechtsverstoß bescheinigt hätte, wenn es die NPD für verfassungswidrig erklärt und damit verboten hätte, halte ich für vollkommen ausgeschlossen.

Zur Diskussion eines Verbots der AfD

Wie dem auch sei – inzwischen haben wir in Deutschland eine sich zunehmend radikalisierende der Partei, die „Alternative für Deutschland“, die vom Verfassungsschutz als Verdachtsfall der Verfassungsfeindlichkeit geführt und deren thüringischer Landesverband vom thüringischen Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestuft wird. Bei den Bundestagswahlen vom September 2021 haben nicht 1,3 %, sondern 10,3 % der Wähler für diese Partei gestimmt, und jüngsten Umfragen zufolge würde sie, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahl wäre, um die 20 % erreichen. Und bei kommenden Landtagswahlen wollen laut Umfragen in Sachsen-Anhalt 29%, in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen 32%, und in Sachsen 35% für sie stimmen. Bei der hessischen Landtagswahl am vergangenen Sonntag hat die AfD immerhin 18,4% der Stimmen erreicht.

Es gibt nun Rufe, diese Partei zu verbieten. Unterstellt einmal – was ich hier nicht beurteilen will –, dass die in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts explizierten inhaltlichen Voraussetzungen für ein Verbot der AfD im Übrigen vorliegen: An der Potentialität – an gewichtigen Anhaltspunkten für die Möglichkeit, dass diese Partei ihre Ziele erreicht – fehlt es jedenfalls nicht. Hier wird nun aber allenthalben ein Problem, ein „Dilemma“ oder eine „Zwickmühle“ aufgrund des Potentialitätskriteriums diagnostiziert (s. statt vieler hier): Im Frühstadium könne man eine verfassungsfeindliche Partei aus rechtlichen Gründen, mangels „Potentialität“, nicht verbieten, und wenn die geforderten gewichtigen Anhaltspunkte für ein Erfolgspotential erst einmal vorlägen, dann sei es faktisch zu spät. Eine Partei zu verbieten, die ein Fünftel, regional sogar ein Drittel der Stimmbürger wählen will, wäre in der Tat ein politisches Abenteuer mit unvorhersehbarem Ausgang.

Dilemma-Diagnose

Der Dilemma-Diagnose liegt allerdings eine unnötig problemerzeugende Auslegung des vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Potentialitätskriteriums zugrunde. Anforderungen für ein Parteiverbot aufzustellen, die praktisch nicht oder jedenfalls nicht mit guter Erfolgsaussicht nutzbar sind, weil ein rechtskonformes Verbot politisch zu spät käme, ist offensichtlich nicht das, was das Bundesverfassungsgericht mit seiner Potentialitätsrechtsprechung beabsichtigt hat. Das Gericht hat denn auch ausdrücklich die Geltung der Maxime „Wehret den Anfängen“ bekräftigt (hier, Rn. 584): Art. 21 Abs. 2 GG ziele darauf ab, nach dieser Maxime ein frühzeitiges Vorgehen gegen verfassungsfeindliche Parteien zu ermöglichen.

Diese Passage taucht im Zusammenhang damit auf, dass das Gericht das Erfordernis einer konkreten Gefahr als Verbotsvoraussetzung zurückweist. In diesem Zusammenhang wird die Möglichkeit des Parteiverbots ausdrücklich auf die historische Erfahrung zurückgeführt, „dass radikale Bestrebungen umso schwieriger zu bekämpfen sind, je mehr sie an Boden gewinnen.“ (Rn. 583). Diese Erkenntnis muss selbstverständlich auch die Auslegung und Anwendung des Potentialitätskriteriums bestimmen. Es wäre deshalb abwegig, anzunehmen, das Bundesverfassungsgericht verlange, mit einem Parteiverbot abzuwarten, bis eine kontraproduktive Wirkung befürchtet werden muss, oder bis die Erfolgschancen einer Partei so gut stehen wie derzeit die der AfD. Dass das Gericht im Fall der NPD bei der gebotenen Gesamtwürdigung kein für ein Verbot ausreichendes Potential gesehen hat, dürfte vor allem darauf zurückzuführen sein, dass angesichts einer für sich genommen vollkommen marginalen Bedeutung der Partei auch eine besorgniserregende Entwicklungsrichtung nicht ansatzweise festzustellen war.

Man kann sehr frühzeitig einschreiten

Dass parlamentarische Mehrheiten für die NPD „weder durch Wahlen noch im Wege der Koalitionsbildung erreichbar“ (Rn. 898) seien, hat das Gericht nicht einfach mit den schwachen Wahlergebnissen der Partei begründet, sondern damit, dass diese auf niedrigem Niveau stagnierten (Rn. 900), dass die NPD in den westlichen („alten“) Bundesländern bei niedrigen Stimmanteilen zuletzt auch noch weitere Verluste hinzunehmen hatte, in den östlichen („neuen“) Ländern, ausgehend von einem höheren Niveau, gleichfalls Rückgänge zu verzeichnen waren, es der Partei in den mehr als fünf Jahrzehnten ihres Bestehens nicht gelungen war, dauerhaft auch nur in einem einzigen Landesparlament vertreten zu sein, und auch auf der kommunalen Ebene ein positiver Trend zugunsten der Antragsgegnerin insgesamt nicht festgestellt werden könne (Rn. 900 ff.).

Man kann also auch unter der neuen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts durchaus sehr frühzeitig einschreiten. Für den Umgang mit der AfD, die über das Stadium der frühestmöglichen Intervention längst hinaus ist und in der auch erst seit einigen Jahren die gemäßigteren Kräfte derart auf dem Rückzug und die radikalen derart auf dem Vormarsch sind, dass sich die Frage der Verbietbarkeit ernsthaft stellen lässt, hilft das freilich nicht weiter. Was also tun?

Teilverbandsbezogene Verbote?

Jüngst hat man den Gedanken ins Spiel gebracht, bis auf Weiteres nicht die Gesamtpartei, sondern einzelne Landesverbände zu verbieten, in denen der Rechtsextremismus, wie zum Beispiel in Thüringen in der Person des Vorsitzenden Björn Höcke, besonders deutlich zutage tritt (S. Gärditz, hier; Grunert, hier; Wielenga, hier.).

Die Möglichkeit solcher teilverbandsbezogenen Verbote sieht das Bundesverfassungsgerichtsgesetz ausdrücklich vor: Die verfassungsgerichtliche Feststellung der Verfassungswidrigkeit einer Partei kann nach § 46 Abs. 2 BVerfGG auf einen rechtlich oder organisatorisch selbständigen Teil einer Partei beschränkt werden. Mit dem Hinweis auf diese einfachgesetzliche Regelung ist zwar die Frage noch nicht beantwortet, ob das Grundgesetz solche Teilverbote zulässt. Auch diese Frage ist aber zu bejahen. Das in Art. 21 Abs. 2 GG verwendete Wort „Partei“ hat keinen bedeutungsimmanenten Bundesbezug.

Es unterliegt daher auch keinem Zweifel, dass die grundgesetzliche Regelung zum Parteiverbot auch auf Parteien anwendbar ist, die überhaupt nur in einem Bundesland organisiert sind (s. dementsprechend § 43 Abs. 2 BVerfGG). Wenn ein Landesverband aber als isoliert existierender verboten werden könnte, ist kein Grund ersichtlich, weshalb dasselbe nicht auch im Fall der Integration in einen bundesweiten Verband möglich sein sollte. Angesichts der Möglichkeit, dass zu einem gegebenen Zeitpunkt nur ein Teilverband die Verbotsvoraussetzungen erfüllt, widerspräche es im Gegenteil eklatant dem präventiven Sinn und Zweck des Art. 21 Abs. 2 GG, in einem solchen Fall jegliches Verbot auszuschließen.

Wehrhaftigkeit der Verfassung weniger missbrauchsanfällig

Historischer Zweck des Art. 21 Abs. 2 GG war es zwar nicht, das Grundgesetz in puncto Parteiverbot wehrhafter zu machen als die Weimarer Verfassung, sondern im Gegenteil, die Wehrhaftigkeit der Verfassung in diesem Punkt weniger missbrauchsanfällig zu machen als sie es zur Weimarer Zeit war (So. und, zur zugleich rechtsstaatlichkeitssichernden Funktion der Grundgesetzbestimmungen, die die grundgesetzliche Demokratie wehrhaft machen sollen, z.B. hier, Rn. 25)

Aber es spricht nichts dafür, dass die mit der Monopolisierung beim Bundesverfassungsgericht verbundene Erschwerung des Parteiverbots über das zur Missbrauchsvermeidung Erforderliche hinaus reichen sollte. Dass in Art. 21 GG eine Beschränkung der Parteiverbotsmöglichkeit auf die bundesweite Lösung angelegt ist, kann deshalb nicht angenommen werden, denn eine solche Beschränkung hätte keinerlei spezifisch missbrauchsvermeidenden Sinn.

In einer frühen Entscheidung (hier, Rn. 12) ist auch das Bundesverfassungsgericht en passant davon ausgegangen, dass Art. 21 Abs. 2 GG auf eine Partei „als Ganzes oder auf rechtliche und organisatorische Teile der Partei“ angewendet werden könne. Fragen kann man sich allenfalls, ob aufgrund der jüngsten Rechtsprechung nun das Potentialitätskriterium im Wege steht. Antwort: Entschieden nein.

Einzelne Landesverbände

Zwar kann es einer Partei auch mit noch so großen Erfolgen in nur einem einzelnen Land schwerlich gelingen, die freiheitlich demokratische Ordnung des Grundgesetzes aus den Angeln zu heben. Selbst der Schaden, den der Landesverband einer Partei für diese Ordnung auf der Ebene des betreffenden Landes anrichten könnte, etwa was die Offenheit des demokratischen Wettbewerbs oder die Achtung und den Schutz der Menschenwürde von Angehörigen aller Bevölkerungsgruppen angeht, dürfte angesichts bundesrechtlicher Aufsichts- und Rechtsschutzmöglichkeiten begrenzt sein. Entscheidend ist aber auch hier, dass es für die Potentialität auf eine Prognose ankommt, und dass der Blick sich dabei nicht auf die Grenzen des jeweiligen Landes verengen darf. Erfolge einer verfassungsfeindlichen Partei in einem Bundesland indizieren die Möglichkeit solcher Erfolge auch in anderen Bundesländern, denn politische Stimmungen überspringen häufig die Grenzen politischer Einheiten.

Und so verschieden, dass verfassungsfeindliche Parteien, die in einem Bundesland viele Wählerstimmen hinter sich versammeln, das mit geeigneten Führungspersonal nicht auch in anderen Ländern könnten, sind die Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik nicht. Von solchen Potentialitäten geht offenbar auch das Bundesverfassungsgericht aus, denn anderenfalls hätte keine Veranlassung bestanden, im Hinblick auf das Erfolgspotential der NPD sogar die Verhältnisse auf der Ebene der Kommunen zu untersuchen.

Mit Risiken

Das alles ändert freilich nichts daran, dass im Hinblick auf die AfD ein Verbot auch nur einzelner Landesverbände mit einem hohen Risiko belastet wäre, das schwindende Demokratievertrauen großer Teil der Bevölkerung nur noch weiter zu erschüttern, insbesondere bei dem großen Teil der AfD-Wähler, die dieser Partei nicht aufgrund einer extremistischen Haltung zuneigen, sondern weil sie Anliegen, die man haben kann, ohne mit der freiheitlichen Demokratie auf Kriegsfuß zu stehen, derzeit bei keiner anderen Partei ausreichend vertreten finden.

(Zu rechten und rechtsextremen Einstellungen in Deutschland und insbesondere bei AfD-Wählern s. Art. „Nicht rechtsextremer als früher. Die Einstellungen der Wähler haben sich weniger verändert als oft behauptet“, FAZ v. 11.10.2023, und zugrundeliegende Umfrage ARD-DeutschlandTrend v. 29.9.2023.).

Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG?

Es liegt deshalb nahe, sich auf ein noch zielgenaueres Instrument der wehrhaften Demokratie zu besinnen: Die Grundrechtsverwirkung (Art. 18 GG), die das Bundesverfassungsgericht einzelnen Personen gegenüber aussprechen kann, wenn sie bestimmte Grundrechte – unter anderem die Meinungs-, die Presse-, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit – zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung missbrauchen. Vereinzelte landesverfassungsrechtliche Vorschriften über ein eigenständiges landesrechtliches Verfahren der Grundrechtsverwirkung sind nach herrschender und richtiger Auffassung mit Inkrafttreten des Art. 18 GG unwirksam geworden.

(HessStGH, Beschl. v. 27.7.1951, NJW 1951, S.734; s. auch BVerfGE 10, 118 (123) und, einen Gegenschluss auf die o.g. Rechtsauffassung nahelegend, BVerfGE 13, 174 (177); a.A., mit der korrespondieren Annahme, eine vom BVerfG ausgesprochene Grundrechtsverwirkung nach Art. 18 GG lasse die Möglichkeit, sich gegenüber der Landesstaatsgewalt auf Landesgrundrechte zu berufen, unberührt, Barczak, in Dreier, GG, 4. Aufl. 2023, Rn. 23, m.w.N. auch zur gegenteiligen Auffassung der „wohl h.M.“.)

Das Bundesverfassungsgericht hat in einem lange zurückliegenden Fall einen solchen Antrag mit der Begründung zurückgewiesen, dass die Auffassungen der Antragsgegner keine „als ernsthafte Gefahr für den Bestand der freiheitlich-demokratischen Grundordnung in Betracht kommende, politisch bedeutsame Resonanz mehr“ fänden (hier, Rn. 10). Auch für das Verfahren der Grundrechtsverwirkung gilt demnach ein Potentialitätskriterium, das allerdings ungeachtet des hier wohl untechnisch verwendeten Terminus der „Gefahr“ nicht so verstanden werden kann, dass es inhaltlich anspruchsvoller ist als das im NPD-II-Urteil für das Parteiverbotsverfahren entwickelte. Ein solcher Unterschied wäre angesichts der gleichgerichteten Abwehr- und Schutzfunktion kaum erklärbar.

schneller durchführbar als ein Parteiverbotsverfahren

Das Instrument der Grundrechtsverwirkung ermöglicht es, gezielt die Wirkungsmöglichkeiten derjenigen, und nur derjenigen, Akteure erheblich zu beschneiden, denen tatsächlich ein relevanter Missbrauch vorgeworfen werden kann. Auch wenn hinsichtlich der Voraussetzungen und möglichen Reichweite einer Grundrechtsverwirkung in rechtlicher Hinsicht noch etliche Fragen offen sind, hat dieses Instrument zudem jedenfalls den Vorteil, in tatsächlicher Hinsicht weniger umfangreiche Ermittlungen zu erfordern und daher, wenn es denn zügig betrieben wird, schneller durchführbar zu sein als ein Parteiverbotsverfahren (S. statt vieler v. Coelln, in: Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, BVerfGG, insbes Rn. 19 ff., 44, 47 ff., zu § 39 (Stand 62. EL, 1/2022), m.w.N.).

Das Parteienprivileg – das Privileg der Parteien, allein auf der Grundlage eines Verbotsverfahrens vor dem Bundesverfassungsgericht aus dem Verkehr gezogen werden zu können – steht der Anwendung des Art. 18 GG auf aktive (Partei)Politiker nicht im Wege. Das Parteiverbotsmonopol des Bundesverfassungsgerichts darf zwar nicht gezielt durch andere Formen der Behinderung einer Partei umgangen werden. Das Parteienprivileg hat aber nicht die Bedeutung, dass es einzelne Parteimitglieder oder -funktionäre gegen jede Anwendung rechtlich vorgesehener Möglichkeiten individueller Sanktionierung und Prävention verfassungsfeindlichen Handelns schützt.

Parteimitglieder, ob mit oder ohne innerparteiliche Führungsfunktionen, können für verfassungsfeindliches Verhalten, das gegen Strafgesetze verstößt, strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden (s. hier, Rn. 6 ff.), sie sind als Beamte nicht durch Parteimitgliedschaft vor Konsequenzen einer Verletzung ihrer politischen Treuepflicht und als Bewerber um Beamtenstellen nicht vor Konsequenzen diesbezüglicher Prognosen geschützt (hier, Rn. 53 ff.), und sie können in den Grenzen des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vom Verfassungsschutz beobachtet werden; erlaubt ist solche Beobachtung insbesondere dann, wenn sie durch ihr eigenes Verhalten dazu Anlass gegeben haben (hier, Rn. 120 f.).

Politiker tragen die Konsequenzen individuellen verfassungsfeindlichen Verhaltens

Für die Verwirkung von Grundrechten als Folge ihres Missbrauchs zum Kampf gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gilt nichts anderes. Auch hier müssen Politiker die Konsequenzen individuellen verfassungsfeindlichen Verhaltens tragen. Dass damit Unannehmlichkeiten auch für ihre Partei verbunden sind, ändert daran nichts. Das Parteienprivileg ist kein prinzipieller Freibrief für individuelle verfassungsfeindliche Umtriebe.

Speziell hinsichtlich der Grundrechtsverwirkung ist das deutlich vorausgesetzt in Art. 46 Abs. 2 GG. Die Einleitung eines Verfahrens der Grundrechtsverwirkung gegen Bundestagsabgeordnete bedarf danach einer Genehmigung des Bundestages. Aus dieser Bestimmung hat auch bereits das Bundesverfassungsgericht abgeleitet, dass die Möglichkeit eines Parteiverbotsverbotsverfahrens keine Sperrwirkung für ein gegen einen Abgeordneten gerichtetes Verfahren der Grundrechtsverwirkung entfaltet (hier, Rn. 115). Das leuchtet umso mehr ein, als ja auch das Instrument der Grundrechtsverwirkung durch Monopolisierung des Verwirkungsausspruchs beim Bundesverfassungsgericht vor Missbrauch seitens der politischen Konkurrenz geschützt ist.

Immunitätsvorschriften der Landesverfassungen?

Die Immunitätsvorschriften der Landesverfassungen enthalten ein speziell das Verfahren nach Art. 18 GG betreffendes Erfordernis der Genehmigung durch den Landtag nur in Niedersachsen (Art. 15 Abs. 2 NdsVerf). Hier wäre allerdings die Gesetzgebungskompetenz des Landes zu prüfen. Soweit Landesverfassungen allgemeiner das Erfordernis einer Genehmigung des Landtages für Beschränkungen der persönlichen Freiheit oder eine Aufhebung oder Aussetzung solcher Beschränkungen auf Verlangen des Landtags vorsehen, wäre, auch abgesehen von der Kompetenzfrage, klärungsbedürftig, ob hier nicht nur räumliche Beschränkungen der Bewegungsfreiheit im Sinne des Art. 104 Abs. 1 GG („Freiheit der Person“) gemeint sind, und ob der Wortlaut nicht auch unabhängig von dieser Frage eine Anwendung auf die Einleitung bzw. Durchführung eines Verfahrens der Grundrechtsverwirkung ausschließt.

(Für ein entsprechendes Verständnis des Begriffs der persönlichen Freiheit in Art. 46 Abs. 3 GG s. Jarass/Pieroth, GG, 17. Aufl. 2022, Rn. 10 zu Art. 46 GG, m.w.N. auch zur Gegenauffasung. Soweit allerdings ein Genehmigungserfordernis über die Fälle der Festnahme oder Verhaftung des Abgeordneten und Untersuchungsmaßnahmen im Rahmen einer Strafverfolgung auch bei „jeder anderen Beschränkung seiner persönlichen Freiheit“ vorgesehen ist, „die die Ausübung des Abgeordnetenmandats beeinträchtigt“ (Art. 48 Abs. 2 nrwVerf; ähnlich eine Reihe weiterer Landesverfassungen), liegt eine Auslegung dahin, dass nur die Freiheit der Person i.S.d. Art. 104 Abs. 1 gemeint ist, nicht nahe.)

Fazit

Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts im zweiten NPD-Verbotsverfahren hat an der Wehrhaftigkeit der grundgesetzlichen Demokratie gegenüber Parteien, die die freiheitlich-demokratische Grundordnung bekämpfen, trotz Verstrengerung der Verbotsvoraussetzungen nichts Entscheidendes geändert. Und für Fälle, in denen ein Parteiverbot, erst recht ein bundesweites, wenn es denn rechtlich in Betracht kommt, aus politischen Gründen kontraproduktiv zu wirken droht, hält das Grundgesetz auch noch andere Möglichkeiten der Abwehr bereit. Über alledem sollte man aber nicht vergessen:

Die Ursachen verbreiteter politischer Unzufriedenheit, die sich in Misstrauen gegenüber den schon länger etablierten Parteien und bei nicht Wenigen in Misstrauen gegen das gesamte politische System niederschlagen, sind mit den spezifischen Mitteln der „wehrhaften Demokratie“ nicht zu beseitigen. Hier hilft nur eine Politik, die sich entschlossener und realistischer den nicht verfassungsfeindlichen Anliegen der Bürger zuwendet. Ohne eine in der Mehrheit abwehrbereite Bürgerschaft, die sich mit ausreichendem Institutionenverstand demokratiewidrigen Bestrebungen widersetzt, nützt auf die Dauer auch das beste verfassungsrechtliche Abwehrsystem nichts.

Du kannst hier die Volksverpetzer-Petition unterstützen „Prüft ein AfD Verbot“, das bereits 320.000 Unterschriften gesammelt hat.

Der Artikel erschien zuerst auf verfassungsblog.de, CC BY-SA 4.0. Verfassungsblog ist ein Open-Access-Diskussionsforum zu aktuellen Ereignissen und Entwicklungen in Verfassungsrecht und -politik in Deutschland, dem entstehenden europäischen Verfassungsraum und darüber hinaus. Er versteht sich als Schnittstelle zwischen dem akademischen Fachdiskurs auf der einen und der politischen Öffentlichkeit auf der anderen Seite. Gerade wurde das Thüringen-Projekt gestartet. Gertrude Lübbe-Wolff ist Professorin für Öffentliches Recht an der Universität Bielefeld. Von 2002 bis 2014 war sie Richterin am Zweiten Senat des Bundesverfassungsgerichts.

Artikelbild: Bernd von Jutrczenka/dpa