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Irreführendes Framing: Warum der Lauterbach-Fake so extrem erfolgreich ist

von | Okt 29, 2020 | Aktuelles, Analyse, Corona

Mit Framing aus Nichts einen viralen Hit machen

Beim Volksverpetzer fragen uns viele Leser:innen (oder Journalist:innen in Interviews), wieso Menschen auf noch so absurde Fake News oder Verschwörungsmythen hereinfallen. Der Mechanismus an sich hat aber wenig mit Intelligenz, Bildung oder einer bestimmten Ideologie zu tun. Wir alle können auf Fake News und Verschwörungsmythen hereinfallen. Wir glauben nämlich eine Meldung dann, wenn sie in unsere Weltanschauung passt. Vernünftige Menschen hören zwar auf, an sie zu glauben, wenn ihnen Gegenbeweise geliefert werden, aber letztlich möchten wir an dem Glauben festhalten. Umso gefährlicher Fake News, die *fast* wahr sind. Wie im aktuellen Fall um Karl Lauterbach. Der hat nämlich NICHT das gefordert, was plötzlich in allen Schlagzeilen steht.

Die Meldung, dass der SPD-Politiker Karl Lauterbach „Kontrollen in Privatwohnungen“ gefordert hätte, zählte zu den meistgeteilten News des Tages. Wir haben gestern schon die ganzen Hintergründe dazu aufgeklärt und wie es insbesondere eine Kampagne von Springer und der FDP war, um Lauterbach zu schaden. Lindner verglich die angebliche Forderung sogar mit „Terrorabwehr“, um das passend irreführende Framing zu liefern.

FAKE über Lauterbach: BILD & Lindner stellen Zitate bewusst falsch dar – alle schreiben ab

Warum die Meldung nur fast richtig ist

Aber die Meldung wurde nicht nur von altbekannten Fake-News-Verbreiter:innen geteilt, es entstammt einer dpa-Agenturmeldung, die von der Rheinischen Post veröffentlicht wurde und viele, viele Medien wiederholten diese Behauptung. Noch viel verdächtiger waren die Zitate von Lauterbach: “Die Unverletzbarkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein.” und “Wenn private Feiern in Wohnungen und Häusern die öffentliche Gesundheit und damit die Sicherheit gefährden, müssen die Behörden einschreiten können.” Case closed, oder? Lauterbach fordert, dass Polizist:innen in Privatwohnungen eindringen sollen, um Corona-Regeln durchzusetzen.

Ja.. nein. Das Problem ist, dass viele, insbesondere die, die sich politisch rechts befinden und/oder in den letzten Monaten ideologisch eine grundlegende Anti-Haltung gegen Maßnahmen und deren Befürworter:innen entwickelt haben, das selbstverständlich glauben wollen. Denn es passt in ihr Weltbild der totalitären Corona-Maßnahmen. Es passt zu ihren Feindbild. Man denkt an Stasi, totale Überwachung, wenn man schon zu Hause „kontrolliert“ wird. Und ja, es wurde vor allem in einer Blase geteilt:

Und ja, es hat die Konsequenzen, die wir immer sehen, wenn der rechtsextreme Hass geschürt wird:

Aber auch vielen anderen bleibt quasi nichts anderes übrig, als diese Darstellung zu glauben. Glaubt mir, wenn so viele auch seriöse Medien das berichten, wenn die Zitate da stehen, wie kann man auch anders? Ich glaubte das auch nach dem ersten Lesen. Wie diese Meldung letztlich aber zu Stande kam, ist eigentlich absurd. Denn hier ist, was wirklich geschehen ist:

Der Gesundheitsökonom (mit Studienrichtung Epidemiologie) Karl Lauterbach hat sich nämlich ursprünglich in die Diskussion um die Verhinderung von Privatfeiern in NRW eingeschaltet. Zuvor hatte die FPD und CDU in NRW Begrenzungen von privaten Feiern komplett ausgeschlossen (Quelle). Im Öffentlichen Raum gibt es dagegen in NRW eine Begrenzung auf fünf Personen im Falle einer 7-Tage-Indzidenz über 50.

In den meisten Bundesländern gibt es allerdings solche Regeln auch auf privaten Feiern. Beispiel: Baden-Württemberg erlaubt 10 Personen oder zwei Hausstände, Bayern erlaubt nur noch 25 Personen bei Überschreiten der 7-Tage Inzidenz, Berlin ebenfalls nur 10 Personen (Quelle). Das heißt: Damit sich die Leute nicht einfach privat in riesigen Gruppen treffen und sich so womöglich ansteckend, gibt es in den meisten Bundesländern auch Begrenzungen für private Feiern, nur in NRW nicht.

Der essentielle Kontext der Aussage von Lauterbach

NRW-Minsterpräsident Laschet argumentierte, dass zur Durchsetzung dieser Regeln, wie sie in anderen Bundesländern bereits existieren, die Unverletzlichkeit der Wohnung gefährdet wäre.

IN DIESEM KONTEXT führte nun Lauterbach an: “Die Unverletzbarkeit der Wohnung darf kein Argument mehr für ausbleibende Kontrollen sein.” und “Wenn private Feiern in Wohnungen und Häusern die öffentliche Gesundheit und damit die Sicherheit gefährden, müssen die Behörden einschreiten können.”

Lauterbach fordert also, dass auch NRW solche Kontaktbeschränkungen bei privaten Feiern einführen sollte, und dass die Unverletzlichkeit der Wohnung dabei kein Argument sei, um einfach GAR KEINE Regeln zu haben. Auf Twitter wird dieser Kommentar vielfach mit einer Kontrolle nach Ruhestörung verglichen. Die Polizei darf ja auch bei dir zu Hause klingeln, wenn du mitten in der Nacht laut Musik hörst.

Seltsamerweise gab es deswegen noch keinen Aufschrei, von niemandem. Vor allem: Solche strengen Regeln für private Feiern GIBT ES SCHON LÄNGST. In den meisten anderen Bundesländern. Lauterbach hat also nur das für NRW gefordert, was für die meisten Deutschen ohnehin gilt. Lauterbach stellt das sogar extra noch mal klar:

Warum gibt es überhaupt diese Meldung?

Vor diesem Kontext ist es regelrecht absurd, dass es überhaupt zu einer Schlagzeile kam. Denn ja, technisch gesehen stimmt es irgendwo, aber allein dadurch, dass die Schlagzeilen so lauten, allein dadurch, dass es überhaupt Berichte gibt, entsteht der Eindruck, dass es hier um eine berichtenswerte Meldung handeln muss. Allein dass darüber berichtet wird, suggeriert, dass es sich hier um eine ungewöhnliche Meldung handeln muss. Wenn die Meldung lauten würde: „Lauterbach fordert, dass es in NRW auch Begrenzungen für Feiern in privaten Haushalte geben soll wie in vielen anderen Bundesländern auch.“ würde sich jeder fragen – ja und?

Wenn man es aber so suggeriert, als handle es sich um ganz ungewöhnliche „Kontrollen“, als würde die Polizei jetzt systematisch in Wohnungen marschieren, anders als es beispielsweise bei einer Ruhestörung nachts der Fall wäre, dann denken alle an etwas anderes. Und viele *wollen* es auch so interpretieren. Auch nach unserem Faktencheck holten viele die aus dem Kontext gerissenen Zitate (und rissen sie erneut aus dem Kontext) und warfen uns vor, sie verarschen zu wollen. Aber aus dem Zitat folgt nicht ipso facto die Schlagzeile und erst Recht nicht das, was die Schlagzeilen nur SUGGERIEREN.

Viele meinen, er „hätte es ja so gemeint“ und würde jetzt „nur zurückrudern“, aber Rechtfertigungen suchen ohne Belege, um das zu glauben, was man glauben möchte – das ist exakt der gleiche Mechanismus, mit dem Querdenker ihre Verschwörungslügen glauben. Der Kontext ist da, Lauterbachs Dementierung auch. Auf der anderen Seite stehen unzählige Schlagzeilen, die es eigentlich nicht mal geben müsste. Doch neben Parteien und Verlagen, die eine gezielte politische Kampagne fahren, gibt es viele Medien, die den Fake gar nicht bemerkten oder ihn vor sich rechtfertigten, denn: Klicks.

Der Klick beherrscht die Welt

Ich verstehe viele Zeitungen, dass sie dieses irreführende Framing geliefert haben, denn die Meldung ist ja nicht technisch gesehen falsch. Nur halt auch nicht so richtig. Was die Leser:innen nach der Meldung und ihrer Präsentation selbst schlussfolgern, darüber kann man sich ja die Hände in Unschuld waschen. Aber es gibt Klicks. Viele empörte Kommentare, Teilungen und Likes. Interaktion und Reichweite. Dass man eine Falschdarstellung verbreitet, das kann man verdrängen, denn man hat ja nicht direkt gelogen. Die Lüge entsteht quasi erst in den Köpfen der Leser:innen.

Und selbst nach Aufklärung, selbst in den Kommentarspalten nach unserem Volksverpetzer-Artikel gestern sagten einige: Ja, so falsch ist es aber nicht. „Technisch gesehen…“ usw. Aber wir leben nicht mehr in Zeiten, in denen man keine Verantwortung dafür übernehmen kann, wie die Menschen meine Schlagzeile interpretieren. Wie sie sie interpretieren müssen nach so einem Framing. Soweit mag das alles im Ansatz stimmen, aber wir sehen im medialen Diskurs, dass ein Narrativ bedient wird, das wiederum nichts mehr mit der Realität zu tun hat. Und das von gewissen politischen Gruppierungen gezielt als Waffe missbraucht wird. Kaum jemand erfindet heutzutage noch Fake-Meldungen. Mit Framing allein kann unglaublich viel Schaden angerichtet werden. Deshalb ist es umso wichtiger, *jede* Meldung zu hinterfragen. Besonders dann, wenn man sie glauben möchte.

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Artikelbild: Michael Kappeler/dpa


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