Wie Taten wie die von Idar-Oberstein Diskursverschiebungen einleiten
Im Nachgang zur grausamen Tat in Idar-Oberstein hört man aus immer mehr Regionen in Deutschland Morddrohungen, die nicht nur gegenüber Menschen im Dienstleistungsgewerbe ausgesprochen werden.
Auf den ersten Blick wirkt es, als handele es sich lediglich um Einzelfälle. Es ist jedoch viel mehr so, dass die Gesellschaft zunehmend enthemmter wird. Morddrohungen werden schneller als zuvor ausgesprochen. Seit Neuestem aber auch mit zeitnahen Konsequenzen, wie wir weiter unten berichten.
Dies zeigen auch einige Ausschnitte der vergangenen Tage:
Weil er keinen #MNS tragen wollte, verwies ein Busfahrer in #KönigsWusterhausen (LDS) heute Morgen einen Fahrgast aus dem Bus. Der 30-Jährige verweigerte dies & schlug dem Fahrer unvermittelt ins Gesicht.Nach ihm wurde bereits gefahndet, sodass er in Gewahrsam kam.
— Polizei Brandenburg (@PolizeiBB) September 24, 2021
Ansage mit Konsequenz
Gleichwohl bleiben solche Taten, aber auch die Ankündigungen nicht mehr konsequenzenlos: die Personen aus den oberen Screenshots erhielten alle eine polizeiliche Maßnahme (erkennungsdienstliche Behandlung, Strafanzeige etc.) und müssen sich unter Umständen nun auch vor Gericht dafür verantworten. In einem anderen Fall gab es sogar eine Hausdurchsuchung aufgrund der Ankündigung von Straftaten. Dieses schnelle Handeln verfolgt einen ganz einfachen Zweck: Abschreckung.
Triers Polizeipräsident Friedel Durben kommentierte:
“Wir gehen mit aller Entschiedenheit gegen solche Bedrohungen und Ankündigungen von Nachahmungstaten des schrecklichen Tötungsdeliktes in Idar-Oberstein vor.”
Der Verfassungsschutzbericht 2020 über Eskalation in Social Media
Am 15.06.2021 gab es eine Pressekonferenz zum Verfassungsschutzbericht 2020, der Präsident des Bundesverfassungsschutzes, Thomas Haldenwang, gab zum Thema Extremismus und Corona folgendes Statement ab:
“Seit über einem Jahr befindet sich Deutschland im Pandemie-Modus, und mein Fazit als Verfassungsschützer lautet: Extremisten und Terroristen gehen nicht in den Lockdown!
Extremisten und Terroristen nutzen die gesamte Bandbreite digitaler Kommunikation, um sich zu vernetzen, sich gegenseitig aufzustacheln und Pläne zu schmieden gegen unsere freiheitliche demokratische Grundordnung. Sie sitzen gleichsam im Homeoffice und treiben von dort aus ihre verfassungsfeindlichen Aktivitäten.
Vielmehr noch: Die Pandemie hat neue, ernstzunehmende Entwicklungen hervorgebracht – wie wir am Protestgeschehen gegen die Corona-Schutzmaßnahmen der Bundes- und Landesregierungen gesehen haben.”
Der Angriff auf die Pressefreiheit kommt vor allem von rechts & von Querdenkern
Neues Gesetz gegen Doxxing und Feindeslisten
Derweil diskutiert man auf Bundesebene bereits die Erweiterung des §126 StGB um folgenden Straftatbestand. “Der Entwurf sieht mit § 126a StGB-E die Einführung eines neuen Straftatbestandes nach § 126 StGB (Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten) vor, der ebenfalls den öffentlichen Frieden schützt. Als Tathandlung soll das in einer bestimmten Art und Weise erfolgte Verbreiten personenbezogener Daten mehrerer Personen oder auch einer einzelnen Person erfasst werden, wenn dies öffentlich, in einer Versammlung oder durch Verbreiten von Inhalten geschieht.”
Doxxing und die öffentliche Ankündigung können also künftig ähnlich wie im obigen Fall der bedrohten Kassiererin noch häufiger zu strafrechtlichen Konsequenzen führen.
Keine Bühne für die Täter:innen
Wir sind in diesem Artikel hier nicht ausführlich auf die Personen eingegangen, die weitere Straftaten angedroht haben. Wir bieten Täter:innen – wie auch schon in Halle – keine Bühne, wir möchten keine Werbefläche für Nachahmungstäter:innen bieten.
Natürliche Hemmungen, die man bislang vielleicht noch hatte, werden auch durch das Internet und Social Media abgebaut. Im Netz hetzt es sich leichter, auch radikalisiert es sich leichter, man findet schneller Gleichgesinnte und Leute, die einen noch anfeuern und zusätzlich motivieren um Dinge zu tun, die man sich zuvor vielleicht nicht unmittelbar getraut hätte. Während sich im Internet Menschen von einem abwenden, die die eigenen Ansichten nicht teilen und dies unkommentiert lassen, lassen einen Menschen im Real Life ihre Ablehnung spüren. Die Wohlfühlblase zerplatzt.
Frust kann alle treffen – Stichwort Zufallsopfer
Frust wird nicht immer zielgerichtet abgeladen, die Wut über etwas kann Menschen treffen, die gar nicht ursächlich für die Situation der handelnden Person sind, wie auch in Idar-Oberstein.
Thomas Bliesener ist Diplom-Psychologe am Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen, aus einem haz-Interview zu “Bahnschubsern”, im Übrigen eine totale Verharmlosung von Mord(versuch)en, zitieren wir:
Normalerweise gibt es eine natürliche Hemmschwelle, jemandem so etwas anzutun. Was muss passieren, dass diese überschritten wird?
Die Täter sind in einem anderen Modus. Das kennen wir auch bei Körperverletzungen, in denen Waffen involviert sind. Die natürlichen Hemmungen sind außer Kraft gesetzt, der Täter ist in einem psychischen Ausnahmezustand. Er kann sich massiv bedroht fühlen und deshalb agieren oder die Tat geschieht affektiv, etwa durch einen Streit mit dem Partner oder durch andere Belastungen. Es müssen bestimmte Mechanismen auftreten. Das kann auch eine Gruppendynamik.
Wird wirklich alles schlimmer und die Gewalt mehr?
Ein Mord wie In Idar-Oberstein erregt Aufsehen, vor allem in den Medien. Es gibt mehr Klicks als “Alles ist gut”-Nachrichten. Durch Social Media werden diese aufsehenerregenden Fälle mehr geteilt. Sie erzielen eine größere Reichweite und Menschen nehmen solche Taten verstärkt wahr.
Es stellt sich weiterhin die Frage: werden Nachahmungstäter:innen durch die Medienberichterstattung motiviert oder doch eher durch die Taten selbst?
Massive Berichterstattung hat Folgen
Klar ist, dass solch extreme Taten wie in Idar-Oberstein eine enorme Berichterstattung mit sich bringen und Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Schwierig ist dabei, dass es zu einigen Nachahmungstaten kommen kann, weil sich diese Menschen “motiviert” und mobilisiert sehen, indem andere diese Taten ernsthaft begangen haben und nun sehr viel mediale Aufmerksamkeit erhalten. Der Psychologe Dr. Jens Hoffmann vom Institut für Bedrohungsmanagement in Darmstadt zitiert einen Kollege im Stern wie folgt:
Es ist besser, von der Polizei gesucht zu werden, als gar nicht. Unter Umständen ist eine negative Identität attraktiver als das Gefühl, ein Niemand zu sein. Wer voller Wut ist, keinen Ausweg sieht, glaubt, im Leben keine Rolle zu spielen, für den kann eine solche, schreckliche Tat ein Weg aus der Bedeutungslosigkeit sein. Erst recht, wenn sich noch die Gelegenheit bietet, die Gewalt mit einer Ideologie zu ummanteln.
Die Einschätzung der Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) bekräftigt diese Einschätzung ebenfalls: je größer das mediale Rampenlicht, desto eher kommt es zu Nachahmungstaten.
Wenn nur noch Klicks zählen…
In Zeiten wo Klicks mitunter entscheidender als Seriosität zu sein scheinen, muss sich der Journalismus generell mehr Gedanken machen wie über solche Taten berichtet werden soll. Einerseits generiert man durch effektheischende Berichterstattung mehr Klicks. Andererseits und schlimmstenfalls auch mehr Nachahmungstäter und somit wieder mehr Berichte. Diese Spirale gilt es zu durchbrechen und durch ausgewogene Berichterstattungen auf ein gesundes Level zu bringen.
Viel Berichterstattung würde dazu führen, dass solche Gefährdungs- und Bedrohungslagen irgendwann als normale Situation angesehen werden. Eine Verschiebung des Sagbaren tritt ein. Diese Diskursverschiebung erleben wir gerade auf mehreren Ebenen. Sie führt dazu, dass die Gesellschaft nur noch gespaltener ist und die Fronten noch mehr verhärten.
Querdenker-Terror: Pandemie-Leugner feiern & relativieren widerwärtig Mord
Artikelbild: pixabay.com/CC0
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