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Was eine Impfpflicht wirklich gebracht hätte – und was nicht

von | Mai 22, 2022 | Analyse

Hätte die Impfpflicht etwas gebracht?

Die Landtagswahl in Nordrhein Westfalen ist vorbei und die FDP hat eine starke Schlappe erlitten. Viele auf Social Media sind sich einig, das habe mit ihrer Corona-Politik zu tun. Das Coronavirus ist ein Thema, dem ich nach Anfeindungen eigentlich den Rücken kehren wollte. Doch das Narrativ in den sozialen Medien, die FDP trage Schuld am Tod vieler Menschen, hat meine Neugier wieder geweckt. Dabei stehen zwei zentrale Themen im Raum. Erstens, dass die Impfpflicht sie gerettet hätte und auch die Aufhebung der Maskenpflicht mit Sicherheit nun Menschen töten würde. In diesem ersten Artikel will ich mich der Frage widmen, was die Impfpflicht wirklich gebracht hätte. Die Effektivität einzelner Maßnahmen wie Maskenpflicht ist deutlich komplexer und diffuser und bedarf daher eines zweiten Artikels.

Die Frage ist, aus einer rationalen Sicht: Stimmt es, dass eine Impfpflicht einen deutlichen Effekt hätte? Während der Anfangsphase der Pandemie und auch bis Ende 2021 war ich für deutlich schärfere Maßnahmen. Von Anfang an hielt ich eine Eindämmung für die einzig intelligente Strategie. Diese ist aber, völlig gescheitert.

Ich stelle mir daher die Frage, welche Maßnahme welchen Effekt haben kann und wie wir das eigentlich bewerten wollen. Und ob diejenigen, die Maßnahmen abschaffen oder verhindern, wie Boris Johnson oder die FDP, tatsächlich im Jahr 2022 eine Strategie fahren, die unnötigen Schaden anrichtet. Ich bin der FDP zwar in vielem Denken nahe, für mich gilt aber vor allem eine evidenzbasierte, besonnene Herangehensweise und kann verraten, dass das Handling der Pandemie bei mir in NRW zumindest völlig unter aller Kanone war.

Alles eine Frage des Ziels?

Bevor ich mich in die Daten stürze und mit Schlussfolgerungen um mich werfe, gibt es noch einen ganz anderen Aspekt, der leider von der Regierung oft unbeantwortet blieb. Ein Problem in der Kommunikation während der Pandemie war aus meiner Sicht, dass niemand wusste, was eigentlich das Ziel ist. Chinas „Zero-Covid“ Strategie ist zwar nicht erfolgreich, aber das Ziel, keinerlei Coronafälle mehr im Land zu haben, ist glasklar kommuniziert (Quelle).

Bei uns war nie so recht klar, wohin die Reise geht. Während das Ziel anfangs vorwiegend „Flatten the Curve“ hieß, waren die Maßnahmenmixe nicht auf vollständige Eindämmung bedacht. Das war aus meiner Sicht auch damals bereits ein Fehler. Das Argument für eher bedachte und eingeschränkte Maßnahmen waren unsere Freiheitsrechte und der Schaden für die Wirtschaft. Bereits 2012 haben Modellstudien allerdings nahegelegt, dass es rein wirtschaftlich nur zwei Formen von Social Distancing geben kann, die erfolgreich sind.

Entweder eine nahezu vollständige, vorsichtige Einschränkung – also ein wirklicher Shutdown mit Ausgehverbot, welchen wir nie hatten – oder aber gar keine Einschränkungen. In einer Modellanalyse von Savi Maharaj & Adam Kleczkowski (Quelle) wurde daher nahegelegt: Macht es richtig, oder gar nicht. Wir haben uns für den deutlich schlechteren Mittelweg entschieden, der weder die epidemische Verbreitung noch die wirtschaftlichen Schäden besonders gut auffangen konnte. Unter der Maßgabe, dass wir in Europa allerdings ohnehin vernetzt sind, ist sowieso fraglich, wie ein kompletter, harter Shutdown hätte umgesetzt werden können.

„Auf Sicht fahren“

Während der Pandemie haben unsere Politiker selten Ziele formuliert. Vielfach wurde gesagt, man müsse „Auf Sicht fahren“. Es wurde öffentlich weder ein Endziel formuliert, noch eine Linie gezogen, welcher Schaden an welcher Stelle als verkraftbar hätte gelten müssen. Dieser Mut fehlte leider vollständig. Es ist noch etwas zu früh, eine umfassende Bewertung abzugeben. Sieht man sich jedoch diejenigen Länder an, die frühzeitig strikte Maßnahmen nutzten, beispielsweise Japan, Südkorea, Taiwan, Neuseeland oder Australien, so zeigt sich eine um den Faktor fünf verringerte Sterblichkeit (Quelle). Und das, obwohl in den späteren Wellen dank der Infektiösität der Omicron Varianten die Fallzahlen deutlich anstiegen.

Das war nicht das erste Mal in der Geschichte, dass wir solch eine Verteilung beobachten konnten. Die National Geographic Redakteurin Susan Gold titelte in ihrer Einleitung zu einer Ausgabe über die Pandemie über die vergessenen und ignorierten Lektionen früherer Pandemien. (Quelle) In der gleichen Ausgabe beschrieb Richard Conniff den Werdegang verschiedener vorheriger Pandemien, welche Lektionen die Menschheit daraus zog und dann, wie schnell diese Lehren wieder vergessen waren. (Quelle)

Maßnahmen zu spät umsetzen und zu früh aufheben

Ein Muster bereits während der spanischen Grippe war es, dass einige Maßnahmen viel zu spät umsetzten und dann viel zu früh wieder aufhoben. (Quelle) So untersuchten Martin Bootsma und Neil Ferguson 2007 die Effekte von Maßnahmen in verschiedenen Städten der USA während der Zeit der 1918 Influenza. (Quelle) Das Ergebnis war eindeutig: Wenn eine Stadt zu spät mit Einschränkungen begann oder zu früh dran war mit dem Aufheben, war der Schaden deutlich größer im Vergleich zu Städten, die früher und länger unterwegs waren. Auch Analysen der gegenwärtigen Coronapandemie haben bereits die Bedeutung des richtigen Timings gezeigt. Auch wenn der Schaden nicht komplett abgewendet werden konnte, konnten kurzfristige Lockdowns die Spitzenbelastung der Gesundheitssysteme etwas abfedern.

Unsere Regierung hat keines dieser Ziele im Detail formuliert. Die Phrase „auf Sicht fahren“ haben wir hingegen vielfach gehört, von Politikern, Soziologen und Virologen gleichermaßen. Vage Ziele wie „flatten the curve“ oder „den Zusammenbruch des Gesundheitssystems“ verhindern, waren das Einzige, was wir bekamen. Insbesondere wenn man bedenkt, dass das Gesundheitssystem zwar auf dem Papier nicht zusammengebrochen ist und die Zahlen stimmten, die Gründe dafür aber vor allem im kreativen Management auf den Intensivstationen lagen. Wer Gespräche mit Pflegekräften geführt hat, lernte etwa das Wort „Jokerpatienten“ kennen.

„Jokerpatient“ – ein Patient, der eigentlich auf die Intensivstation gehört

Das ist ein Patient, der eigentlich auf die Intensivstation gehört. Beim Schichtwechsel werden aber diejenigen identifiziert, die man am ehesten auf einer Intermediate Care oder Normalstation verlegen könnte, wenn noch gefährdetere Patienten eintreffen. Auf diese Weise bleiben die Zahlen der Intensivstationen künstlich unten, während das Personal trotz allem völlig auf dem Zahnfleisch läuft. Wir sehen also auch hier: Ein Ziel zu haben, erfordert auch, dass wir dieses Ziel korrekt messen können. Denn ansonsten ist ein Wert, wie die Belegung der Intensivstationen, nicht viel wert.

Ein weiterer Faktor, den wir nicht vergessen dürfen, ist die Einschränkung verschiedenster Personen, die vulnerabel gegenüber Infektionen sind. „Risikogruppen schützen“ war ein Slogan vieler Kritiker der Maßnahmen. Es ist jedoch fraglich, wie das möglich sein soll. Um diejenigen wirklich zu schützen, die gegenüber dem Virus vulnerabel sind, müssten wir sie vollständig isolieren. Dazu gehören dann auch die Eltern und Geschwister gefährdeter Kinder und Pflegekräfte, die wiederum entweder mit ihren Familien oder aber von ihren Familien isoliert würden. Egal, wie man es dreht und wendet, eine solche Umsetzung ist in großem Maßstab kaum denkbar und vermutlich wenig erfolgreich. Dennoch dürfen wir nicht vergessen, dass die Pandemie gerade für sogenannte Schattenfamilien, die sich aufgrund der Vorerkrankung eines Mitglieds bereits selbst isolieren, eine besondere Belastung darstellt.

Das neue Gesetz

Damit kommen wir zum Problem der Impfpflicht und Lockerung von Maßnahmen. Auch hier war von keiner der Parteien ein wirkliches Ziel formuliert. Justizminister Buschmann sagte jedoch etwas, dass ich teile. Wer ein Verbot in einem Rechtsstaat formuliert, eine Freiheit einschränkt, muss diese auch begründen (Quelle). Diese Begründung muss aus meiner Sicht zumindest aber auch belastbar sein. Die bloße Behauptung, eine Maßnahme schütze uns, sollte da nicht ausreichen, denn sie würde dem Missbrauch Tür und Tor öffnen. Ohne ein Ziel formuliert zu haben, was eine Maßnahme erreichen soll, ist es aber unmöglich, diese zu bewerten.

Daher komme ich nicht umhin, diese Ziele selbst zu formulieren. Und tue mich genauso schwer damit, wie die Politiker. Deswegen formuliere ich eine Reihe von Zielen um am Ende des Artikels ein Gefühl dafür zu haben, was realistisch ist und was nicht. Zum Zeitpunkt dieses Satzes kann ich zumindest sagen, dass ich das Endergebnis noch nicht kenne. Mir war es wichtig, meine Ziele zuerst zu formulieren, diese ersten Sätze zuerst zu schreiben, bevor ich mir die Evidenz und Literatur ein weiteres Mal ansehe. Auf diese Weise reduziert sich der Einfluss des Endergebnisses auf den Text so gut es geht.

Nach der Durchsicht einiger der Studien, die sich mit ökonomischen Folgen befasst haben, gebe ich jedoch nun direkt das Ziel auf, eine Aussage über wirtschaftliche Auswirkungen zu machen. Für eine solche Analyse fehlen mir schlichtweg die Werkzeuge und Expertise.

Welche Ziele könnten Impfpflicht und Maskenpflicht verfolgen? Versuchen wir es mit folgenden:

  1. Einem vollständigen Ende der Pandemie. Eine Reduktion der Fallzahlen gegen null.
  2. Das Erreichen einer Herdenimmunität
  3. Eine signifikante Reduktion der Fallzahlen, um mindestens die Hälfte pro Saison.
  4. Eine signifikante Reduktion der Coronatoten in allen Altersklassen um 50 %
  5. Einen signifikanten Schutz von Risikogruppen, von mindestens 50 %
  6. Eine Reduktion der Inanspruchnahme des Gesundheitssystems um mindestens 50 %

Es gibt keinen objektiven Grund, warum ich die 50 % gewählt habe, außer dass es einer Halbierung entspräche. Dennoch wäre sicherlich eine Halbierung nicht nur möglich, sondern wünschenswert. Vergleichen wir Südkorea und Taiwan mit unseren Zahlen, so sehen wir zwar ähnliche Fälle pro Million Einwohner, doch nur ein Fünftel der Toten (Quelle, Quelle, Quelle). Ganz so unrealistisch scheint mir meine Wahl daher nicht.

Die Effektivität des Impfstoffs

Um die Wirksamkeit der Impfpflicht zu bewerten, kommen wir nicht umhin, auch die Wirksamkeit des Impfstoffs selbst zu bewerten. Dazu ein wenig Nomenklatur und ein Exkurs über die Varianten. Die Impfstoffe wurden auf Basis des Wildtyps entwickelt, über die Zeit gab es jedoch eine Vielzahl Varianten. Die Website Covariants, die Virusvarianten auf der Basis der Nextstrain Klassifizierungen identifiziert und überwacht, beschreibt inzwischen bereits 26 verschiedene Varianten von SARS-CoV-2. Darunter die in unserem Sprachgebrauch bekannten Beta, Delta und Omikron Varianten. (Quelle)

Diese unterscheiden sich unter anderem in zwei entscheidenden Werten: Der Reproduktionsgeschwindigkeit und dem Widerstand gegenüber den Impfstoffen. Die Kennziffer R beschreibt, wie viele Personen jemand mit dem Virus im Durchschnitt ansteckt. Eine Zahl unter 1 sagt uns: Die Pandemie endet, es werden weniger Fälle. Die R Ziffer berücksichtigt jedoch auch bereits den Effekt von Maßnahmen und Impfstoffen. Die Kennziffer, die für uns eine Bedeutung hat, ist somit die sogenannte Basisreproduktionszahl, genannt R0. (Quelle)

R0 ist die Zahl, mit der wir rechnen können, wenn ein Virus sich in einer Gesellschaft ohne vorherigen Kontakt und Immunität ausbreitet. Für eine Influenza liegt dieser Wert meist zwischen bis zu ca. 2 angegeben. Auch die Grippepandemie 2018 wies eine R0 geschätzt zwischen 2 und 3 auf. Masern hingegen sind ein ganz anderes Biest, ihr Wert wird zwischen 12 und 18 vermutet. Das bedeutet, dass ein einzelnes Kind mit Masern statistisch in kürzester Zeit 12-18 Personen ansteckt. Ein einzelner, flüchtiger Kontakt reicht bereits aus. SARS-CoV-2 ist da variabel. Das Wildtyp-Virus wurde mit einer R0 von ca. 2-3 eingeschätzt. (Quelle). Bereits die Alpha Variante war jedoch bis zu 90 % schneller in seiner Verbreitung. (Quelle) Die Delta-Variante und Omikron-Variante zeigten dann bereits Verbreitungsgeschwindigkeiten, anhand derer man eine R0 von 7 und 9.5 errechnete. (Quelle, Quelle)

Herdenimmunität

Diese Zahlen brauchen wir, da sie eine entscheidende Größe darstellen. Unter Herdenimmunität verstehen wir das Konzept, dass wenn ein großer Teil einer Population immun gegen einen Erreger ist, dieser sich innerhalb dieser Gruppe nicht mehr oder nur sehr gering verbreiten kann. Impfungen dienen meist dem Ziel, Herdenimmunität in einer Gesellschaft zu erreichen. Die einzige Krankheit, die wir bisher ausrotten konnten, sind die Pocken. Herdenimmunität haben wir jedoch für viele Kinderkrankheiten, wie Polio, Masern, Scharlach oder Windpocken erreichen können. Durch Impfstoffe.

Um den Zustand von Herdenimmunität zu erreichen, brauchen wir eine Mindestmenge an Personen, die immun sein müssen. Um diese zu berechnen, gibt es zwei Formeln. Die erste Formel, das Basis-Modell, berechnet unter der Maßgabe von 100 % Effizienz den nötigen Anteil immuner Personen an der Bevölkerung.

Es wird mit HImin = 100 – (100/R0) beschrieben. Es bedeutet, je höher R0, desto höher muss auch die Schwelle an Personen sein, die immunisiert sein müssen für einen Herdenschutz. Für die Pocken reichten bei einer R0 von 6 bis 7 dann beispielsweise 83-86 % der Bevölkerung aus. Die Pockenimpfung gab, soweit wir bis heute wissen, eine lebenslang andauernde Immunität. Bei Masern frischen wir den Impfstoff auf, man geht aber von einer lebenslangen Immunität nach zwei Impfungen aus.

Bei der Grippe z.B. nicht so einfach

Und bei anderen Krankheiten, wie der Grippe, ist es nicht so einfach. Hier mutieren die Viren so schnell, dass der Körper sie auch nach der Impfung oft nicht mehr erkennt, so muss jedes Jahr eine neue Dosis eines neuen Impfstoffs eingesetzt werden, wobei sich mit der Zeit aufgrund der Ähnlichkeit der Viren ein gewisser langlebiger Schutz zumindest vor schweren Verläufen einstellt.

Bei SARS-CoV-2 stoßen wir nun aber auf zwei Probleme. Das erste Problem ist die Variabilität des Impfschutzes gegen verschiedene Varianten. Das zweite Problem ist die Dauer des Impfschutzes.

Die Effektivität eines Impfstoffs wird in einer zweiten Formel bewertet. Hier nutzen wir den sog. Effektivitätsfaktor E in unserer Formel. Dann bekommen wir die Formel Dmin = HImin / E. Die Schwelle, an der wir Herdenschutz erreichen, wird also mit der Effektivität des Impfstoffs geteilt. Da es hier nur noch um SARS-CoV-2 geht, spielen wir das in einer Tabelle mal mit den jeweiligen angegebenen Zahlen für die verschiedenen Varianten durch.

Die Varianten haben das Ziel verschoben

Hier berechnen wir nun für verschiedene Effektivität des Impfstoffs die nötige Menge Personen für ein Ende der Verbreitung auf Basis von R0. Die rot gekennzeichneten Werte sind diejenigen Fälle, bei denen über 100 % erreicht werden. Oder kurz: Ein Herdenschutz ist hier rechnerisch nicht denkbar. Alle grün gekennzeichneten Felder zeigen eine rechnerische Möglichkeit eines Herdenschutzes gegen die Infektion. Wer genau hinsieht, sieht ganz unten links zwei Zahlen, die am Anfang der Impfkampagne im Raum standen. Wenn bei 95 % Effektivität 70 % erreicht worden wären, würde die Pandemie enden.

Alpha, Beta, Delta und Omikron-Variante haben dieses Ziel jedoch immer wieder verschoben. Wir müssen jedoch offiziell feststellen, dass Wildtyp und Alpha Variante keine Rolle mehr spielen und auch die Deltavariante inzwischen nahezu vollständig verdrängt wurde. Ein Blick auf die Länderübersicht von Covariants zeigt, Omikron ist die beherrschende Variante, weltweit. Vor allem Variante BA.2 und die nun in den USA immer wieder auftretende Sondervariante von BA.2, BA.2.12.1. Letztere scheint sich hauptsächlich durch eine stärkere Umgehung der bestehenden Immunabwehr auszuzeichnen. Das ist unter Berücksichtigung der obigen Tabelle schlicht ein Super-GAU. Denn ein Herdenschutz ist bereits bei 90 % Effektivität des Impfstoffs gegen Verbreitung nicht mehr möglich.

Effektivität der Impfung?

Ebendarum kommen wir jetzt zur Effektivität. Aufgrund der Zahlen ignoriere ich die Frage, ob eine Doppelimpfung oder Boosterimpfung Sinn ergibt. Gehen wir direkt zu einer Studie, die sich mit der Frage der vierten, also der zweiten Boosterimpfung beschäftigt hat. (Quelle) In der Studie wurden 1050 Personen mit einer vierten Dosis geimpft. Sie wurden dann beobachtet und waren durch ihre Arbeit im Gesundheitswesen SARS-CoV-2 ausgesetzt. In der Kontrollgruppe wurden 25 % symptomatisch krank, in der Biontech Gruppe waren es 18,3 % und 20,7 % in der Moderna Gruppe.

Die Forscher bemängeln zwar in der Studie die kleine Größe, geben aber einen Schutz vor Infektion von nur 11 % und 30 % an. Da viele der Teilnehmer sehr hohe Virenlasten hatten, unterschieden die Forscher nochmals in symptomatische und asymptomatische Erkrankte. Der Schutz von einer symptomatischen, wahrgenommenen Erkrankung lag dann bei 30 %und 43 %. Aufgrund der kleinen Studiengröße für eine Schätzung dieser Art haben die Autoren ihre Schätzung einer maximal möglichen Effektivität der Impfstoffe bei 65 % abgegeben. Die Studie zeigte, dass die Boosterimpfung mit maximalen Titerzahlen einhergeht und dass die vierte Impfung diese wieder auf den Stand des Boosters bringen konnte.

Eines muss aber hier bereits klar sein: Meine ersten beiden Ziele sind dahin.

Eine Impfpflicht hätte weder ein Ende der Pandemie in Deutschland, geschweige denn weltweit erzeugen können. Eine Herdenimmunität ist ebenfalls völlig ausgeschlossen, da sie erst bei einer Effektivität von 95 % erreicht werden kann für die Omikron-Variante. Ziel 1 und 2 sind nicht erreichbar. Eine signifikante Reduktion der Fallzahlen um 50 % scheint ebenso nicht möglich. Die Zahlen wurden um jeweils ca. 20-30 % reduziert. Dies gilt aber nur für einen kurzen Zeitraum. Wir wissen, dass die Effektivität des Impfstoffs mit der Zeit sinkt und nach einem halben Jahr auf einem Tiefpunkt liegt.

IN einer schwedischen Kohortenstudie sank die Effektivität von 92 % 30 Tage nach der zweiten Impfung auf 47 % für den Biontech Impfstoff und 59 % für den Moderna Impfstoff innerhalb von 120 Tagen. Nach 210 Tagen, etwas mehr als einem halben Jahr, zeigte sich keine signifikante Immunität mehr. (Quelle) Gehen wir somit weiter und nehmen an, die Werte führen sich für die Omikron-Variante so fort, sinkt somit die Effektivität von 65 % auf einen Wert nahe 30 % in nur vier Monaten. Weit entfernt von meiner Reduktion der Fallzahlen um 50 %. Auch Ziel ist damit für die Katz und kann nicht erreicht werden.

Nun müssen wir uns auf die restlichen Ziele verlassen

Die Reduktion von Toten und schweren Verläufen scheint relativ stabil zu sein. Während die Reduktion schwerer Verläufe samt Hospitalisierung Bei Alpha, Beta und Delta-Variante nach der zweiten Impfung bei über 95 % liegt, sinkt dieser Wert bei der Omikron-Variante auf eine Reduktion von 70 % der Hospitalisierung. Gleichzeitig sinkt dieser Wert 10 Wochen nach der Boosterimpfung auf 45 %. (Quelle, Quelle, Quelle)

Ziel 4 und 5 werden damit Wackelkandidaten. Direkt nach den Impfungen könnte tatsächlich eine Reduktion der Coronatoten um 50 % erreicht werden, ausgehend davon, dass wir alle ungeimpft wären. Betreffend der symptomatischen Fälle zeigt sich eine stabile Reduktion der symptomatischen Fälle um 34-37 %. Wenn wir annehmen, dass diese auch weiterhin gilt und auch für Hospitalisierung, würden zumindest schätzungsweise 30 % aller Coronatoten verhindert werden können, mit einer allgemeinen Impfpflicht.

Dazu müssen wir uns allerdings zunächst ansehen, wer eigentlich an Corona stirbt. Statista hat die Zahlen des Robert Koch-Institutes nach Altersgruppen sortiert:

Effektivität der Impfstoffe nimmt auch mit dem Alter ab

Es wird ersichtlich, dass 84,68 % aller Coronatoten über 60 Jahre alt sind. 94,5 % sind über 70 Jahre alt. Und da kommen wir zu einem weiteren Problem. Die Effektivität der Impfstoffe nimmt auch mit dem Alter ab. Studien mehrerer Zentren in Europa kommen zu dem Schluss, dass während der Delta-Periode Comirnaty von Biontech einen Schutz von 91 % bei Menschen zwischen 30 und 49, aber nur 55 % bei Menschen über 80 vor einem Todesfall zeigte (Quelle, Quelle). Der AstraZeneca Impfstoff zeigte sich jedoch mit dem Alter stabil, mit 79 % Schutz. (Quelle) Das englische Gesundheitsministerium gibt für Omikron direkt nach der Impfung einen Schutz von 59 % von zwei Dosen nach 25 Wochen und 91 % direkt nach dem Booster an. (Quelle) Daraus können wir ableiten, dass bei Omikron möglicherweise eine Impfpflicht und Boosterpflicht helfen könnte.

Aber nicht so schnell. Sehen wir uns die Daten auf dem Impfdashboard an, dann sind zum jetzigen Zeitpunkt (19.05.2022) 90,9 % der Menschen über 60 bereits geimpft, 80 % sind geboostert und 17 % haben die vierte Impfung erhalten. Wir können also getrost sagen, dass eine allgemeine Impfpflicht keine Totenzahlenreduktion von 50 % erreichen wird. Denn genau genommen haben wir diese bereits erreicht. Mit 80 % geboosterten Personen reduzieren wir die Zahl bereits ohne eine Impfpflicht enorm. 68,2 % der Fälle sind laut einer Statista Analyse über 60 Jahren Impfdurchbrüche. (Quelle) Bei diesen sehen wir nun eine Reduktion. Die amerikanische CDC hat die Wirkung der Impfung auf Todesfälle während der Omikron und Delta-Pandemie untersucht. (Quelle) Im Ergebnis zeigte sich eine enorme Auswirkung des Risikos während der Deltaphase. Frisch geboosterte Personen hatten über 65 Jahren eine Reduktion des Risikos, um das 53-fache zu sterben.

Todeszahlen über 65 machen mehr als 90 % aus

8 gegenüber Personen ohne Booster Dosis. Beziehen wir das auf unsere Fälle über 65, könnten wir möglicherweise die Todeszahlen über 65, die mehr als 90 % ausmachen, tatsächlich noch senken. Das Problem dabei ist, dass diese Zahlen nicht gut aufbereitet sind. Einen Versuch ist es allerdings wert. In einer Analyse des RKI zeigte sich die Resistenz gegenüber Todesfällen nach Altersgruppen. In der Altersgruppe 18-59 lag bis auf wenige Ausnahmen die Effektivität auch einer Doppelimpfung in nahezu jeder Woche über 90 % (Quelle). Im Bereich 60+ sank diese drastisch, eine Auffrischungsimpfung hingegen beschreibt eine Resistenz gegenüber Tod von 90 %.

Im Schnitt liegt sie allerdings bei ca. 80 %+. Einer Auswertung der Daten bei rbb24 nach sind Geimpfte 43 % der Todesfälle (Quelle). Ebenso belegen sie 34,5 % der Intensivplätze von Covid-Patienten und machen 44.9 % der Hospitalisierung aus. Daraus können wir folgendes schließen. Bei 150 Todesfällen pro Tag, sind 65 nicht verhinderbar. Von den restlichen 85 Fällen in ungeimpften Personen könnten durch eine zweifache Impfung 80 % und durch eine Auffrischungsimpfung 90 % verhindert werden, das entspricht 68-75 verhinderbaren Todesfällen.

Könnte mein Ziel, die Todesrate um 50 % zu senken, somit erreicht werden? Ja. Unter der Prämisse, dass das Coronavirus die besonders vulnerable Population nicht bereits vollständig erwischt hat, könnten wir die Todesziffern tatsächlich mit einer Impfpflicht senken.

Eine Impfpflicht ab 65 würde dafür vollständig ausreichen

Dafür würde keine allgemeine Impfpflicht nötig sein. Eine Impfpflicht ab 65 würde dafür vollständig ausreichen. Wie sieht es mit Risikogruppen aus? Kurzgefasst, ist das schwieriger und schwer zu ermitteln. Wenn wir das Alter herausrechnen, da hier die Impfwirkung am stärksten wirken würde, blieben vulnerable jüngere Personen. Diese sind aber zumeist bereits geimpft und reagieren oftmals nicht auf den Wirkstoff. Gerade immunkompromittierte Personen sind oftmals bereits in Behandlung und werden entsprechend behandelt. Eine Reduktion neben dem Alter halte ich für fraglich, da sie auch mit den 43 % geimpften der älteren Herrschaften korrelieren dürften, die verstorben sind. Da die Pandemie durch die Impfpflicht nicht vollständig eingedämmt werden kann, mache ich an dieses Ziel ein Fragezeichen.

Das letzte Ziel ist die Reduktion der Belastung des Gesundheitssystems. Diese ist vorsichtig zu bejahen. Die Reduktion der Hospitalisierung und Intensivstationnutzung durch Coronapatienten liegt in nahezu jeder Altersgruppe für jede Form der Impfung über 50 %. Da die Reduktion bei älteren Personen, die deutlich öfter durch Corona hospitalisiert werden, noch durchaus höher ist, würde eine Impfpflicht insbesondere älterer Personen (wieder mal 65+) die Belastung des Gesundheitssystems eindeutig reduzieren. Eine Impfpflicht für jüngere Menschen hingegen wäre nahezu wirkungslos, da diese einen geringen Anteil an der Hospitalisierung durch Corona ausmachen. Wir müssen bedenken: Nur weil es trotzdem passiert, muss es das System nicht belasten. Belastend ist die Masse der Menschen und diese liegt im Bereich über 60.

Fazit – Nicht alle Ziele werden erreicht

Kommen wir zurück zu meinen definierten Zielen. Einige Ziele können nicht erreicht werden. Ein Ende der Pandemie ist ebenso nicht denkbar wie eine Herdenimmunität. Dazu ist die Effektivität der Impfstoffe zu gering und die Reproduktionsgeschwindigkeit und Immune Escape der Omikron Varianten viel zu hoch. Auch mit einer Impfpflicht hätten wir somit einen „heißen Herbst und Winter.“ Ziel 1 und 2: Leider nicht erreichbar.

Ziel 3 hatte eine Halbierung der Fallzahlen in jeder Saison gefordert. Dies ist schwer zu bewerten. Aufgrund der vielen Impfdurchbrüche und der reduzierten Wirksamkeit der Impfstoffe kombiniert mit einer abnehmenden Wirkung über den Zeitraum nach der Impfung tendiere ich dazu, dieses Ziel anzuzweifeln. Eine Reduktion der Fallzahlen insgesamt um 30-40 % sind hingegen denkbar. Und kein schlechtes Ziel.

Ziel 4 und 5 betrafen die Todesfälle aufgrund einer Coronainfektion. Hier ist es auch trotz Omikron noch denkbar, dass eine Impfpflicht im Bereich älteren Bevölkerung über 60 einen Effekt hat, der durchaus die Zahlen halbieren könnte. Das ist sicher kein Trost für diejenigen, die Angehörige verlieren, ich selbst habe diese schmerzhafte Erfahrung aufgrund einer Atemwegserkrankung bereits vor dieser Pandemie machen müssen. Dennoch ist denkbar, dass die Hälfte der Toten durch Corona vermeidbar wäre.

Ob es sich bei diesen Personen dann um sehr vulnerable Personen handelt, die möglicherweise durch eine andere Infektion sterben, ist eine Frage, die ich nicht beantworten kann. Dazu gibt es aus meiner Sicht keine belastbare Datenlage, nur mehr oder weniger gute Schätzungen in Personenjahren. Diese Dose voller Würmer lassen wir für den heutigen Tag allerdings zunächst zu. Fakt ist, für ältere Personen könnte man die Todeszahlen vermutlich halbieren. Ob dies für andere vulnerable Personen gilt, wage ich allerdings leider zu bezweifeln, insbesondere da diese meist ohnehin schon geimpft sind.

Impfpflicht ab 60 hätte einen Effekt gehabt

Klar bejahen lässt sich jedoch das letzte Ziel. Eine massive Reduktion der Kosten und Belastung des Gesundheitssystems ist durchaus denkbar. Allerdings auch hier mit der Einschränkung, dass es sich um die Altersstufe über 60 handelt. Eine Impfpflicht BIS 60 Jahre hätte einen kaum spürbaren Effekt.

Das Fazit des Artikels lautet somit: Einige Ziele könnten, andere wiederum nicht erreicht werden. Das Argument, die FDP würde Menschen mit einer Durchseuchungsstrategie verletzen, kann ich bisher nicht gelten lassen. Dafür wären die beiden ersten Ziele maßgeblich und diese können nicht erreicht werden. Aufgrund der hohen R0 und der vergleichsweisen niedrigen Effektivität ist eine Durchseuchung egal wie, leider unvermeidbar, solange wir keine sehr drastischen Maßnahmen umsetzen wie bspw. China. Aber auch das autoritäre Regime dort schafft es nicht, mit Shutdowns ganzer Städte bei einem einzigen Fall die Verbreitung zu stoppen.

Es gibt keine Durchseuchung, die passiert, egal, was wir tun

Wir müssen daher enttäuschenderweise anerkennen: Es gibt keine Durchseuchungsstrategie, diese passiert, egal, was wir tun. Das haben wir versaut im Jahre 2020, als die Varianten noch eindämmbar waren. Eine deutliche Entschärfung und eine Eindämmung lassen sich so nicht erreichen. Was die Todeszahlen angeht, muss man sich dann die Frage stellen: Wenn sich die Pandemie sich nicht eindämmen lässt, sollten wir Personen über 60 Jahren zwingen, sich zu impfen, um selbst nicht zu sterben und das Gesundheitssystem zu entlasten?

Ich vermute, an dieser Stelle würden wir dann irgendwann auf den Freiheitsbegriff zurückkommen. Wie man diese Frage am Ende beantwortet, ist natürlich eine individuelle Entscheidung. Ich für mich kann diese jedoch mit einem Nein beantworten. Auch wenn es wünschenswert wäre, halte ich diesen Zwang, da er die Zwangslage nicht beenden kann, für nicht gerechtfertigt. Auch wenn die Eigenschaften positiv sein könnten. Das hält allerdings niemanden davon ab, sich impfen lassen zu können. Ich habe das genau wie 85,1 % der erwachsenen Bevölkerung bereits getan.

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