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Massenradikalisierung: Ich war undercover bei Querdenkern, Incels & Co.

von | Mrz 29, 2023 | Analyse

Gastbeitrag von Julia Ebner

2023 ist nicht 2020. Vor drei Jahren standen wir am Beginn der Pandemie. COVID-19, der Ukrainekrieg, die Wirtschafts-, Inflations- und Energiekrise – seit Anfang 2020 durchlebten wir eine historische Krise nach der anderen. Aus den Geschichtsbüchern wissen wir, dass frühere Krisen (die Pest im 13. Jahrhundert oder Choleraausbrüche im 19. Jahrhundert) Verschwörungsmythen und Hass auf Minderheiten befeuert haben. Daher verwundert es nicht, dass Extremisten und Verschwörungstheoretiker im Kampf gegen den Status Quo mehr Raum in der vielschichtigen Krisenlandschaft der letzten Jahre einnehmen.

Als Wissenschaftlerin und Investigativjournalistin, die seit 2015 zu Radikalisierung und Extremismus forscht, war es erschreckend zu beobachten, wie stark sich extremistische Ideen im Laufe der letzten Jahre ausbreiten und ganz neue Bevölkerungsschichten erreichen konnten. 2018 beschrieb ich die sich ausbreitende Wut (in meinem gleichnamigen Buch) in Reaktion auf dschihadistische Terroranschläge, die zu einem rechtsextremen, xenophoben Backlash führte. 2019 erforschte ich für mein Buch Radikalisierungsmaschinen, wie die sozialen Medien extremistischen Gruppen neue Möglichkeiten für Rekrutierung, Mobilisierung und Angriffe eröffneten.

Massenradikalisierung auch jenseits von Randgruppen

Die Wut und die Radikalisierungsmaschinen sind noch da. Doch heute sind wir meilenweit von der damaligen Realität entfernt. Anfälligkeit für radikale Narrative und Verschwörungsmythen betrifft nicht mehr nur Randgruppen. Das wachsende Misstrauen in die etablierten politischen, medialen und wissenschaftlichen Institutionen hat unsere Gesellschaft nachhaltig destabilisiert. QAnon-Ideen zu Impfstoffen und globalen Eliten, White Lives Matter als Gegenbewegung zu BLM, Klimawandelleugner in Rebellion gegen die Klimabewegung, Frauenfeinde und anti-LGBTQ Aktivisten, die gegen liberale Politik protestieren sind nur einige Beispiele.

Diesen Themen widme ich mich in meinem neuen Buch Massenradikalisierung, das in erster Linie fragt, wie extremistische Ideen bis in die Mitte unserer Gesellschaft vordringen. Massenradikalisierung war mein bisher herausforderndstes Buch. Es ist enorm viel Recherche in eine ganze Bandbreite an Themen geflossen, die einerseits hochkontrovers sind und andererseits fast täglich mit neuen Ereignissen aktualisiert werden könnten. Ich habe zum Teil wieder verdeckt recherchiert und – wie schon in meinen letzten Büchern– Feldstudien, Interviews, Online-Investigationen und Analyse zusammengeführt.

Hass und Hetze im Radio und bei Lesungen

Wie kontrovers, emotional und polarisierend die behandelten Themen sind, bestätigte sich bereits in den ersten Tagen nach Veröffentlichung. Bei meinem ersten Live-Interview zum Buch mit dem österreichischen Radiosender Ö1 musste ich mich gleich von einem verärgerten Anrufer vulgär beschimpfen lassen. Für Nicht-Österreicher muss ich dazusagen, dass Ö1 der Hauptsender des Österreichischen Rundfunks für Kultur und klassische Musik ist und ein dementsprechend zivilisiertes Gesprächsklima pflegt.

„Sie können sich Ihr Buch den Arsch hochschieben“ war auf diesem Sender vermutlich eine bis dato nicht gehörte Obszönität. Zunächst beteuerte der Anrufer, die Covid-Proteste seien alle friedlich verlaufen und er verstehe nicht, wie man sie als radikal darstellen könne. Im nächsten Atemzug beschimpfte er mich bereits auf Basis meines Geschlechts, meines Alters und meines internationalen Backgrounds und beschrieb mich als Propagandaorgan der globalen Eliten. Würde ich als nicht-weiße oder queere Person gelesen, hätte ich in dieser Situation mit Sicherheit noch viel schlimmere Ausfälligkeiten abgekriegt. 

Gleich bei der zweiten Station meiner Buchtour in Wilhelmshaven saßen drei Querdenker im Publikum. Ihre Wortmeldungen bestanden aus Hetze gegen die etablierten Medien und demokratische Institutionen, sie zogen Vergleiche von Covid-Politik und Medienberichterstattung zum Nationalsozialismus. Im Publikum brach ein Streit aus, der Moderator musste energisch eingreifen. Sogar die Lokalzeitung berichtete: „Es gab richtig Krach.“

Auch die Mitte der Gesellschaft wird anfällig für radikale Ideologie

Die Vorfälle beim Interview und bei der Lesung betrachte ich als Live-Aufführungen eines in meinem Buch beschriebenen Grundprinzips: Mainstreaming extremistischer Ideen und Hyperpolarisierung. Mit „Mainstreaming“ meine ich, dass auch die bürgerliche Mitte anfällig für extreme Ideen und Verschwörungsmythen geworden ist. Das fiel mir wiederholt bei meinen Undercover-Recherchen auf – egal ob in den Kreisen von Klimawandelleugnern, Frauenfeinden oder der Neuen Rechten, ob bei Querdenker-Demos oder radikalen pro-Putin Protesten.

Unter „Hyperpolarisierung“ verstehe ich eine identitätsbasierte Spaltung unserer Gesellschaft, die eine extrem stark ausgeprägte Gruppenzugehörigkeit und damit einhergehend die Einteilung der Welt in „wir“ und „sie“ entstehen lässt. Die schleichende Polarisierung zusammen mit der Erosion der Mitte bedrohen unsere Demokratie. Die extremen Ränder können so ihre Ideologien, Visionen und Weltanschauungen effektiver weiter verbreiten. Auf dem Spiel stehen lange erkämpfte Rechte von Minderheiten genau wie demokratischen Grundprinzipien, nichts weniger.

Foto: Julia Ebner

Der Sturm auf das Kapitol, mit dem ich das Buch einleite, war ein klarer Angriff auf das Herz der U.S.-Demokratie. Ich konnte die Online-Chatverläufe der Organisatoren und Unterstützer mit den Offline-Ereignissen beim Kapitol verknüpfen und feststellen, dass die Bewegung viel größer ist als die ungefähr 2,000 Randalierer, die vor Ort waren. Auch Studien der University of Chicago zeigen, dass etwa 21 Millionen Amerikanerinnen und Amerikaner die Bewegung hinter der Erstürmung des Kapitols unterstützen.

Die demokratiefeindlichen Entwicklungen in Deutschland sind denen in den USA nicht unähnlich: Ob versuchter Sturm auf den Reichstag 2020 oder der geplante Reichsbürger Putsch 2022. Auch wenn diese Versuche zum Scheitern verurteilt waren und teilweise als lächerlich abgetan wurden, ihre Bedeutung sollten wir nicht unterschätzen. Sie stehen für ein größeres Phänomen: die schleichende Skepsis gegenüber demokratischen Institutionen. Um auf die Frage des Titels zurückzukommen: Niemand garantiert die Demokratie.

Massenradikalisierung verhindern? Das können wir alle!

Doch wir alle können sie schützen. Als Wähler und Aktivisten können wir die Politik dazu bewegen, bessere Bildungsangebote an der Schnittstelle von Psychologie und digitalen Medien zu erarbeiten. Und als Tech-Konsumenten und Social Media-Nutzer können wir von den digitalen Medienplattformen verlangen, proaktiver gegen gefährliche Verschwörungsmythen und systematische Desinformation vorzugehen. Als digitale Bürger können wir im Netz Zivilcourage in Reaktion auf antidemokratische Stimmen zeigen. Und als Bekannte und Verwandte können wir versuchen, die psychologischen Bedürfnisse zu verstehen, die Menschen aus unserem unmittelbaren Umfeld zu demokratiefeindlichen Einstellungen treibt.

Julia Ebner forscht am Institute for Strategic Dialogue und an der University of Oxford. Das neue Buch der SPIEGEL-Bestseller Autorin heißt Massenradikalisierung: Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt und ist im März 2023 bei Suhrkamp erschienen.

Artikelbild: Antonio Olmos