IMMER MEHR. IMMER SCHLIMMER?
von Tobias Wilke
Am Dienstag präsentierten Bundesinnenminister Horst Seehofer und Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang den Verfassungsschutzbericht 2020. Die größte mediale Aufmerksamkeit erhielten die Steigerungsraten beim sogenannten „Extremistischen Personenpotenzial“ und bei den Straftaten, vor allem den „extremistischen Gewaltdelikten“.
In der BILD sind „linksextremistische Gewalttaten“ seit dem Berichtsjahr 2019 um +34,3 % gestiegen. Der Tagesspiegel bezeichnet diese nachweislich unpassend als „Angriffe“ und nennt sogar eine Steigerungsrate von +45 %. Der Autor hat allerdings die schon zuvor veröffentlichte PMK-Statistik des Bundeskriminalamts mit den Extremismuszahlen des Verfassungsschutzes verwechselt, welche aber nur eine Teilmenge der „Politisch Motivierten Kriminalität“ darstellen.
Politische Motivation und Extremismus
Die mögliche „Politische Motivation“ einer Straftat wird zu Beginn der Ermittlungen erfasst, also gleich nach der Erstellung einer entsprechenden Anzeige. Die PMK ist somit – anders als die Polizeiliche Kriminalstatistik – eine sogenannte Eingangsstatistik. Nur in Ausnahmefällen kann die politische Weltanschauung von Tatverdächtigen beurteilt werden, weil zu diesem Zeitpunkt meistens noch gar keine Tatverdächtigen ermittelt werden konnten.
Hinzu kommt: Der oder die Beamte muss diese mutmaßliche Motivation einer Straftat auch sehen wollen. Als im thüringischen Langenorla ein Mann eine Hakenkreuzflagge aus dem Fenster hängte, wollte die Polizei zunächst nicht über „subjektive Tatbestandsmerkmale spekulieren“. Diese Ausrede ist vollkommen grotesk: Solche Spekulationen sind ein wesentliches Merkmal bei der PMK-Erfassung!
Ein Teil der Delikte aus der PMK-Statistik bekommt einen zusätzlichen Vermerk für einen möglichen extremistischen Tathintergrund. Auch das sind keinesfalls allesamt „aufgeklärte Straftaten“. Der Unterschied liegt nicht unbedingt in der Schwere der Tat, sondern bspw. auch an deren Ziel. So wird ein mutwillig beschädigtes Wahlplakat der NPD als „PMK-Links“ eingestuft, ein gestohlenes AfD-Plakat aber darüber hinaus auch als „Linksextremistisch“, weil die AfD im Bundestag vertreten ist.
„Nur“ ein Mord mit neun Opfern
Das größte Problem bei Steigerungsraten von Gewaltdelikten: Es werden Gesamtzahlen verglichen, die sich allerdings aus äußerst unterschiedlich schweren Delikten zusammensetzen.
Die Bandbreite reicht vom Widerstandsdelikt (dazu später) oder dem Versuch, einem Polizeibeamten einen leeren Milkshakebecher an den Helm zu werfen, bis zum neunfachen rassistisch motivierten Mord in Hanau. Auch Letzterer wird allerdings nur als genau eine Gewalttat gezählt. Wenn also in einem Themenfeld (Links- oder Rechtsextremismus, Reichsbürger, religiöse oder ausländische Ideologie) die Gesamtzahlen verglichen mit dem Vorjahr steigen oder fallen, sagt das zunächst herzlich wenig darüber aus, ob die Gewalt schlimmer oder „besser“ geworden ist.
Genausowenig lässt sich anhand dieser Gesamtzahlen beurteilen, ob mutmaßliche Links- oder Rechtsextremisten gewalttätiger waren. Die beiden entsprechenden Tabellen zu links- bzw. rechtsextremistischen Gewalttaten im Verfassungsschutzbericht 2020 sehen wie folgt aus:
Ohrfeigen für diese Statistik
Die Zusammenfassung der unterschiedlichen Körperverletzungsdelikte (v. a. einfach, schwer, gefährlich, jeweils inklusive Versuchen) erschweren solche Vergleiche zusätzlich. Angenommen im Vorjahr gab es 500 vollendete schwere Körperverletzungen, die Opfer erlitten also bleibende Schäden. Im Folgejahr hingegen wurden 750 „missglückte“ Ohrfeigen als versuchte einfache Körperverletzungen erfasst, es gab also nicht einmal Blessuren.
Wäre es dann wirklich sinnvoll, von einer „Eskalation der Gewalt“ zu sprechen, nur weil die Gesamtzahl der erfassten Gewaltdelikte binnen Jahresfrist um +50 % gestiegen ist? Wohl kaum.
Welche „Gewalt“-Delikte?
Die Gewalt-Definition bei den Deliktzahlen im Verfassungsschutzbericht geht deutlich über die Definition des BKA in der „normalen“ Kriminalstatistik hinaus. Zahlreiche Straftaten, die beim Verfassungsschutz als „Gewalttaten“ zählen, wären ohne einen vermuteten extremistischen Hintergrund nicht einmal sogenannte „Aggressionsdelikte“.
Straftatbestände der Gewaltkriminalität in der Polizeilichen Kriminalstatistik definiert das BKA unter dem „Summenschlüssel 892000“ folgendermaßen:
Links, zwo, drei, vier!
Mit Abstand am stärksten aufgebläht durch die großzügige Erweiterung des Gewaltbegriffs im Verfassungsschutzbericht werden die Straftaten im Phänomenbereich Linksextremismus.
Zur Verdeutlichung haben wir in der Tabelle des Verfassungsschutzes alle Straftatbestände gestrichen, die laut BKA-Definition in der Polizeilichen Kriminalstatistik weder zur „Gewaltkriminalität“ noch zu den „Aggressionsdelikten“ zählen.
Das Ergebnis: Die ohnehin wenig aussagekräftige Gesamtzahl sinkt somit um 57,3 % auf 528 Delikte. Natürlich ist das ebenfalls keine sinnvolle Gesamtzahl, da auch hier Mordversuche und bspw. versuchte einfache Körperverletzungen genau gleich gezählt werden.
Widerstand zwecklos
Zu den häufigsten „Gewalttaten“ im Bereich Linksextremismus gehören laut Verfassungsschutz Widerstandsdelikte. Also beispielsweise der Versuch, sich aus einem polizeilichen Haltegriff zu befreien oder das Hochfahren der Seitenscheibe während einer allgemeinen Verkehrskontrolle.
Bis 2017 zählten auch Tätlichkeiten (inkl. Versuchen) gegen Vollstreckungsbeamt:innen dazu, diese wurden jedoch nach einer Gesetzesänderung herausgelöst und in den neuen § 114 StGB „Tätlicher Angriff“ überführt. Der ersetzt seitdem in der Kriminalstatistik nach und nach vor allem die einfache Körperverletzung gegen Polizist:innen.
Es handelt sich seit der PKS 2018 bei sämtlichen Widerstandsdelikten nach § 113 StGB also nicht mehr um Gewalttaten gegen Personen, sondern um Straftaten gegen einen staatlichen Vollstreckungsanspruch. Daher zählen sie in der Kriminalstatistik nicht einmal als „Aggressionsdelikt“.
Auffällig: „Tätlicher Angriff“ hingegen fehlt in der „Gewalttaten“-Tabelle des Verfassungsschutzes. Dafür gibt es drei mögliche Erklärungen:
- Der Verfassungsschutz hat die Gesetzesänderung vor vier Jahren noch gar nicht mitbekommen.
- Der Verfassungsschutz zählt „Tätliche Angriffe“ zu den Körperverletzungen. Dann müsste er die reinen Widerstandsdelikte allerdings streichen.
- Der Verfassungsschutz zählt „Tätliche Angriffe“ als Widerstandsdelikte. Dann hat er die Gesetzesänderung nicht verstanden.
Landesfriedensbruch: Krawall ohne „Kloppe“?
Die auffälligste Steigerung bei den „Gewalttaten“ im Bereich Linksextremismus: +345,8 % bei Landfriedensbrüchen. Wie bereits dargestellt, gehören auch diese in der „normalen“ Kriminalstatistik weder zur Gewaltkriminalität noch zu den Aggressionsdelikten.
Selbstverständlich kann es im Rahmen solcher Krawalle auch zu Körperverletzungsdelikten kommen, vor allem gegenüber Polizeibeamt:innen! Das Problem: Ausgerechnet in einer Fußnote unter der Statistik zu rechtsextremistischen(!) Straftaten weist der Verfassungsschutz selbst darauf hin, dass sie dann gar nicht als „Landfriedensbruch“ erfasst worden wären, sondern als Körperverletzung!
Kurzum: Der Verfassungsschutz kann im Bereich Linksextremismus überhaupt nur deshalb 321 Landfriedensbrüche als „Gewalttaten“ zählen, weil es dabei gerade NICHT zu angezeigten Körperverletzungen gekommen ist. Das war wohl der Geistesblitz eines Blindgängers.
Rechtsextreme: Kein Problem für die Polizei?
Fast zwei Drittel (62,7 %) der sogenannten „Gewalttaten“ im Bereich Linksextremismus richteten sich laut Verfassungsschutz gegen die Polizei: Überwiegend Widerstandsdelikte, die keine Gewalttaten gegen Personen sind und Landfriedensbrüche, bei denen es keine Körperverletzungen gab.
Die Polizei ist in dieser Auswertung eine von vier möglichen Opfergruppen im Bereich Linksextremismus, inklusive etlicher Mehrfachzählungen.
Und beim Rechtsextremismus? Obwohl dort insgesamt 119 Widerstandsdelikte und Landfriedensbrüche erfasst wurden, gibt es „Polizei“ gar nicht als eigene Opfergruppe! Der NSU-Mord an der Polizeibeamtin Michelle Kiesewetter scheint am Verfassungsschutz ähnlich spurlos vorbeigegangen zu sein wie die massiven Ausschreitungen polizeilich einschlägig bekannter Neonazis gegen Polizist:innen in der Sächsischen Schweiz im April vergangenen Jahres.
Presse und Medien täten also gut daran, Deliktzahlen aus dem Verfassungsschutzbericht bestenfalls mit äußerster Vorsicht zu „genießen“.
Artikelbild: pixabay.com, CC0
Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI.