WELCHER SKANDAL?
Dieser Gastbeitrag von Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel erschien zuerst bei Verfassungsblog
Die Änderung des Volksverhetzung-Paragraphen ein kriminalpolitischer Skandal – tönt es aus Zeitungsberichten, Kommentaren und Tweets. Und das, obwohl sich die neue Regierung ausdrücklich einer evidenzbasierten, wissenschaftlich beratenen und zurückhaltenden Strafgesetzgebung verschrieben hat. Was ist geschehen?
Man darf auch zukünftig Kriegsverbrechen leugnen
Der Deutsche Bundestag hat vor wenigen Tagen den Tatbestand der Volksverhetzung (§ 130 StGB) um einen weiteren Absatz ergänzt. Nunmehr kann mit Geldstrafe oder Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren bestraft werden, wer „eine Handlung der in den §§ 6 bis 12 des Völkerstrafgesetzbuches bezeichneten Art gegen eine der in § 130 Abs. 1 Nr. 1 bezeichneten Personenmehrheiten oder gegen einen Einzelnen wegen dessen Zugehörigkeit zu einer dieser Personenmehrheiten öffentlich oder in einer Versammlung in einer Weise billigt, leugnet oder gröblich verharmlost, die geeignet ist, zu Hass oder Gewalt gegen eine solche Person oder Personenmehrheit aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören.“ Es lohnt sich, den wegen mehrerer Verweisungen komplexen und sprachlich verschachtelten Tatbestand (ganz) zu lesen.
Denn das Ergebnis der Lektüre passt kaum zu den verkürzten und skandalisierenden Tweets und Medienberichten: Auch künftig dürfen nämlich Handlungen, die von den Tatbeständen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und den verschiedenen Formen von Kriegsverbrechen abgebildet werden und die sich gegen eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre ethnische Herkunft bestimmte Gruppe richten, gebilligt, geleugnet und gröblich verharmlost werden, ohne dass die Schwelle des § 130 Abs. 5 StGB überschritten wäre. Die Vorschrift markiert die Strafbarkeitsgrenze erst dort, wo Äußerungen geeignet sind, zu Hass oder Gewalt aufzustacheln und den öffentlichen Frieden zu stören.
Die Volksverhetzung braucht ein “Aufstachelungspotential”
Eine einfache Störung des öffentlichen Friedens, etwa durch eine besonders aufmerksamkeitsträchtige Publikation oder Äußerungsform, reicht also – anders als bei der sogenannten Holocaustleugnung (§ 130 Abs. 3 StGB) – nicht aus. Die Äußerung muss vielmehr ein darüberhinausgehendes Aufstachelungspotenzial haben, sich im Vorfeld des Aufforderns zu Straftaten (§ 111 StGB) bewegen. Anders formuliert, zeichnet sich die Tathandlung nicht so sehr durch die Bewertung vergangener Ereignisse aus, sondern durch eine in die Zukunft und gegen Personen gerichtete Aggressivität. Zugleich muss sie zentrale Kriterien des bereits von § 130 Abs. 1 StGB erfassten Verhalten erfüllen. Liest man § 130 Abs. 5 StGB also bis zum Ende, zeigt sich, dass die Erweiterung der Strafbarkeitszone eher symbolischen Charakter hat, da zusätzliche Einschränkungen die punitive Wirkung größtenteils wieder zurücknehmen. Zu Recht stellt die Gesetzesbegründung selbst die praktische Bedeutung der Novellierung in Frage (BT-Drs. 20/4085, S. 16).
Worin kann also der Skandal liegen? Nach (im Wortsinn) verbreiteter Meinung jedenfalls im Verfahren, das kein ordentliches gewesen sein soll. Tatsache ist, dass § 130 StGB im Wege einer Beschlussvorlage zur Änderung eines Gesetzentwurfes geändert worden ist, nicht durch ein eigenständiges Gesetz zur Änderung des Strafgesetzbuches. Allerdings ist das gewählte Vorgehen nicht neu; es kam schon in anderen Fällen eher kleinräumiger Novellierungen zur Anwendung. Dass eine Ergänzung eines einzigen Tatbestandes zum Gegenstand eines eigenen Änderungsgesetzes gemacht werden müsste, ist rechtlich und gesetzgebungspraktisch ebenso wenig notwendig wie die Anberaumung einer Sachverständigenanhörung. Letztere haben zwar in den letzten Jahren an Häufigkeit zugenommen; eine Pflicht des Gesetzgebers, jede Änderung des geltenden Rechts durch eine Anhörung vorbereiten zu lassen, gibt es aber nicht. Der zuständige Ausschuss kann vielmehr nach politischen und fachlichen Erwägungen entscheiden, wann eine Anhörung sinnvoll ist und wann nicht.
Der Tatbestand bereitet keine verfassungsrechtlichen, wohl aber praktische Schwierigkeiten
Welchen Weg das Parlament auch immer beschreitet, es muss die sich daran entzündende Kritik in Rechnung stellen, aushalten und aus dieser gegebenenfalls Schlüsse ziehen. Wäre die Änderung des § 130 StGB weniger heftig kritisiert worden, wenn sie, sagen wir, um 11 Uhr vormittags nach der Dritten Lesung beschlossen worden wäre, könnten sich die Parlamentarier fragen. Das hängt entscheidend von der Berechtigung der inhaltlichen Kritik ab.
Klar ist, dass der neue Tatbestand in das Grundrecht der Meinungsfreiheit nach Art. 5 Abs. 1 GG eingreift, das alle Meinungen umfasst, „ohne dass es darauf ankommt, ob die Äußerung begründet oder grundlos, emotional oder rational ist, als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt wird.“ (BVerfGE 124, 300, 324.) Klar ist jedoch auch, dass die Meinungsfreiheit per Gesetz eingeschränkt werden kann, wenn dieses Gesetz im Lichte der besonderen Bedeutung der Meinungsfreiheit verhältnismäßig ist. Als legitimes Ziel könnte der Gesetzgeber ins Feld führen, dass eine politische Gemeinschaft, die völkerstrafrechtliche Verbrechen als Taten gegen die Menschheit als Ganze begreift und daher mit den schärfsten Sanktionen belegt, nicht deren öffentliche Billigung, gröbliche Verharmlosung oder Leugnung dulden muss.
Das neue Volksverhetzung-Gesetz *entschärft* ein Verfassungsrechtliches Problem
Auf diese Erwägung kommt es aber wegen der Struktur des Tatbestandes nicht an, da er den öffentlichen Frieden und die bezeichneten Personengruppen vor Äußerungen mit einem besonderen Hass- oder Gewaltpotenzial schützt. Dabei handelt es sich um ein verfassungsrechtlich anerkanntes Ziel: Ein legitimer Zweck, zu dessen Wahrung der Gesetzgeber öffentlich wirkende Meinungsäußerungen begrenzen darf, ist der öffentliche Friede jedenfalls „in einem Verständnis als Gewährleistung von Friedlichkeit (BVerfGE 124, 300, 335.); genau dieses Ziel verfolgt der Gesetzgeber in tatbestandlich deutlich eingeschränkter und damit verhältnismäßiger Weise.
Dass § 130 StGB künftig nicht nur die Leugnung des Holocausts, sondern – unter zusätzlichen Voraussetzungen – auch die Leugnung solcher Handlungen erfasst, die Völkerstraftaten in anderen historischen und gegenwärtigen Kontexten betreffen, ist kein verfassungsrechtliches Problem, sondern entschärft ein solches. Denn bekanntlich darf die Meinungsfreiheit nicht durch Einzelfallgesetze, sondern nur aufgrund eines allgemeinen Gesetzes eingeschränkt werden. Genau aus diesem Grund war der § 130 Abs. 4 StGB, der lediglich die Billigung von nationalsozialistischen Gewalttaten pönalisiert, Gegenstand eines Verfassungsbeschwerdeverfahrens, in dem der Erste Senat die Vorschrift nur knapp hat passieren lassen (BVerfGE 124, 300, 321 ff.). Insofern verliert der Holocaust nur sub specie § 130 StGB seine (verfassungsrechtlich nicht unproblematische) Singularität, keineswegs aber seine historische Einzigartigkeit.
Die Volksverhetzung-Änderung dürfte zunächst kaum Anwendung finden
Der neue Tatbestand schafft also keine Legitimationsprobleme, sehr wohl aber dürfte er Staatsanwaltschaften und Gerichten Anwendungsschwierigkeiten bereiten. Zwar ist es nach der klaren Fassung des Tatbestandes nicht notwendig nachzuweisen, dass ein bestimmtes Geschehen als strafbar (d.h. objektiv und subjektiv tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft) im Sinne der §§ 6 ff. VStGB zu bewerten ist; Bezugspunkt des § 130 Abs. 5 sind nur die in den Tatbeständen beschriebenen Handlungen. Bedeutungslos ist damit auch die Frage der Täterschaft, also die Frage, welche Personen individuell für die Begehung der Taten verantwortlich waren, so dass ein politischer Streit um die konkrete Verantwortlichkeit für ein Geschehen – etwa in Butscha – gerade nicht unter den Auspizien des § 130 Abs. 5 geführt werden muss.
Überhaupt kommt es auf vorherige strafgerichtliche Feststellungen zu den eigentlichen völkerstrafrechtlichen Taten nicht an; schon gar nicht bedarf es einer Verurteilung von Tätern durch den ohnehin nur subsidiär zuständigen Internationalen Strafgerichtshof. Gerade weil es aber häufig an gerichtsfesten Tatsachenfestellungen fehlen wird, dürfte es deutschen Strafrichtern schwerfallen, während eines andauernden Kriegsgeschehen Feststellungen zu treffen, die eine Strafbarkeit nach § 130 Abs. 5 StGB begründen. Je mehr sich aber der Nebel des Krieges lichtet, umso wahrscheinlicher wird es sein, dass Strafverfahren nach § 130 Abs. 5 StGB nicht mit einer folgenlosen Einstellung enden.
Dieser Artikel erschien zuerst beim Verfassungsblog. Autor Prof. Dr. Dr. h.c. Michael Kubiciel lehrt Strafrecht an der Universität Augsburg. Artikelbild: Bernd von Jutrczenka/dpa