Es sollte eine Abrechnung mit Angela Merkel und ihrer Flüchtlingspolitik werden. Genau zehn Jahre nach dem historischen „Wir schaffen das“ der Ex-Kanzlerin im Flüchtlingssommer 2015. Leider wurde es ein Phrasen-Bingo mit völlig falschen Zahlen. In Wahrheit sind zwei Drittel der Geflüchteten heute in Arbeit. So ging das Interview von CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann diese Woche nach hinten los.
Wenn man ihn und seine Zahlen ernstnehmen würde, würde das bedeuten: In den Augen der CDU wäre jede ausländische Fachkraft ein Flüchtling. Denn seine „Rechengrundlage“ umfasst alle Zugewanderten seit 2015, nicht nur Schutzsuchende. Hier die Aussagen im Check.
Fakt 1: Mehr Arbeitsmigranten als Geflüchtete seit 2015
Bei Zuwanderung werden oft viele verschiedene Kategorien in einen Topf geworfen. Doch zwischen Arbeits- und Fluchtmigration muss klar getrennt werden. 6,5 Millionen Eingewanderte gibt es in Deutschland seit dem Jahr 2015. Die Mehrheit von ihnen sind ausländische Arbeits- und Fachkräfte, darunter auch EU-Bürger.
Linnemanns Aussage, dass seit 2015 6,5 Millionen Menschen zu uns gekommen sind, ist also nur richtig, wenn wir Flucht- und Arbeitsmigration zusammenzählen. Doch seine Aussagen waren klar auf Merkels Flüchtlingspolitik bezogen.
Wenn wir über Geflüchtete reden, waren es nicht einmal halb so viele wie Linnemann behauptet. Insgesamt etwa 3 Millionen, davon 1 Million aus Syrien. Und 1 Million aus der Ukraine – die nicht einmal Asylbewerberstatus haben, sondern nach der EU-Massenzustrom-Richtlinie geschützt sind.
Richtig ist, dass 6,5 Millionen mehr Ausländer in Deutschland leben als vor 2015. Aber: 4 Millionen mehr ausländische Arbeitskräfte als noch 2013. Um sie hat Deutschland verzweifelt im Ausland geworben. Und auf sie sind wir immer mehr angewiesen. Die macht der CDU-Generalsekretär mal eben alle zu Flüchtlingen.
Fakt 2: Zwei Drittel der Geflüchteten sind in Arbeit
In Wirklichkeit sind zwei Drittel der Geflüchteten von 2015 in Arbeit, wie eine neue Studie zeigt (64 Prozent). Nach zehn Jahren sind sie etwa so gut am Arbeitsmarkt integriert wie die Gesamtbevölkerung (70 Prozent). Von den geflüchteten Männern arbeiten fast alle (76 Prozent) und damit sogar mehr als der Durchschnitt der männlichen Bevölkerung in Deutschland (72 Prozent).
Linnemann behauptete jedoch, dass weniger als die Hälfte heute in Arbeit sei. Auf Nachfrage der dpa sagt sein Ministerium, er hätte sich auf Zahlen der Bundesagentur für Arbeit bezogen. Diese ermittelte die Beschäftigungsquote von Menschen aus den wichtigsten Asylherkunftsländern, die im Mai 2025 bei 47,6 Prozent lag. Doch diese Quote bezieht sich doch nicht auf alle 6,5 Millionen Zugewanderten seit 2015, von denen – wie wir oben gesehen haben – die Mehrheit Arbeitsmigranten sind! Noch dazu: In dieser Quote sind alle Menschen aus Asylländern enthalten, auch solche, die erst später gekommen sind und noch gar keinen Job gefunden haben können.
Die dpa ging noch einen Schritt weiter und schlüsselte die Zahlen auf, die Linnemann hätte nennen müssen, also die Erwerbstätigenquote ALLER (Arbeits- und Fluchtmigranten zusammengewürfelt) Zugewanderten seit 2015. Sie schreibt:
„Auf dpa-Anfrage schlüsselt das Statistische Bundesamt die Zahlen weiter nach seit 2015 eingewanderten Menschen im erwerbsfähigen Alter auf. Unter ihnen überwiegt die Zahl der Erwerbstätigen die der Erwerbslosen und Nichterwerbspersonen deutlich. Rund 60 Prozent gaben demnach in der Befragung eine Erwerbstätigkeit an, rund 7 Prozent waren erwerbslos und rund 33 Prozent zählten sich zu den Nichterwerbspersonen.“
Übrigens: Erwerbstätigenquote und Beschäftigungsquote ist nicht dasselbe, da die Beschäftigungsquote sozialversicherungspflichtige Beschäftigungen umfasst und die Erwerbstätigenquote alle bezahlten Tätigkeiten beinhaltet, beispielsweise also auch Selbstständige.
Falsche Rechengrundlagen für Beschäftigungsquoten zu verwenden, passiert der CDU jedoch häufiger. So verbreitete Friedrich Merz im Wahlkampf diesen Fake über die Beschäftigungsquote von Syrern:
Fakt 3: Pull-Faktoren sind ein Mythos
Dass Politiker den aktuellen Stand der Wissenschaft nicht in ihre Diskurse einbeziehen, ist leider nichts Neues. So schloss auch Linnemann seine „kritische Bilanz“, bestehend aus zusammengewürfelten Zahlen und falscher Rechengrundlage, mit einem weiteren Fake ab. Er behauptet, Deutschland müsse die „illegale Migration in die Sozialsysteme stoppen und reguläre Zuwanderung in den Arbeitsmarkt fördern.“
Allerdings blendet er auch hier die aktuelle Migrationsforschung aus. Die wirklichen „Pullfaktoren“ in Deutschland sind Demokratie, Sicherheit und viele Jobs. Daran will Linnemann sicher nichts ändern. Die Sozialleistungen sind es eher nicht, die liegen niedriger als Bürgergeld.
Den Mythos „Pull-Faktor“ haben wir bereits in dieser Analyse ausführlich auseinandergenommen:
Fazit: Kritik ja, aber mit den richtigen Zahlen
Zusammengefasst: Merkel kritisieren? Ja – gerne! Aber wenn man mit der Ex-Vorsitzenden der eigenen Partei abrechnen will, dann sollte man wenigstens die richtigen Zahlen kennen. Sonst wird das schnell peinlich. Es gibt Bilanzen zu „10 Jahre: Wir schaffen das“, die das geschafft haben, zum Beispiel hier oder hier.
Es gibt einige offene Integrations-Baustellen, so zum Beispiel bei der Integration von Frauen, beim Bürgergeld oder der Kriminalität. Und die rechtsextreme AfD nutzt sie für ihre spalterische Politik. Man sollte es ihr aber nicht einfacher machen, indem man ihre Parolen übernimmt. Sonst erweckt man noch weniger den Anschein, an den wirklichen Problemen in diesem Land etwas ändern zu wollen.
Artikelbild: Screenshot NOZ & Sebastian Gollnow/dpa