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Wer hat Nordstream gesprengt? – Die Theorien im Faktencheck

von | Mrz 26, 2023 | Faktencheck

Aktuell schwirren enorm viele Informationen, Theorien und auch Verschwörungserzählungen zu den Nordstream-Explosionen umher. Einige baten uns um einen Überblick über tatsächlich gesicherte Fakten zur Lage. Wir wollen uns daher hier anschauen, welche Theorien, Versionen und Behauptungen gesichert sind, welche plausibel – und welche an den Haaren herbeigezogen.

Nicht vergessen: Putin hat uns das Gas abgedreht

Doch vorab einige wichtige Fakten. Denn so interessant die Suche nach den Tätern bei den Explosionen der Pipelines auch sind: 

Wir sollten dabei nicht vergessen, dass durch die Pipelines schon vorher wochenlang kein Gas mehr geflossen war. Sie waren nicht in Betrieb, sie waren aber noch unter Druck, weil sie noch gefüllt waren. Das Gas stand da also nur noch herum. Putin hatte die Gaslieferungen schon vor Beginn des Krieges gedrosselt und so die Preise hochgetrieben, um die Öffnung von Nordstream 2 zu erpressen.

Dann hatte er im April 2022 die Pipelines nach Polen geschlossen. Und schlussendlich auch die Nordstream-Pipelines. Russisches Gas war zu diesem Zeitpunkt nicht von EU-Sanktionen betroffen, es war Putins eigene Entscheidung, den Hahn zuzudrehen. Damit wir einknicken und Putins Kriegsverbrechen in der Ukraine tatenlos zusehen. 

Doch er hat sich verkalkuliert, Deutschland ist mit richtig hohen Gasreserven durch den Winter gekommen, Dank des milden Winters und Wirtschaftsminister Habeck. Also: Die Sprengungen haben keine direkte Auswirkung auf die Gasversorgung nach Deutschland und Europa gehabt.

Theorien wie Sand am Meer

Ende September wurden mehrere Lecks in den Nordstream Pipelines entdeckt, verursacht durch Explosionen. Alle Pipelines wurden beschädigt, außer Strang B von Nordstream 2. Der Nordatlantikrat schlussfolgerte:

„Die Beschädigung der Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 in internationalen Gewässern in der Ostsee ist sehr besorgniserregend. Alle gegenwärtig verfügbaren Informationen deuten darauf hin, dass sie das Resultat von absichtlichen, rücksichtslosen und unverantwortlichen Sabotageakten ist.“

Nordatlantikrat

Mittlerweile gibt es so viele Theorien und teils widersprüchliche Spekulationen, dass man gut den Überblick verlieren kann. Das zeigt vor allem eins: Wir haben aktuell noch zu wenig Informationen. Wer aktuell sagt, dass er „weiß“, wer es war, der sollte sich wirklich mal hinterfragen. Viel zu oft wird „Wahrheit“ aus Emotionen abgeleitet und nicht aus tatsächlich vorhandener Evidenz. 

Dabei gilt auch zu beachten: Wir listen hier mehrere Theorien und Spekulationen auf, die in der Öffentlichkeit diskutiert wurden. Aber natürlich ist es auch möglich, dass es komplett anders war. Eine dieser könnte der echte Verlauf sein, oder gar keine. Wir wissen es einfach nicht.

Schon vergessen? Russland gab mal Großbritannien die schuld

Es ist offensichtlich, dass Russland gern falsche Theorien besonders verbreitet. Es ist schließlich eine Desinformations-Taktik, verschiedene, auch widersprüchliche Geschichten zu verbreiten. Hat Russland schon oft gemacht. So wurde noch vor wenigen Monaten felsenfest – und ohne Belege – behauptet, dass England und Liz Truss hinter dem Angriff stecken würde.

Angeblich über ein Leak von ihren Handy-Daten. Doch die Story und ihre Zeitlinie machen überhaupt keinen Sinn. Truss hatte zu diesem Zeitpunkt ihr Handy bereits gewechselt. Wie wir hier widerlegt haben, behauptete Russland, den Beweis durch den Handy-Hack erbeutet zu haben. Obwohl man gleichzeitig leugnete, ihr Handy überhaupt gehackt zu haben: 

Nicht mit der Realität vereinbar: das Hersh-Märchen

Eine weit verbreitete Theorie zur Sprengung der Nordstream Pipeline stammt vom ehemals seriösen Journalisten Seymour Hersh. Er hatte vor mehreren Jahrzehnten mal eine produktive Phase, in der er tatsächliches Fehlverhalten der damaligen US-Regierung aufgedeckt hat. Leider sieht seine Arbeit in letzter Zeit nicht mehr so glamourös aus. In den Themen Syrien und Giftgas, Bin Laden und Pakistan erlaubte er sich ebenfalls unsaubere Recherchen, die er nie belegen konnte.

Hershs alternative Erzählung über die Tötung Bin Ladens wurde auch stark kritisiert und von mehreren US-Medien wegen großer Bedenken abgelehnt. Auch diese Geschichte wurde als sinnlosahnungslos und falsch kritisiert. Auch hier war die Quelle wieder nur eine anonyme Person. Das Gleiche galt für den Giftgasangriff in Syrien 2017. Wenige, anonyme Quellen, weswegen er nicht mehr als seriöser Journalist galt. Auch damals wurde er schon gefaktencheckt, weil er eine Vielzahl von Berichten ignorierte und andere Dinge umdeutet, um sie in sein Narrativ zu pressen.

Auch bei Nordstream: nur eine anonyme Quelle – und viele falsche Behauptungen

Hersh behauptet, ein norwegisches Schiff mit dem Namen „Alta“ hätte im Juni während des NATO-Manövers BALTOPS Kampftaucher zu den Stellen gebracht und die hätten dann Sprengstoff angebracht. Später im September hätte ein norwegisches „P8 Spionageflugzeug“ eine Sonarboje abgeworfen, die die Sprengung dann durchgeführt hätte. Nachweislich stimmt aber nichts davon. 

Der norwegische Minenleger mit dem Namen ALTA ist seit 2012 nicht mehr bewegt worden. Er wurde am 29. Juni 2022 in einen anderen Hafen gezogen, um dort zerlegt zu werden. Der komplette Vorgang inklusive Satellitenbilder ist dokumentiert. Auch andere norwegische Schiffe der Alta-Klasse inklusive ihrer Positionsdaten sind dokumentiert (Paywall), keines davon hätte unbemerkt Taucher bei den späteren Nordstream-Explosionsstellen abladen können.

Auch das von Hersh erwähnte Flugzeug ist am 26. September überhaupt nicht in der Luft gewesen. Laut Open-Source Positionsdaten ist keine norwegische P8 überhaupt zu irgendeinem Zeitpunkt nur in der Nähe der späteren Lecks gewesen. Hier ein Bericht Norwegischer Faktenchecker, der das alles belegt. 

Unter anderem die offenbar leichtgläubige Sahra Wagenknecht hatte die Story vollkommen unkritisch verbreitet, obwohl sie offensichtlich so nicht passiert sein kann, wie wir berichteten.

Grundsätzlich mit der Realität vereinbar: Die Yacht

Diesen Monat kam eine neue Version zutage, die offenbar von deutschen Ermittlern verfolgt wird. Demnach sind die Täter in einer Segelyacht von Rostock aus in See gestochen und haben dann Sprengsätze an den Pipelines angebracht. Die Ermittler sind sich offenbar sicher, dass das Schiff auf Christiansö angelegt wurde, was in der Nähe der späteren Explosionsstelle war. Außerdem wurden Sprengstoffspuren an Bord identifiziert. Es ist noch vieles unklar, unter anderem, wer die Auftraggeber waren und wie der Sprengsatz gezündet wurde. Von verschiedenen Seiten kam Kritik an der Yacht-Version aus, die wir uns im Folgenden mal ansehen:

2 Tonnen Sprengladungen? Angeblich wurde die Pipeline ja mit der Wucht von 500 kg TNT pro Loch gesprengt, das wären dann 2 Tonnen TNT insgesamt. Allerdings muss man hier beachten: TNT ist hier nur eine Maßeinheit, also wie viel TNT hätte man verwenden müssen, um die Sprengwirkung zu erreichen. Aber man kann mit einer viel geringeren Menge von modernem Sprengstoff bereits eine ähnliche Wirkung erreichen.

Beispielsweise wird für den Plastiksprengstoff Semtex ein Umrechnungsfaktor von 1,6 angegeben. Das wären dann schon deutlich weniger Kilogramm, aber immer noch eine erhebliche Menge, die die „Andromeda“, das verwendete Segelschiff, hätte transportieren müssen. Auch war das Schiff ganze zwei Wochen unterwegs, in dieser Zeit hätte es also auch nochmal Nachschub „besorgen“ können. 

Tauchen auf 80 Meter Tiefe? Auch das scheint für viele erstmal ein Hindernis, aber es ist einfacher als es klingt. Die Taucher müssten anstatt mit Druckluft eben mit einem bestimmten Gemisch tauchen. Wichtig wäre vor allem, dass sie nur wenige Minuten an der tiefsten Stelle verbleiben. Bei der großen Menge an verwendetem Sprengstoff ist Feinarbeit am Meeresboden wohl eher unnötig gewesen. Laut einem Dokument für Kurse in Tieftauchen sind sogar 2 Tauchgänge pro Tag möglich.

Vieles ist aber unklar

Solche Tauchgänge sind aber auch bei geringer Zeit am Grund sehr langwierig, da sie lange Zeit bis zum Auftauchen für die Dekompression brauchen. Das grenzt die verwendeten Schiffe deutlich ein, da sie die Taucher ja auch wieder einsammeln müssten. Ein simples „ach, ich fahre mal dran vorbei“ ist da nicht so vorstellbar. 

Ein Segelboot wäre dafür schon ein passendes Fahrzeug, da es nicht auffällt, wenn es für einige Zeit auf der Stelle kreuzt. Es ist außerdem nicht notwendig, dort ein AIS – also ein Positionssystem – zu installieren, mit dem die meisten kommerziellen Schiffe dauerhaft geortet werden können. 

Möglich wäre es also. Vieles an der Theorie ist aber noch unklar. Für den Transport des Sprengstoffs wäre es beispielsweise hilfreich, wenn auch ein zweites Schiff an der Aktion beteiligt gewesen wäre. Der an der Aufdeckung beteiligte Journalist Holger Schmidt betonte auch beispielsweise, dass er noch nicht von einer „pro-Ukrainischen“ Spur der Ermittler sprechen würde. Eine False Flag Kampagne erscheint genauso plausibel. In jedem Fall würde ich als besorgter Bürger gern wissen, wie Sprengstoffspuren an eine Segelyacht in Rostock gelangt sind.

Was wir ausschließen können, ist, dass die Story “gebracht” wurde, um von Hershs Lügen abzulenken. Erstens schwindelt Hersh ja, also muss man davon nicht ablenken. Zweitens gingen die Ermittlungen in die Yacht schon deutlich vor der Veröffentlichung der Hersh-Story los.

Die Russland-Variante

Neue Informationen zeigen, dass Russland selbst die Möglichkeit hatte, die Pipeline zu sprengen. Im Rahmen einer Militärübung kamen auch Militär-Taucher russischer Spezialeinheiten in die Ostsee. Es lässt sich nun laut T-Online auch nachvollziehen, dass russische Schiffe mit Spezialkränen und einem Mini-U Boot in der Nähe der späteren Explosionsstellen von Nordstream 1 waren. Kurz vor der Sabotage wurden russische Kriegsschiffe in der Nähe der Pipelines gesichtet. Die Informationen stammen zwar aus Geheimdienstkreisen, können aber mit öffentlichen Daten bestätigt werden. 

Öffentlich verfügbare Satellitenbilder zeigen, dass die entsprechenden Schiffe ihre Docks verlassen hatten. Sie erreichten die spätere Explosionsstelle am Abend des 21. September, also wenige Tage vor der Explosion. Öffentliche Daten bestätigen, dass sich Dark Ships mit abgeschaltetem Tracking zu dieser Zeit am späteren Tatort befanden. Auch zeigen die Daten eine Reaktion der dänischen Marine, die daraufhin mehrfach in der Region auftauchte.

Auch das ist nicht belegt

Definitive „Beweise“ sind auch diese Informationen nicht. Mehrere Punkte sind offen: Waren die Schiffe dort, um eine Bombe zu legen, oder um die Pipeline zu untersuchen? Wie kam es zur Sprengung von Nordstream 2, die ja viele Kilometer weiter südlich explodierte? Auch die Reaktion der dänischen Marine könnte erstmal eine Routine-Reaktion auf das Eintreffen möglicherweise feindlich gesinnter Kreuzer sein. 

Eine weitere Russland-Variante dreht sich um das Tanker-Schiff „Minerva Julie“, welches Mitte September tagelang direkt über der späteren Explosionsstelle driftete und zu dem Zeitpunkt besonders gern russisches Öl transportierte? Auch hier wurde theoretisiert, dass dabei Sprengstoff abgesetzt wurde. 

Allerdings würde ja nur eines von beidem Sinn wirklich machen: Waren es nun die russischen Schiffe, oder die Minerva Julie? Oder haben beide doch zusammengearbeitet? Dass ich hier so viele Fragezeichen schreibe, spricht dafür, dass noch vieles unklar ist. 

Während sie also Unsicherheit schüren und Verbündete gegeneinander aufhetzen, behaupten verschiedene Pro-Kreml User, dass Russland ja gar keinen „Vorteil“ von einem Angriff auf die Pipeline hätte, um wiederum Russland aus dem Verdacht zu nehmen. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass es für Russland auch kein großes Risiko geben würde, wenn sie die Nordstream Pipelines beschädigt hätten.

Die USA würden ja mit einem Angriff die Loyalität eines Bündnispartners aufs Spiel setzen, warum sollten sie es tun? Russland hingegen verliert nichts, was nicht ohnehin keinen weiteren Effekt mehr haben würde. Sie liefer(te)n ja sowieso kein Gas mehr durch die Pipelines. Durch den Vorfall schüren sie nun auf jeden Fall Antiamerikanismus, egal, ob sie dahinter steckten oder nicht. 

Zusammenfassung

Hier also eine Liste der bisherigen Theorien:

  • Die Liz-Truss-Handy-Story, die nie belegt war, und die selbst der Kreml inzwischen fallen gelassen hatte.
  • Das Hershs Märchen: Präparierung der Pipeline während BALTOPS durch norwegische Minenleger (praktisch ausgeschlossen).
  • Segelyacht mit Sprengstoff-Tauchern (möglich, aber viele Puzzleteile fehlen).
  • Tanker Minerva Julie (möglich, aber weiter erklärungsbedürftig).
  • Russische Kampftaucher mit Uboot Unterstützung (plausibel, aber offene Fragen).

Wir halten weiter für euch Ausschau, ob sich etwas an der Evidenz ändert. Denn das ist es, was zählt, nicht, wen wir gern hätten, der es war. Seid also auf der Hut vor jedem, der euch Stand jetzt erzählen will, dass er wüsste, wer es wahr. Der Kreml profitiert von den vielen Versionen und Verschwörungsmythen auf jeden Fall und lügt ständig kräftig mit, oft mal sogar widersprüchlich. Wenn ihr aufpasst, macht ihr euch nicht zum Gehilfen russischer Propaganda.

Artikelbild: Swedish Coast Guard/dpa