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Wagenknecht blamiert sich mit unbelegtem Nord-Stream-Märchen

von | Feb 13, 2023 | Faktencheck

Letzte Woche war große Bühnenwoche für das (Noch-)Mitglied von DIE LINKE Sahra Wagenknecht. Wir berichteten bereits über die unsägliche Petition zusammen mit Alt-Feministin und Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer, die im Namen des Friedens forderten, dass die Ukraine schneller gegen Kriegstreiber Putin verlieren solle. Doch kurz zuvor sorgte sie ebenfalls für Aufmerksamkeit mit einer neuen Verschwörungserzählung über die Nord-Stream Sabotage.

Die Nord-Stream Sabotage

Kurze Retrospektive zum Thema der mutmaßlichen Sabotage an Nord Stream 1 und 2. Wir haben Ende September bereits aufgeschrieben, was bekannt ist – und was nicht. Im wesentlichen hat sich daran bisher nichts geändert.

Vor Angriffen auf Pipelines, besonders durch Russland, wird schon seit geraumer Zeit gewarnt. So gab es zudem schon mehrfach verdächtige Aktivitäten von russischen Kräften in der Nähe von Unterwasserkabeln (QuelleQuelle). Vor mehreren Monaten warnte dann die CIA die Bundesregierung vor möglichen Angriffen auf die Pipeline-Infrastruktur (Quelle). Auch kurz zuvor wurden russische Kriegsschiffe in der Nähe der Pipelines gesichtet (Quelle).

Besonders von russischen Trollen gab es sehr schnell sehr viele Erklärungen für die Sabotage. Allein das wäre schon verdächtig, die Verschwörungserzählungen schließen sich aber oft auch gegenseitig aus. Klar, wir wissen nicht, was genau passiert ist. Aber alle Verschwörungserzählungen können nicht parallel wahr sein. Viele derjenigen, die auf die aktuelle Geschichte aufspringen, haben 2022 erst einmal behauptet, dass das Vereinigte Königreich für die Attacke auf Nord Stream verantwortlich wäre. Das haben wir schon debunked.

Faktenfremde Behauptungen und Märchenstunde

Nun, war es jetzt England oder die USA oder noch jemand anderes? Für nichts davon gibt es Belege. Was verbreiten Wagenknecht und auch ihr Weggefährte Lafontaine jetzt hier ungefiltert als vermeintliche Fakten? Schauen wir mal drauf:

Was ist das nun für eine krasse Behauptung der preisgekrönten investigativen Journalisten-Ikone Seymour Hersh? Hersh behauptet ohne jeglichen Beweis, dass die USA unter Biden mit mehreren baltischen Staaten zusammengearbeitet hätte, um die Pipeline zu sprengen. Wagenknecht verbreitet hier, ohne mit der Wimper zu zucken, die steile Behauptung weiter, dass die USA Drahtzieher einer Sprengung der Nord Stream Pipelines wären.

Hersh erzählt außerdem, dass Biden bereits angekündigt hätte, Nord-Stream 2 im Falle der Invasion zu stoppen. Allerdings stand er zu dem Zeitpunkt neben Scholz, dessen Regierungsposition es war, dass wenn Russland in die Ukraine einmarschiert, die Pipeline nicht er- oder geöffnet wird. Er meint nicht, die USA, sondern „Wir“ – Scholz und er im Bündnis. Hier waren sich Scholz und Biden übrigens einig. Das war auch die Position der Bundesregierung. Hier wird bereits getrickst: Es ging um den Stopp der Inbetriebnahme. Von einer „Zerstörung“ der Pipeline war nicht Rede. Dass das mutwillig falsch dargestellt wird, sollte Misstrauen erwecken.

Warum wollte wohl keine seriöse Zeitung die Behauptungen veröffentlichen?

Aber gehen wir einfach mal im Schnelltempo über die Quintessenz von Hershs Text, der mutmaßlich auch nur auf seinem „eigenen Blog“ auf Substack veröffentlicht werden konnte, da er keinen journalistischen Mindeststandards entspricht, insbesondere nicht für einen Investigativjournalisten.

Er behauptet im Blog, dass US-Taucher im Rahmen der NATO-Übung BALTOPS im Juni fernzündbare Sprengladungen an den Pipelines installiert hätten, die später im September 2022 vermeintlich gezündet worden waren. Das Ganze soll laut Hersh unter Kenntnis und Mitwirkung von Norwegen passiert sein, da man hierfür norwegische Militärbasen genutzt hätte. Der tatsächliche Grund der Nato-Truppen ist aber das Beseitigen von Minen. Seit Jahren. Jetzt soll es ein Cover gewesen sein? Ja, krasse Behauptungen – und Belege?

Hersh erzählt eine Menge, bleibt aber jegliche Belege schuldig und stützt sich ausschließlich auf eine „anonyme Quelle, die viel darüber zu wissen scheint, was vor sich ging“. Anders gesagt: Hersh behauptet hier einfach Dinge. „Minutiös recherchiert“, wie Wagenknecht es sagt, ist hier offensichtlich wenig. Seine Geschichte hat viele Details, die Glaubwürdigkeit liefern könnten. Aber diese Details lassen sich prüfen – und zeigen die Lücken und Fehler.

Eine einzige „anonyme Quelle“ als Beleg, die Dinge zu „wissen scheint“? Wirklich?

Endgültig verloren wird es bei der Erzählung, dass der „NATO Supreme Commander“ (ist er nicht mal, er ist Generalsekretär) Jens Stoltenberg „ein Hardliner gegen Putin und Russland sei, der schon seit dem Vietnamkrieg mit den amerikanischen Geheimdiensten kooperieren würde.“ Hierzu muss erwähnt werden, dass Stoltenberg zu dieser Zeit maximal 14 Jahre alt war und als amerika-kritisch gilt.

In Hershs Artikel gibt es Erzählungen von Details, die sich wie aus einem Spy-Thriller lesen – und voller Widersprüche sind, die einem Laien allerdings nicht auffallen. Erzählungen wie die, dass die USA ihre Sprengkörper über die Anpassung des Salzgehalts an den des Wassers vor den Russen verstecken würden. Diese und weitere erzählte Details werden hier als die sinnlosen Märchen debunked, die sie sind.

So behauptet Hersh, dass „a Norwegian Alta class mine hunter“ an der Aktion beteiligt gewesen sei – dabei waren die gar nicht an BALTOPS22 beteiligt. Überhaupt waren die Schiffe zu keinem Zeitpunkt in der Nähe der späteren Explosionen. Auch impliziert er, dass Dänemark, Norwegen und Schweden eigentlich informiert sein müssten, was keinen Sinn ergibt. Auch soll die norwegische Navy mit einem P8 Flugzeug eine „Sonarboie“ gezündet haben. P8 Flugzeuge werden von der norwegischen Luftwaffe genutzt, nicht der Navy und Open Source Quellen sollen zeigen, dass am entsprechenden Tag keine P8 Flugzeuge aktiv waren. Die Geschichte ist voller lauter kleiner Fehler und Widersprüche.

Nicht die erste kritische Geschichte

Hier verliert Hersh endgültig jegliche Glaubwürdigkeit für seine Behauptungen. Er kann nichts belegen und das, was er behauptet, ist unter anderem, dass eine Person als 14-jähriger schon für die CIA gearbeitet haben soll. Was ist das für ein absurder Text? Es ist nicht der erste Ausflug in eine Fantasiewelt des Journalisten. In den Themen Syrien und Giftgas, Bin Laden und Pakistan erlaubte er sich ebenfalls unsaubere Recherchen, die er nie belegen konnte.

Hershs alternative Erzählung über die Tötung Bin Ladens wurde auch stark kritisiert und von mehreren US-Medien wegen großer Bedenken abgelehnt. Auch diese Geschichte wurde als sinnlos, ahnungslos und falsch kritisiert. Auch hier war die Quelle wieder nur eine anonyme Person. Das gleiche galt für den Giftgasangriff in Syrien 2017. Wenige, anonyme Quellen, weswegen er nicht mehr als seriöser Journalist galt. Auch damals wurde er schon gefaktencheckt, weil er eine Vielzahl von Berichten ignorierte und andere Dinge umdeutet, um sie in sein Narrativ zu pressen.

Und auch bei Nord-Stream missachtet Hersh das für Journalisten wichtige Zwei-Quellen-Prinzip. Weil Hersh nicht mehr vertrauenswürdig ist und seine Geschichte voller Fehler und Widersprüche nicht belegen kann, kann es nicht als Diskussionspunkt dienen.

Der Abstieg eines preisgekrönten Journalisten

Hersh, der 1970 für eine unabhängige Aufklärung von Kriegsverbrechen in Vietnam mit dem Pulitzer-Preis, also der höchsten Auszeichnung für Journalisten ausgezeichnet wurde, fiel in den letzten Jahren leider nur mehr durch Verschwörungserzählungen, als mit korrekter journalistischer Arbeit auf.

Die aktuelle „Recherche“ zu Nord-Stream ist nicht nur deshalb mit größtmöglicher Vorsicht zu genießen, sie ist einfach auch operativ, politisch oder wirtschaftlich nicht plausibel. Niemand müsste die Pipeline, welche Gazprom gehört, sprengen, um sie nicht zu nutzen. Sie könnte auch einfach abgesperrt werden, was bei Nord-Stream 2 während der genannten Sprengung auch der Fall war. Sie war geschlossen.

Okay, unseriös und keine Quellen – was stimmt dann?

Wir werden hier auf offizielle Aufklärung warten müssen, diese läuft leider sehr zäh. Einschlägiges Klientel und Russland freuen sich gerade jedoch erst einmal über die Aufruhr, die Hershs Artikel erzeugt und nutzen ihn exzessiv für ihre Propaganda-Erzählungen.

Während sie also Unsicherheit schüren und Verbündete gegeneinander aufhetzen, behaupten verschiedene Pro-Kreml User, dass Russland ja gar keinen “Vorteil” von einem Angriff auf die Pipeline hätte, um wiederum Russland aus dem Verdacht zu nehmen. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass es für Russland auch kein großes Risiko geben würde, wenn sie die Nord-Stream Pipelines beschädigt hätten.

Die USA würden ja mit einem Angriff die Loyalität eines Bündnispartners aufs Spiel setzen, warum sollten sie es tun? Russland hingegen verliert nichts, eine Zerstörung der eigenen Pipelines hätte höchstens extreme Auswirkungen auf die Umwelt, keinen geopolitischen Impact. Sie lieferten ja sowieso kein Gas mehr durch die Pipelines. Durch den Vorfall schüren sie nun Antiamerikanismus, egal, ob sie dahinter steckten oder nicht. Das wäre ein mögliches Motiv. Nord-Stream gehört ja Gazprom und Russland, die Angriffe erfolgten in internationalen Gewässern. Das Risiko einer westlichen Reaktion ist also gering. 

Allerdings ist eine mögliche Erklärung noch kein Beweis – das gilt für diese Erklärung ebenso wie für Hersh. Deshalb immer: Abwarten, was unabhängige Expert:innen herausfinden. Es ist nun mal aber auch leider so, dass bei fehlenden Informationen viele zu Spekulationen neigen, und es natürlich die üblichen Verdächtigen gibt, die das gezielt ausnutzen, um ihre Narrative und Feindbilder zu verbreiten. Deswegen haben wir sie hier kritisch begutachtet und in der Plausibilität bewertet, auch wenn der tatsächliche Tathergang bisher unbekannt ist. Wie ein Informationsvakuum funktioniert und wie Putin es gerne nutzt, haben wir hier schon mal erklärt.

Abwarten, wir haben immer noch keine Belege gesehen

Auf der Bundespressekonferenz vom 10. Februar 2023 zum Thema Nord Stream befragt, verweist die Bundesregierung leider immer noch auf laufende Ermittlungen. Deutsche Ermittler:innen gehen den Hintergründen ebenfalls nach. Die USA haben die unbelegten Vorwürfe dementiert, die CIA auch.

Bis zu einer endgültigen Aufklärung sind manche Erzählungen ganz klar einer besonderen Kategorie zuzuordnen, die der Journalist Tobias Huch hier wieder gut „beschreibt“:

Was Sahra Wagenknecht hier als seriöse Recherche verkaufen will ist eine spannende Geschichte zu Nord-Stream, aber nichts mehr. Sie, genau wie Hersh, sind nach ihrem mehrmaligen Verbreiten von Desinformation und ihren klaren Feindbildern, die sie bedienen wollen, besonders ohne jegliche Belege, mit größter Skepsis zu bewerten. Egal ob Pro- oder Anti-Putin-Meldungen: Wir brauchen seriösen Journalismus und nicht Verschwörungsmythen, die auf nur einer, unzuverlässigen Quelle basieren, wie auch die BILD feststellen musste.

Artikelbild: Danish Defence Command/dpa; photocosmos1, Screenshot