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NordStream 2-Vorfall: Was bisher bekannt ist (und was nicht)

von | Sep 29, 2022 | Aktuelles

Wer heute auf das außenpolitische Social Media blickt, der sieht besonders ein Thema: Der mutmaßliche Anschlag auf die russischen Gaspipelines. Die Gaslecks an Nordstream 1 und Nordstream 2 sind wohl auf einen vorsätzlichen Angriff zurückzuführen, davon gehen immer mehr Behörden und Expert:innen aus (Quelle). Unklar ist aber weiterhin, wer hinter dem mutmaßlichen Sabotageakt steckt. Ohne dass es klar ist, versuchen natürlich die typischen Accounts einen Schuldigen schon vorab zu finden.

So sieht man derzeit viele Accounts, die spekulieren, dass die USA für den Vorfall verantwortlich seien. Vor allem die Accounts, die normalerweise genau dann auftauchen, und Propaganda und Lügen streuen, wenn Russland etwas ausgefressen hat, zum Beispiel Zivilist:innen in Bucha ermordet hat:

Daher ist es gerade jetzt, auch wenn noch nicht alles klar ist, wichtig, sich mit den bekannten Fakten zu befassen. Hier eine kurze Übersicht über Fakten, die bei den aktuellen Troll-Diskussionen etwas untergehen.

Sicherheitsbehörden hatten das Risiko auf dem Schirm

Vor Angriffen auf Pipelines, besonders durch Russland, wird schon seit geraumer Zeit gewarnt. So gab es schon mehrfach verdächtige Aktivitäten von russischen Kräften über besagten Kabeln (Quelle, Quelle).

Vor mehreren Wochen warnte dann die CIA die Bundesregierung vor möglichen Angriffen auf die Pipeline-Infrastruktur (Quelle).

Auch kürzlich wurden russische Kriegsschiffe in der Nähe der Pipelines gesichtet (Quelle).

Nur eine Röhre bei Nordstream 2 defekt

Nicht alles ist jedoch kaputt: Eine Röhre, ausgerechnet von Nordstream 2, ist unbeschädigt (Nordstream 1 und 2 bestehen jeweils aus zwei Röhren) (Quelle). Russische Analysten haben ebenfalls dazu bereits kommentiert, dass Deutschland Nordstream 2 nach wie vor nutzen könnte:

Zur Erinnerung: Deutschland sanktioniert nicht russisches Gas. Dass keines mehr geliefert wird, hat Russland entschieden. Russland könnte natürlich auch einfach wieder Gas über die Jamal Pipeline schicken, die von Russland bereits im April abgeschaltet wurde (Quelle). Außerdem wäre es möglich, die Pipelines in der Ukraine stärker zu nutzen (Quelle). Allerdings hat Gazprom angekündigt, nun auch Lieferungen über die Ukraine ganz einzustellen: 

Trolle verbreiten unplausible Verschwörungserzählungen

Zurück zu den bisher unbelegten Erklärungen, die Trolle verbreiten. Nämlich, dass die USA dahinter stecken würden, was nicht belegt ist. Und auch unplausibel. Sie preschen sogar vor und fordern „Sanktionen“ gegen die USA – natürlich um die Verbrechen Russlands zu relativieren. Denn wenn man die USA genau so sanktionieren müsste wie Russland, seien beide gleich schlimm – und damit Russland nicht „schlimm“.

Die „Argumente“ der Verschwörungserzählung: Da gab es ein Video von Biden aus dem Februar 2022, in welchem er nochmal verdeutlichte, dass Nord Stream 2 gestoppt werde, wenn Russland in die Ukraine einmarschiert. Was Russland dann ja auch getan hat. Die Propaganda-Trollen tun plötzlich so, als sei das ein Indiz dafür, dass die USA deshalb die Pipeline sogar mit Gewalt stoppen würden. Doch was hier verschwiegen wird: Das war und ist auch die Meinung der Bundesregierung. Und Olaf Scholz, der daneben stand, bekräftigte nochmal in dieser Frage, gemeinsam zu handeln.  Hier:

So funktionieren Verschwörungsmythen: Alte Sätze werden aus dem Kontext gerissen, um in der neuen Erzählung was ganz anderes zu bedeuten: Eine politische Position wird zum Eingeständnis eines Sabotagesaktes manipuliert. Nicht drauf hereinfallen! Es war also Teil zur (erfolglosen) Abschreckung gegen Putin, dass Nordstream 2 nicht ans Netz geht, wenn Russland einmarschiert. Das ist natürlich auch der Grund, warum das nach wie vor Konsens in der Regierungskoalition ist (mehr dazu). Es wäre maximal unglaubwürdig, nach kürzester Zeit wieder einzuknicken nach Putins brutalem Einmarsch. Deutschland würde auch als Partner nicht mehr ernst genommen, der zu seinem Wort steht. 

Verschwörungserzählungen unplausibel

Es gibt also keinen Grund für Biden Nord Stream 2 mit Waffengewalt zu “stoppen”, wenn sogar die FDP einen Rückbau der Pipeline fordert. Wir wissen bisher nicht wer oder was dafür verantwortlich ist, aber Spekulationen bestimmter Akteur:innen kann man einordnen.

Während sie also Unsicherheit schüren und Verbündete gegeneinander aufhetzen, behaupten verschiedene Pro-Kreml User, dass Russland ja gar keinen “Vorteil” von einem Angriff auf die Pipeline hätte, um wiederum Russland aus dem Verdacht zu nehmen. Gleichzeitig muss man aber sagen, dass es für Russland auch kein großes Risiko geben würde, wenn sie die Nordstream Pipelines beschädigt hätten.

Die USA würden ja mit einem Angriff die Loyalität eines Bündnispartners aufs Spiel setzen, warum sollten sie es tun? Russland hingegen verliert nichts, was nicht ohnehin keinen weiteren Effekt mehr haben würde. Sie liefer(te)n ja sowieso  kein Gas mehr durch die Pipelines. Durch den Vorfall schüren sie nun Antiamerikanismus , egal, ob sie dahinter steckten oder nicht. Und es verursacht natürlich Sorge um die Pipelines von Norwegen, ohne die wir sicherlich nicht durch den Winter kommen (Datenquelle). Das wäre ein mögliches Motiv. Nordstream gehört ja Gazprom und Russland, die Angriffe erfolgten in internationalen Gewässern. Das Risiko einer westlichen Reaktion ist also gering. 

Fazit: Informationsvakuum verursacht Raum für Wilde Spekulationen

Allerdings ist eine mögliche Erklärung noch kein Beweis. Deshalb immer: Abwarten, was unabhängige Expert:innen herausfinden. Es ist nunmal aber auch leider so, dass bei fehlenden Informationen viele zu Spekulationen neigen, und es natürlich die üblichen Verdächtigen gibt, die das gezielt ausnutzen, um ihre Narrative und Feindbilder zu verbreiten. Deswegen haben wir sie hier kritisch begutachtet und in der Plausibilität bewertet, auch wenn der tatsächliche Tathergang bisher unbekannt ist. Wie ein Informationsvakuum funktioniert und wie Putin es gerne nutzt, haben wir hier schon mal erklärt:

Autoren: Philip Kreißel, Thomas Laschyk. Artikelbild: Danish Defence Command/dpa