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Mit diesem Pseudo-Argument lenken dich Rechte vom Leid in Moria ab

von | Jan 14, 2021 | Aktuelles

“Die haben das Lager doch selbst angezündet” – warum das zwar richtig, aber trotzdem kein Argument ist

Sophia Sailer / „Die Millenial“

Sowohl das Geflüchtetenlager Lipa in Bosnien, als auch Moria auf der griechischen Insel Lesvos brannten innerhalb des letzten Jahres. Sie wurden angezündet – wahrscheinlich von einigen Geflüchteten selbst. Konservativen und Rechten spielt das vermeintlich in die Hände, doch als Argument gegen humanitäre Hilfe taugt es trotzdem nichts.

Beide Lager wurden durch die Brände auf die Startseiten jeglicher Medien befördert. Im Mittelpunkt des Diskurses stand jedoch von diesem Zeitpunkt an vor allem auch die Frage, wie es zu dem Feuer kommen konnte. Die vage Vermutung, dass die Brandstiftenden unter den Geflüchteten selbst zu finden seien, wurde dankend von denjenigen aufgegriffen, die somit endlich einen triftigen Grund fanden, humanitäre Hilfe oder, Gott bewahre, gar eine Evakuierung der Lager abzulehnen. Die AfD spricht manchmal sogar von einer „Belohnung“.

Von diesem Zeitpunkt an, wann immer die katastrophalen Situationen in den Lagern problematisiert wurden, wurde man mit folgendem Argument vermeintlich entwaffnet: “Die haben sich doch selbst angezündet”, ergo: die Geflüchteten sind selbst für ihr Leid verantwortlich. Manche gehen sogar sogar soweit und sehen in dem Feuer vor allem eines: den Versuch einer Erpressung.

Populismus vereinfacht komplexe Sachverhalte

Populismus vereinfacht komplexe Sachverhalte, reduziert sie auf ein binäres System: Null oder eins, nichts dazwischen. Aber auch wenn Populist:innen es sich so wünschen würden, die Welt ist nicht einfach, sie lässt sich nicht in “die Guten” und “die Schlechten” einteilen. Selbst wenn ein paar der Geflüchteten sich zu einer Revolte entschlossen haben mögen, indem sie das Lager in Brand steckten (Moria und Lipa), bedeutet das nicht, dass der Großteil der Bewohnenden der Camps Brandstiftung befürworten.

Die Formulierung reduziert im Falle von Moria 20 000 Menschen auf eine homogene Masse, die eine Einheit darstellen soll, wo keine ist. Die Geflüchteten sind verschiedene Wege gegangen, sprechen unterschiedliche Sprachen und sind in diversen Ländern aufgewachsen. Entsprechend differenziert sind auch Ansichten und Meinungen derjenigen – doch diese werden oft völlig ausgeblendet. Es ist eine grobe Verallgemeinerung, die so nicht nur Geflüchtete trifft, sondern auch gängige Praxis beim Umgang mit anderen marginalisierten Gruppen ist. Sie trifft beispielsweise Mitglieder der LGBTQI+-Community, von Rassismus betroffenen Personen oder Menschen mit Behinderung. Diese Argumentation ist immer dann hilfreich, wenn ein Feindbild konstruiert wird, das vor allem eins sein soll: bedrohlich.

Kontext der EU-Asylpolitik

Auch wird durch diese Aussage der komplette Kontext der Asylpolitik der EU ignoriert, welcher aber zwingend notwendig ist, um die Reaktion der Geflüchteten zu verstehen: Europa hat in den letzten Jahren eine Abschottungspolitik betrieben (Quelle, Quelle) , die auf dem Mythos sogenannter Push- und Pullfaktoren basiert, gemäß der Devise: Vielleicht schaffen wir es, eine Flucht nach Europa noch unattraktiver zu machen, als die Fluchtursachen in den jeweiligen Ländern.

Den Seenotrettern die Schuld andichten: Glaubt nicht dem rechten Pull-Mythos

Ist das wirklich der Anspruch, den die EU an sich selbst stellt? Möglichst unmenschlich handeln? Anscheinend ja.

Wegen dieser Abschottungspolitik sind Geflüchtete in Deutschland vielleicht nicht mehr so sichtbar wie noch 2016, das Jahr mit den meistgestellten Asylanträgen (Quelle). Das bedeutet aber nicht, dass sie nicht mehr existieren. Sie werden bloß an Orte ausgelagert, die für in Deutschland lebende Personen weniger sichtbar sind: in Camps wie Moria oder Lipa. Dort hausen Geflüchtete während des Winters ohne Heizung und ohne Strom (Quelle), auf engstem Raum während einer globalen Pandemie. Der Entwicklungsminister erzählte nach einem Besuch des Moria-Nachfolgers Kara Tepe sogar der Passauer Neuen Presse im Oktober, dass Babys in den Zelten des Camps von Ratten gebissen werden (Quelle).

Ein weiteres großes Problem: Essen.

In Moria 2 muss man dafür oft lange anstehen und selbst dann ist es häufig zu wenig, berichten Geflüchtete auf einem selbstgeführten Instagram-Kanal, auf dem sie über die Verhältnisse in den Lagern aufmerksam machen wollen (Quelle).

https://www.instagram.com/p/CI0vuJXFk7A/

Die Journalistin Franziska Grillmeier ist selbst Vorort und erzählt jetzt.de im Interview davon, dass schon im Herbst Menschen mit Behinderung teilweise drei Tage lang nicht mehr zur Essensausgabe gehen konnten, weil die Wege zu matschig und deshalb unbegehbar waren (Quelle).

Und nein, diese unzulängliche Versorgung ist kein generöser Akt der wirtschaftsstarken und ach-so-protektiven EU: Es ist ihre Pflicht. “ Für den Schutz von Flüchtlingen sind in erster Linie die Regierungen der Aufnahmeländer verantwortlich” (Quelle), heißt es auf der Seite der UN Refugee Agency. So wurde es 1967 in den Genfer Konventionen festgelegt.

Es gibt immer noch zu wenig Bewusstsein für die Katastrohpe

Die Asylpolitik Europas kann aktuell nur so defizitär funktionieren, weil in unserer Gesellschaft noch immer zu wenig Bewusstsein darüber herrscht, welcher menschenunwürdigen Methoden sich diese Politik bedient. Zumindest ist das meine Erklärung. Die Alternative würde nämlich bedeuten: es ist uns egal, dass Menschen, die in Europa Schutz vor Krieg, Verfolgung und Armut suchen, an den Außengrenzen sterben und in den Elendslagern hausen müssen.

Aber wie schafft man Bewusstsein? Genau: zum Beispiel indem man für mediale Repräsentation eines Themas sorgt – so wie es die Feuer in Moria und Lipa getan haben. Es musste erst buchstäblich brennen, bis weite Teile Deutschlands demonstrieren gingen, bis sie Geld gespendet und sich an Abgeordnete gewandt haben. Wir müssen verstehen, dass die Handlungsmacht der Menschen in den Lagern extrem beschnitten wird – durch die Situation in ihren Herkunftsländern, aber eben auch durch die Politik der EU. Aber diese Brandstiftung lag in der Handlungsmacht der Personen und sie hat auch etwas bewirkt: wir haben hingeschaut.

Wenn vorher über die marode Asylpolitik der EU gesprochen wurde, diskutiert man nach der zu Beginn genannten Aussage nur noch über potentielle Täterschaft. Sie dient also allein einer Diskursverschiebung, weil sie ansonsten keiner logischen Argumentation folgt. Denn die Situationen in den Lagern waren und sind schlicht katastrophal, ganz unabhängig davon, ob es dort gebrannt hat, oder nicht. Hilfe ist nötig, und sie war es schon vorher.

Zum Thema:

Video: Bei dieser Verzweiflung in Moria ist sogar die WDR-Reporterin sprachlos

Autorin: Sophia Sailer / „Die Millenial“. Artikelbild: photocosmos1, GeorgGassauer


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