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Polizei auch dann „Gewaltopfer“, wenn keiner oder nur sie selbst zuschlägt

von | Jan 15, 2023 | Analyse

Vorab: Selbstverständlich gibt es verabscheuungswürdige und durch absolut rein gar nichts auch nur ansatzweise zu rechtfertigende Gewalt gegen Polizist:innen. Punkt.

Das wissen wir nicht erst seit dem Mord an der Polizistin Michelle Kiesewetter durch den NSU (Vornamen der Täter: Uwe und Uwe). Seit der Ermordung eines SEK-Beamten in Georgensmünd durch einen Reichsbürger (Vorname: Wolfgang) werden solche Einsätze gegen mutmaßliche Angehörige der Szene grundsätzlich mit Spezialkräften durchgeführt.

Doch auch die Schutzweste eines SEK-Beamten bei der Festnahme eines verschwörungsgläubigen Drogenhändlers und Holocaustleugners (Vorname: Thomas) in Gelsenkirchen verhinderte nicht die Ermordung des Elitepolizisten. Und in zwei Wochen jährt sich der Doppelmord an einer Polizistin und ihrem Kollegen bei einer Verkehrskontrolle auf einer Kreisstraße bei Kusel durch einen Wilderer (Vorname: Andreas).

GEWALTBEGRIFF MIT FRAGEZEICHEN

Zu „echter“ Gewalt gegen Polizeibeamt:innen gehört unter anderem natürlich auch das Werfen von Molotowcocktails auf Einsatzkräfte ungeachtet des von den Täter:innen „erwünschten Erfolgs“ – also der Verletzung oder gar Tötung eines oder mehrerer Menschen.

Das Problem sind vor allem jene Delikte, bei denen ausschließlich Polizeibeamt:innen als „Gewaltopfer“ erfasst werden können. Bei gleichen Tatbegehungsweisen würden Otto- oder Muratnormalbürger wahrscheinlich auf jedem Polizeirevier schallend ausgelacht, wollten sie diese nach ihrer „Opferwerdung“ zur Anzeige bringen.

POLIZEIBERICHTE KRITISCH HINTERFRAGEN!

Unter genau dieser Überschrift veröffentlichte der Deutsche Journalistenverband im Juli 2019 einen dringenden Appell an alle Journalist:innen mit dem wichtigen Hinweis, dass die Polizei bei Auseinandersetzungen Partei sei und nicht unparteiischer Beobachter. Hintergrund war die Räumung des Tagesbaus Garzweiler, bei der viel zu hohe Zahlen der Polizei zu angeblich durch Gewalttaten verletzten Beamt:innen ungeprüft von Presse und Medien übernommen wurden. Später stellte sich heraus, dass nur ein Viertel der Verletzungen auf Fremdeinwirkung zurückzuführen war.

Quelle: Deutscher Journalistenverband

Man muss leider konstatieren, dass dieser Appell weitgehend ungehört verpuffte. Über regionale oder bundesweite Statistiken zu angeblichen Gewalttaten gegen die Polizei, die durch die Polizei erfasst wurden, wird von fast allen Redaktionen regelmäßig nicht einmal ansatzweise mit der gebotenen Vorsicht berichtet, sogar auf den Konjunktiv überwiegend verzichtet, die aufgeführten Deliktarten mit teilweise hanebüchener Unkenntnis „einsortiert“ und das ganze allzu oft noch mit eigenen Vorstellungen darüber garniert, mit welcher Brutalität oder welchen Waffen diese „Gewalttaten“ wohl verübt worden sein müssen.

Dabei sind diese vom BKA und den Landeskriminalämtern veröffentlichten Jahresstatistiken Zusammenfassungen SÄMTLICHER Situationen, in denen die Polizei laut DJV „bei Auseinandersetzungen Partei war und nicht unparteiischer Beobachter“ und wären somit eigentlich erst recht mit maximaler Vorsicht zu „genießen“!

JEDER KOCHT SEIN EIGENES LAGEBILDSÜPPCHEN

Zahlreiche Landeskriminalämter veröffentlichen eigene „Lagebilder Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte“ und definieren dafür auch eigene Straftatenkataloge für jene Delikte, bei denen Polizeibeamt:innen als „Gewaltopfer“ zählen, wenn sie eine entsprechende Anzeige anfertigen.

In Bayern beispielsweise zählen Beleidigungen gegen Polizist:innen als „psychische Gewalt“ und landen somit ebenfalls im entsprechenden „Gewalt“-Lagebild. In NRW werden männliche wie weibliche Polizisten als „Gewaltopfer“ erfasst, wenn sie das unaufgeforderte Entblößen (§ 183 StGB „Exhibitionistische Handlungen“) eines männlichen Geschlechtsteils mit ansehen müssen und nur diese werden durch den entsprechenden Straftatbestand erfasst.

Das Bundeskriminalamt führt die Zahlen aus den Ländern zusammen, ergänzt diese um ggf. fehlende Fälle der Bundespolizei, streicht mehrere Deliktarten aus den unterschiedlichen Länderkatalogen und „harmonisiert“ somit das Bundeslagebild auf verschiedene Straftatbestände vom „Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte“ bis zum Mord.

Doch auch dieser Straftatenkatalog ist mehr oder weniger willkürlich gewählt wegen der fehlenden kriminologischen Definition von „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamt:innen“, wie das Bundeskriminalamt immerhin anmerkt. Und er geht deutlich darüber hinaus, was in den polizeilichen Kriminalstatistiken als „Gewaltkriminalität“ definiert ist – jene Straftaten und Begehungsweisen also, denen auch Taxifahrer:innen, Lehrer:innen oder medizinisches Personal zum Opfer fallen können.

Quelle: Bundeskriminalamt

„GEWALT“-ERFASSUNG BEI WIDERSTANDSDELIKTEN

Im derzeit aktuellen Bundeslagebild zum Kalenderjahr 2021 zählen insgesamt 88.626 Polizist:innen als „Opfer“ von „Gewalttaten“. Mit 46.410 wurde mehr als die Hälfte (52,4 %) davon als „Opfer“ von Widerstandsdelikten erfasst. Eine Straftat gegen den „Staatlichen Vollstreckungsanspruch“, nicht gegen die körperliche Unversehrtheit der jeweiligen Beamt:innen: Der „Gewalt“-Begriff im entsprechenden § 113 StGB beschreibt eine mitunter sehr niedrigschwellige „körperliche Anstrengung“.

Typische Situationen: Personen sperren sich gegen eine Diensthandlung, indem sie sich bspw. bei einer Abschiebung an einem Türrahmen festklammern oder verriegeln die Seitenscheibe ihres PKWs bei einer Verkehrskontrolle.

Dass laut Bundeslagebild knapp die Hälfte (49,3 %) der Tatverdächtigen von „Gewalt“ gegen Polizeibeamt:innen unter Alkoholeinfluss handelte, liegt wohl nicht allein an der enthemmenden Wirkung von Alkohol. Thomas Fischer – Autor, Rechtswissenschaftler und ehemaliger Richter am Bundesgerichtshof – formulierte sehr treffend, wie leicht eine stark alkoholisierte Person zum Tatverdächtigen für ein Widerstandsdelikt werden kann.

Quelle: Thomas Fischer in „Die Zeit“ vom 31.1.2017

HANDLUNGSUNFÄHIGE PERSONEN ALS „GEWALTTÄTER:INNEN“

Mit der oben erwähnten niedrigschwelligen Anstrengung können sich Tatverdächtige für Widerstandsdelikte selbst in Situationen bringen, in denen sie kaum eine Möglichkeit hätten, körperliche Gewalt gegen Polizeibeamt:innen auszuüben. Und dennoch werden die Polizist:innen allein durch ihre Anzeigen als „Gewaltopfer“ erfasst.

In Berlin, das ja derzeit als Hotspot der „Gewalt“ gegen Polizist:innen in Diskussionen sehr en vogue ist (bei den Flächenländern „führt“ laut BKA Mecklenburg-Vorpommern vor Thüringen), dürfte Sekundenkleber im gerade abgelaufenen Berichtsjahr zur am häufigsten genutzten Waffe für solche „Übergriffe“ avanciert sein.

BRUTALES RUMSITZEN

In den meisten Bundesländern erfasst die Polizei Demos von „Aufstand letzte Generation“ als Nötigung nach § 240 StGB, wenn sich die Teilnehmer:innen auf Straßen festkleben und dadurch mehr oder weniger lange Staus verursachen. Nötigung ist zwar ebenfalls im BKA-Katalog der möglichen „Gewalttaten gegen Polizeibeamt:innen“ erfasst, doch zählen sie in solchen Fällen nur dann auch als „Gewaltopfer“, wenn sie selbst mit einem Einsatzfahrzeug in diesem Stau stehen. In jeder Position außer der ersten Reihe – diese gilt als die Blockade, die die Demonstrant:innen gegen alle dahinter stehenden errichtet haben.

Alle anderen, die im selben Stau stehen, aber keine Polizeibeamt:innen sind, zählen übrigens nicht als „Gewaltopfer“, weil Nötigung gar nicht zu den Straftatbeständen der Gewaltkriminalität zählt.

TATMITTEL SEKUNDENKLEBER

In Berlin aber fertigen die Beamten auch Anzeigen wegen Widerstands nach § 113 StGB gegen Klimademonstrant:innen, die sich auf dem Asphalt festkleben. Die Logik dahinter: Durch eine niedrigschwellige körperliche Anstrengung (Sekundenkleber aufschrauben, Auftragen des Klebstoffs auf die Handfläche, Anpressen der Handfläche auf den Asphalt) wird die Diensthandlung „Wegtragen einer Person zur Räumung der Straße“ erschwert.

Das wiederum heißt: Die Polizeibeamt:innen, die mit Speiseöl gefüllte Einwegspritzen nutzen, um Klimademonstrant:innen zunächst von der Straße lösen, damit sie diese wegtragen können, gehen allein durch die Anzeigen wegen Widerstands als „Opfer von Gewalttaten“ in die Statistik ein, die Demonstrant:innen als Tatverdächtige für diese „Gewalttaten gegen Polizist:innen“.

So kommen dann mal schnell 66 „Gewalttaten“ mit mindestens(!) genauso vielen Polizeibeamt:innen als Opfer zusammen an nur zwei Klimademotagen in Berlin, auch wenn die jeweiligen Räumungen in entsprechenden Presseberichten als „friedlich“ beschrieben werden. Klar, wer kommt schon auf die Idee, dass kniende Beamt:innen mit Speiseölspritzen, die sich womöglich ruhig und höflich mit klebenden Jugendlichen unterhalten, in diesem Moment „Opfer von Gewalttaten“ werden?

Quelle: Antwort des Berliner Senats auf kleine Anfrage zu Straftaten bei Klimademos.

UND WENN EIN WIDERSTAND ESKALIERT?

Das ist ein häufig gelesener Einwand, auch von einigen Polizeibeamt:innen und wäre bis 2017 völlig gerechtfertigt gewesen. In diesem Jahr wurde der § 114 StGB „Tätlicher Angriff auf Vollstreckungsbeamte“ (mehr dazu später im Artikel) eingeführt, der Tätlichkeiten gegen Polizist:innen ungeachtet einer gerade durchgeführten Diensthandlung härter bestraft als beispielsweise die (einfache) Körperverletzung nach § 223 StGB.

Was dabei aber weitgehend unterging: Beim Widerstandsdelikt (§ 113 StGB) wurde gleichzeitig der Passus „oder dabei tätlich angreift“ gestrichen. Seitdem geht es beim Widerstand nur noch um Handlungen, die eine Diensthandlung erschweren, OHNE die ausführenden Beamt:innen dabei anzugreifen.

Das heißt: Sobald eine Person, die sich beispielsweise bei der Räumung einer Demo an einem Laternenpfahl festhält, versucht Beamt:innen zu schubsen oder zu schlagen oder auch nur eine Kopfnuss andeutet, ist die Handlung in der Statistik wegen der höheren Strafandrohung nicht mehr als Widerstand, sondern als „Tätlicher Angriff“ auszuweisen.

Widerstandsdelikte nach § 113 StGB sind somit seit 2017 per Definition keine Angriffe gegen Polizeibeamt:innen.

Quelle: Bundeskriminalamt

WIDERSTAND ALS „KONTERANZEIGE“

Beamt:innen, die unrechtmäßig Gewalt gegen Personen ausüben, sind (aus ihrer Perspektive!) „gut beraten“, diese für den Fall einer Anzeige wegen „Körperverletzung im Amt“ ihrerseits wegen eines Widerstandsdelikts anzuzeigen.

Bei abgesprochenen Aussagen unter den Beamt:innen ist es wohl nur in Ausnahmefällen zu widerlegen, wenn diese behaupten, nur deshalb mehrfach auf den Kopf des „Tatverdächtigen“ eingeschlagen zu haben, damit dieser endlich aufhört, sich am Türrahmen der heimischen Küche oder seines Zimmers in der Gemeinschaftsunterkunft für Geflüchtete festzuklammern.

Mittlerweile wurden mehrere Fälle publik, in denen die Beamt:innen nicht wussten, dass die durch sie frei erfundenen Tatvorwürfe zur Rechtfertigung der eigenen Gewaltexzesse mit nicht bemerkten Kameraaufzeichnungen widerlegt werden konnten.

Findige Anwält:innen halten das entsprechende Beweismaterial bis zur Verhandlung gegen ihre Mandant:innen zurück, damit die Verschwörung unter den Beamt:innen nicht mehr vertuscht werden kann. Über einen dieser Fälle hatte der Trierer Volksfreund berichtet: Trier: Polizeigewalt? Staatsanwaltschaft ermittelt gegen Polizisten nach gewalttätigem Einsatz (volksfreund.de)

Der Volksverpetzer hat eine recht stattliche Sammlung solcher Fälle und wird diesen demnächst einen eigenen Artikel widmen. Darüber, dass unrechtmäßige Polizeigewalt allein durch die Anzeigen der prügelnden Beamt:innen automatisch als Gewalt gegen(!) Polizeibeamte erfasst und in den entsprechenden Jahresstatistiken ausgewiesen wird, hatten wir vergangenes Jahr ausführlich berichtet:

BODYCAMS ZUR SELBSTDISZIPLINIERUNG?

Hartnäckig hält sich die Hoffnung, dass derlei Gewaltexzesse durch Polizeibeamt:innen verhindert werden könnten, wenn sie wissen, dass ihr Handeln per Bodycam gerichtsfest dokumentiert wird. Das Problem: In den meisten Bundesländern (Ausnahmen: Bremen und Thüringen) ist es gar nicht vorgesehen, dass Polizist:innen diese einschalten, wenn sie auf jemanden einschlagen, der sie gar nicht angreift.

Bodycams gelten vor allem dem Schutz der Beamt:innen, nicht ihres Gegenübers. Wenn Polizist:innen einen Angriff abwehren, ohne die Bodycam einzuschalten, wirft das ggf. Fragen auf. Wenn sie aber gewaltsam den Widerstand einer Person brechen, die sich einfach nur irgendwo festhält, ist das im Einklang mit den entsprechenden Polizeigesetzen.

ZWEITHÄUFIGSTES DELIKT: DER „TÄTLICHE ANGRIFF“

2017 wurde trotz der Bedenken etlicher Jurist:innen und Kriminolog:innen der § 114 StGB „Tätlicher Angriff gegen Vollstreckungsbeamte“ eingeführt, angeblich um Polizist:innen besser vor Gewalt zu schützen. Mit diesem Straftatbestand hat eine angedeutete Kopfnuss gegen einen behelmten 120kg-Beamten ohne Erfolgsaussicht oder -absicht eine höhere Mindeststrafe als beispielsweise ein Faustschlagtreffer ins Gesicht einer 50kg-Grundschullehrerin.

In der Statistik landen also jene (ggf. von Beamt:innen behaupteten) Handlungen, die zuvor als Angriff innerhalb eines Widerstandsdelikts erfasst wurden. Aber auch versuchte oder vollendete Körperverletzungsdelikte, die weiterhin im entsprechenden Straftatenkatalog enthalten sind, sowie Respektlosigkeiten wie angedeutete Kopfnüsse unterhalb der Schwelle einer versuchten (einfachen) Körperverletzung.

JAHRESVERGLEICHE: NICHT NUR IN HAMBURG HUMBUG

Die Möglichkeit, Körperverletzungen (einfach, schwer, gefährlich) gegen Beamt:innen auch als „Tätliche Angriffe“ anzuzeigen, hat sich erst sukzessive und noch keineswegs komplett durchgesetzt. Mitunter schwankt die Anzeigenpräferenz in den Ländern sogar erheblich, was Jahresvergleiche einzelner Delikte vollkommen sinnlos macht.

Trotzdem haben es BILD, CDU-Opposition und die Deutsche Polizeigewerkschaft in Hamburg versucht und sich dabei komplett blamiert:

Quelle: BILD Hamburg vom 22.2.2022

„GEWALTEXPLOSION UM +1.284,6 %“???

Die vermeintliche Vervierzehnfachung von „Gewalttaten“ bzw. Körperverletzungen (wird im Artikel synonym verwendet, siehe oben) gegen die Hamburger Polizei war der Hamburger BILD gleich zwei Artikel wert, in denen unter anderem die CDU zu Wort kam, die die entsprechende Anfrage an den Senat gestellt hatte. Die DPolG teilte das Elend kommentarlos auf Twitter.

Was war passiert? Tatsächlich wurden nur die Jahresgesamtzahlen zu Hamburger Polizeibeamt:innen als Opfer von Körperverletzungsdelikten verglichen, die die Hamburger Polizei v. a. nach § § 223, 224 und 226 angezeigt hatte – also „einfacher“, schwerer und gefährlicher Körperverletzung, jeweils inklusive Versuchen.

Deren Zahl war tatsächlich von 2020 bis 2021 binnen Jahresfrist von 13 auf 180 gestiegen. Aber: Im gleichen Zeitraum sank die Zahl der in Hamburg erfassten Opfer von „Tätlichen Angriffen“ nach § 114 StGB. Von 1.123 auf 1.017. Laut BKA-Statistik waren in beiden Jahren alle Betroffenen Polizeibeamt:innen, also keine „gleichstehenden Personen“ nach § 115 StGB.

Insgesamt stieg die Anzahl der durch die Hamburger Polizei als Opfer von „Gewalttaten“ erfassten Polizist:innen nicht um „+1.284,6 %“ (BILD) – sondern um +12,6 %.

Warum die Hamburger Polizei entgegen dem Bundestrend wieder vermehrt Körperverletzungsdelikte (vor allem schwere und gefährliche inkl. Versuchen) gegen Beamt:innen anzeigt, statt des „Tätlichen Angriffs“, wäre sicherlich eine eigene Recherche wert.

Quelle: Hamburger Senat, Drucksache 22/7263

DER „STETS VOLLENDETE ANGRIFF“

Beim Widerstandsdelikt nach § 113 StGB gibt es keine „versuchten“ Straftaten, nur „vollendete“. Das ist auch nachvollziehbar: Wer sich bspw. mit Himbeerjoghurt statt Sekundenkleber an der Handfläche auf den Asphalt „klebt“, erschwert keine Diensthandlung. Die Beamt:innen werden das ggf. mit „Netter Versuch!“ kommentieren, das war’s – kein Widerstandsdelikt.

Weitaus spannender wird das beim „Tätlichen Angriff“ nach § 114 StGB. Anders als bei Körperverletzungsdelikten gibt es hier keine Unterscheidung zwischen „versuchten“ und „vollendeten“ Straftaten. Auch der versuchte Angriff gilt stets als vollendet – ungeachtet der Verletzungsabsicht oder -aussicht!

Während bei der Anzeige eines vollendeten Körperverletzungsdelikts auch eine entsprechende Körperverletzung bspw. durch ein ärztliches Attest belegt werden müsste, ist das beim Tätlichen Angriff also egal. Sie kann einfach behauptet werden, das wäre allerdings unnötig – der Versuch zählt ja bereits als „vollendetes“ Delikt.

In den Lagebildern des BKA wird das wie folgt beschrieben:

Quelle: Bundeskriminalamt

VERLETZUNGEN ZUM GLÜCK SELTENER ALS GEDACHT

Eine vollendete schwere Körperverletzung nach § 226 StGB hat per Definition bleibende gesundheitliche Schäden zur Folge – vom Verlust des Augenlichts bis zur Lähmung. Beim vollendeten tätlichen Angriff nach § 114 StGB hingegen muss nicht einmal versucht worden sein, Beamt:innen auch nur ein Haar zu krümmen.

Bereits 2020 sollten Verletzungsgrade in der polizeilichen Kriminalstatistik eingeführt werden, das wurde noch immer nicht umgesetzt. Im Bundeslagebild „Gewalt gegen Polizeivollzugsbeamtinnen und Polizeivollzugsbeamte“ fehlen diese ebenfalls.

Das Landeskriminalamt Nordrhein-Westfalen aber hat in seinem eigenen Lagebild genau solche Angaben veröffentlicht. Als „schwer verletzt“ gelten demnach Beamt:innen, die wegen ihrer Verletzung stationär in einer Klinik behandelt wurden. Ungeachtet des zugrunde liegenden Delikts. Es müssen also keine bleibenden Schäden wie beim gleichnamigen Straftatbestand „Schwere Körperverletzung“ entstanden sein.

Von 18.183 Polizeibeamt:innen, die 2021 in NRW als Opfer von „Gewalttaten“ erfasst wurden, betraf das 13 Polizist:innen – also 0,07 %.

WIE ALSO UMGEHEN MIT POLIZEIANGABEN?

2021 wurden laut BKA-Lagebild bundesweit 88.626 Polizeibeamt:innen „Opfer“ von insgesamt 39.649 „Gewalttaten“ – zumeist Widerstand oder Tätlicher Angriff.

Da laut Bundeskriminalamt fast alle Fälle (97,7 %) aufgeklärt, also Tatverdächtige „ermittelt“ wurden, und 94,8 % der Tatverdächtigen allein „handelten“, ist die typische Konstellation eben nicht, dass irgendein „Mob“ über einzelne Beamte herfällt. Sondern es zumeist eine Person mit mehreren gut ausgebildeten und ausgerüsteten Beamt:innen zu tun hat.

Forderungen nach mehr Beamt:innen, besserer Ausrüstung oder höheren Strafen gehen somit sogar an der „Realität“ vorbei, die das Lagebild des BKA selbst vorgibt, darzustellen.

Wer den Artikel bis hierhin aufmerksam gelesen hat (Respekt!), wird typische Einleitungen wie „Sie werden getreten, geschlagen, bespuckt…“ bei Pressemitteilungen zu und Artikeln über solche Statistiken künftig sicherlich mit der auch durch den Deutschen Journalistenverband angemahnten Skepsis lesen.

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Artikelbild: Tobias Wilke