Was, wenn ich dir sage, dass du in so gut wie keinem Medium und keiner Zeitung die Wahrheit über die Silvester-Krawalle gesehen hast? Dass kaum jemand über die tatsächlichen Ursachen oder Lösungen spricht? Dass du systematisch manipuliert wurdest, dass die ganze Rhetorik, die ganzen Narrative, die du die letzten Tage zum Thema gelesen und gehört hast, ziemlich wenig mit der Realität zu tun haben?
Du würdest zu Recht sagen, ich höre mich an wie ein Verschwörungsideologe und „Querdenker“ und ja, der Aufreißer ist clickbaity gewesen. Hier haben sich nicht alle Medienschaffenden verschworen, um dich anzulügen. ABER ich habe diese Rhetorik gewählt, weil etwas passiert ist, das fast den gleichen Effekt hatte: Du kennst nicht die Wahrheit über Silvester, nicht die wahren Probleme und hast ganz falsche Vorstellungen über Kriminalität in unserem Land. Denn Medien und Politik haben ein altes Skript abgespult, das wir schon oft gesehen haben. Und das wenig mit der belegbaren Realität zu tun hat. Und es wird ein „deep dive“, also nimm dir etwas Zeit.
Wenn das Fake-Narrativ einfach … gewinnt
Das, was du in allen Medien nach den Ereignissen in der Silvester-Nacht gehört hast, was viele Politiker sich genötigt gefühlt haben, zu sagen, ist das, was passiert, wenn ein Fake, wenn Desinformation und ein wahrheitswidriges Narrativ einmal … gewinnt. Wenn sich die Fake News durchsetzt und so selbstverständlich „Mainstream“ wird, dass derjenige, der widerspricht, merkwürdig aussieht. Ich möchte dich auf eine Reise nehmen und dir zeigen, wie die üblichen Verdächtigen des Hasses und der Lüge diesmal gewonnen haben, und wie die Realität diesmal völlig untergegangen ist. Und wie immer: Alles extensiv belegt und für dich zum Nachprüfen. Du musst mir nicht glauben, ich fasse es nur zusammen.
Vielleicht erwartest du an dieser Stelle viele Fakten und Statistiken über Silvester an Neukölln, über Kriminalität und Migrationshintergrund oder wer welche Staatsbürgerschaft oder Vornamen hat. Das erwähnen viele Kämpfer gegen Desinformation und Rassismus schon seit Tagen und sie kommen später noch dran, aber diese Diskussionen zeigen schon, dass der Kampf um die Deutungshoheit des Fake-Narrativs schon verloren ist. Die Diskussion geht völlig am Thema vorbei, denn die Verschiebung des Diskurses ist schon viel früher passiert. Und das merken nicht mal diejenigen, die Rassismus und Desinformation bekämpfen wollen.
Wir reden über Symbole, nicht die Realität
Die rechte Desinformationsmaschinerie hat ein bekanntes Playbook: Besonders gute Bilder erzeugen (oder herauspicken), die symbolisch für das stehen sollen, was in ihrer Ideologie wahr sei, was im großen Ganzen passieren würde. Das sind ihre Fakes, aber auch ihre „Einzelfälle“. Sie haben fundamental unrecht, ihre oft antisemitischen Verschwörungsmythen sind unwahr. Aber sie können Menschen diese glauben lassen durch herausgepickte Zahlen oder Beispiele – und oft genug sind diese verdreht, gelogen oder aus dem Kontext gerissen.
Die Studien zeigen eindeutig: Impfungen sind sicher, aber Fake-Gläubige wollen euch Angst machen, also picken sie sich (meistens gelogene) Einzelfälle heraus, um diese zu emotionalisieren und als Beispiel zu inszenieren. Letzten Februar zum Beispiel hat die AfD den Tod eines Feuerwehrmannes der Impfung in die Schuhe geschoben, worüber sich die Familie empörte.
„Querdenker“ haben als Grund für den echten, tragischen Tod eines Schülers 2020 willkürlich Masken unterstellt. Und, mehr on topic: Jeder tragische Fall wird dort reflexhaft Menschen mit nicht-weißer Hautfarbe, Muslimen, „Linken“ oder Geflüchteten untergeschoben. In Viersen, bei Magnitz, in München, beim Brand von Notre Dame, Münster, Bottrop, Halle, Hanau und vielen anderen Fällen, wo das dann eben nicht der Fall war und dann bequem schnell wieder vergessen wird.
Warum reden wir eigentlich über Silvester in Neukölln?
Okay, lasst mich endlich konkreter werden und mal das falsche, rassistische Narrativ wiederholen, das sich durchgesetzt hat: Kriminalität, Gewalt gegen Rettungskräfte und Polizei nehmen immer weiter zu, und Schuld daran sind Menschen mit Migrationshintergrund, und an Silvester in Neukölln hat man das sehr deutlich gesehen. Achtung: Fast jedes Detail in diesem Satz entspricht nicht der Wahrheit. Widerlegen wir es mal Stück für Stück.
Ist euch nicht aufgefallen, wie pünktlich nach Silvester die Debatte plötzlich wie aus dem Nichts umgeschwungen ist? Zuerst sprach man von drohenden Angriffen auf Rettungskräfte und Verletzte, aber da nur nach Forderungen von Böllerverbot und als Reaktion auf die „Freiheits“-Rufe der Befürworter? Und kaum gab es Angriffe und Verletzte, spricht man buchstäblich plötzlich über die Hautfarbe der Angreifer?
Warum reden wir nur über Neukölln? Klar, dort gab es an Silvester Krawalle. Es gab 159 Festnahmen, verletzte Polizisten. Angriffe, Brandstiftung, Verstöße gegen das Sprengstoffgesetz oder Landfriedensbruch. Der Aspekt ist natürlich real. Wir reden einmal darüber, weil es eindrucksvolle, echte Bilder gibt. Auch wenn nicht nur ein Video, was zirkuliert, gar nicht Vorfälle dort zeigt. Eins ist vier Jahre alt, ein anderes stammt aus Hongkong 2019.
Silvester 2022: Leute mit Böllern, Zerstörung… in Borna, Sachsen
Der andere Grund ist, dass Neukölln einen selbst für Berlin hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund hat. Deswegen müssen wir gar nicht darüber sprechen, wie viele der Tatverdächtigen jetzt welche Staatsbürgerschaft haben, oder wie viele, die eine deutsche haben, jetzt Jürgen oder Ali heißen. Ich weiß, das ist gerade die zentrale Debatte, die nicht mehr weit entfernt ist von der Forderung nach einem Arierausweis, aber es ist müßig, mit den Rassisten darüber zu debattieren, wer von denjenigen bei diesem einen Vorfall Mensch zweiter Klasse in unserem Land sein darf und wer nicht – und das an Vornamen oder dem „Phänotyp“ festzumachen.
Warum hast du wahrscheinlich bis heute noch nichts von Borna bei Leipzig gehört? An Silvester sollen 200 Menschen auf dem Marktplatz randaliert haben, Polizisten wurden mit Böllern und Raketen angegriffen, ein Einsatzfahrzeug wurde beschädigt. Man versuchte, den Weihnachtsbaum anzuzünden, Verkehrsschilder zerstört, Fassaden, Fenster und Weiteres zerstört. Die Festgenommenen: ebenfalls junge Männer. (Update: Auch diese Geschichte ist teilweise aufgebauscht – hier mehr dazu)
Im ganzen Land gab es Krawalle, Verletzte, sogar Tote
Klar, es ist auch nicht so dramatisch wie Neukölln und es gibt keine so krassen Bilder, das sind Faktoren. Aber die anderen dürften sein, dass der Migrantenanteil in Borna, Sachsen deutlich geringer ist und die ähm .. „Phänotypen“, der buchstäblich auch „Sieg H***“ rufenden Randalierer seltsamerweise keine Debatten über Integration oder die Frage nach den Vornamen einlädt. (Nachtrag: Auch hier sei in der Berichterstattung wohl etwas übertrieben worden sein, hat eine ZEIT-Journalistin recherchiert) Es gab in ganz Deutschland Randale. In Bonn gab es Ausschreitungen von vermummten Jugendlichen, in Essen gab es Randale, Hagen, Wuppertal, Kehl, Markleugast. Und bleiben wir mal gezielt in Sachsen: In Jahnsdorf, Thum, in Elterlein, Rossau, Drehbach und vielen weiteren gab es Verletzte und Angriffe mit Böllern durch Jugendliche. Man könnte die Liste beliebig erweitern.
Im ganzen Land gab es Verletzte, Angriffe auf Rettungskräfte und sogar mindestens einen Toten an Silvester – in Leipzig, nicht Neukölln. Aber was vor dem 31.12.2022 alles als Argument für das Böllerverbot hergehalten hätte, sind plötzlich Belege für angeblich steigende Gewalt und dass man Menschen mit anderer Hautfarbe unter Generalverdacht stellen sollte. Darum reden fast alle nur über Berlin und Neukölln. Es funktioniert symbolisch am besten für dieses rassistische Narrativ. Niemand leugnet, dass es Nicht-Deutsche oder Menschen anderen „Phänotyps“ auch Tatverdächtige sind. Es geht darum, dass die Bilder, die Narrative und Debatte so gezielt inszeniert sind, um uns Glauben zu lassen, es ging nur und vor allem um diese. Das ist der rassistische Taschenspielertrick vom Silvester.
Warte, sagtest du vorhin, Video ist „vier Jahre alt“?
Wenn es im ganzen Land randalierende Jugendliche gab, Barrikaden, Angriffe mit Raketen, auch auf Helfer und Polizei, dann kann Neukölln und der eine Fall mit hohem „Migrantenanteil“ nicht der Beleg für den Rassismus sein, den seine Verteidiger gerne hätten. Zu den Statistiken kommen wir nachher noch. Überall haben Jugendliche randaliert und Rettungskräfte angegriffen. Und das war auch in den Vorjahren schon so.
In den Medien könnte man den Eindruck erwecken, das sei alles plötzlich passiert und nicht normal an Silvester. (Nicht, dass ich dafür sei, aber was meint ihr denn, wovon die Böller-Verbot-Befürworter denn immer reden?). Ich zitiere mal die Tagesschau: „Die Angriffe auf Rettungskräfte und Polizisten an Silvester und Neujahr haben eine politische Debatte ausgelöst. Justizminister Maas und andere Politiker fordern härtere Strafen für die Täter. Die Attacken hätten lebensbedrohliche Ausmaße angenommen, sagte die Polizei.“ Das war 2018. Dèjá-vu?
Ich habe für diesen Artikel buchstäblich Bilder von Ausschreitungen genommen, die Leipzig Silvester 2019 zeigen. Auch dieser Vorfall wurde verzerrt und instrumentalisiert. Ist das jemandem aufgefallen? Sehr ihr, wie austauschbar diese Vorfälle sind? Die Frage danach, wie viele „Mohammeds“ darunter waren, wurde nicht einmal gestellt. Wir reden auch deshalb so viel über Silvester Neukölln, weil es so schön vermeintlich das rassistische Narrativ der wegen „Migranten“ schlimmer werdenden Gewalt entspricht. Weil man eine der erfolgreichsten Geschichten unseres Landes damit verkaufen kann: Es wird alles schlimmer und der Ausländer ist schuld.
Ist es überhaupt schlimmer geworden an Silvester?
Im „Freitag“ kommentierte Sebastian Friedrich: „Haben denn die Silvester-Krawalle wirklich eine neue Qualität erreicht? Berichte vom Jahreswechsel 2018 etwa lesen sich jedenfalls ganz ähnlich wie die von 2022. Forderungen, der Staat müsse jetzt klare Kante zeigen, hat es wie Debatten über ein Böllerverbot auch in vergangenen Jahren gegeben. Ob 2022/23 tatsächlich aggressiver gegen Einsatzkräfte vorgegangen wurde, lässt sich unabhängig kaum überprüfen.“
Auch Kollege Reisin von Übermedien hat akribisch die Pressemeldungen durchforscht und ich zitiere hier mal, wie er die vielen Meldungen zusammengesucht hat, die eine FRIEDLICHE Silvester-Nacht berichten, die aber beim ganzen cherry picking völlig untergehen:
„In Hannover zog die Polizei »eine weitestgehend positive vorläufige Bilanz«.
In Stuttgart zog man eine »positive Bilanz« ohne »schwerwiegende Vorkommnisse«.
Die Münchner Bilanz war »arbeitsreich«, aber augenscheinlich ohne besonderes Gewaltgeschehen.
Auch Ober- und Mittelfranken, inklusive Nürnberg zogen eine »positive Bilanz«.
Ein »positives Fazit« gab es auch in Leipzig, ganz im Gegensatz zum letzten »richtigen« Silvester vor der Corona-Pandemie, als es zu Straßenschlachten mit Teilen der linken Szene kam, über die medial auch mehr oder weniger hysterisch berichtet wurde.
In Düsseldorf sprach die Polizei zwar von einer silvestertypisch »hohen Einsatzintensität«, vermeldete aber gleichzeitig »bislang keine schweren Straftaten«.“
Übermedien
Reisin erklärt den Punkt, auf den ich auch hinaus will: Die Medien schaffen unsere Wahrnehmung und die basiert nicht auf Statistiken, die es teilweise auch einfach nicht gibt oder geben kann, und deswegen verwechseln wir ganz viele Beispiele mit der Realität. Ich muss das Rad nicht neu erfinden und zitiere ihn gerne noch mal: „Faktenlage? Agenda-Setting! Ob die Ereignisse in Berlin allerdings die Ausnahme oder die Regel darstellen, verschwimmt medial seitdem komplett. So behauptet exemplarisch »Die Zeit« am 2. Januar unter der Überschrift »Lauter, härter, brutaler« , es habe »bundesweit« »Angriffe auf Einsatzkräfte« gegeben und: »Die Gewalt fiel extremer aus.«“
Silvester: Viele Schlagzeilen sind nicht zwingend die Realität
Reisin beschreibt das Problem, entweder die „Pressemeldungen der Polizei zum Jahreswechsel sind mehr oder weniger wertlos – oder Medien inszenieren sich einen Gewaltexzess, der in dieser Form nicht stattgefunden hat.“ Natürlich beklagen Polizei und Rettungskräfte die Situation, das verstehe ich auch und ich bin da auch auf ihrer Seite. Aber sie betreiben Agenda-Setting, das wiederum von den Medien unkritisch reproduziert wird. Gerade die Polizei hat Hardliner, die uns seit Jahren erzählen, dass alles schlimmer, brutaler, gefährlicher wird. Das ist Lobbyismus für sich selbst, der übrigens nicht der Realität entspricht. Reisin hat noch deutlicher die Trittbrettfahrer dieses Narrativs analysiert, und auch die Hilflosigkeit der Böllerverbot-Debatte, ich empfehle die ganze Lektüre bei Übermedien.
Und das war doch auch schon seit Jahren klar, wird aber regelmäßig „vergessen“, wenn man einfach nur fix einen Artikel zum Thema runterschreiben muss. 2015/2016 hatte Soziologe Armin Nassehi schon mit Blick auf Köln gesagt:
„Man muss sich erst einmal ein Bild machen, das noch nicht ganz klar ist. Für mich als Soziologen ist interessant an dieser Situation, dass die Leute ihre Rollen spielen, wie man das erwartet: Politik wird Handlungsfähigkeit darstellen und simulieren; die Polizei wird bestimmte Strategien in den Vordergrund stellen; Anti-Rassisten warnen davor, Vorurteile zu schüren; diejenigen, die gerne Vorurteile schüren, tun das. Aus der Distanz betrachtet findet dort ein Spiel statt, für das es fast ein Skript im Hintergrund gibt. Alle reden, wie man es von ihnen erwartet, und am Ende kommt wahrscheinlich nicht viel dabei heraus.“
Nassehi
Alle Medien, Polizei, auch die Politik hat ihre Rolle gespielt. Bei den meisten Deutschen bleibt hängen: Dein Arbeitskollege Jawed ist verdächtig, oder Stephan, der zwar Stepan heißt, aber sein „Phänotyp“ ist nicht ganz richtig.
Und dann akzeptiert man die rassistischen Prämissen
Ihr seht, diese ganze Silvester-Rassismus-Gewalt-Debatte ist von vorne bis hinten inszeniert. Und zwar nicht Scholz-Diktatur-Lügenpresse-Style, sondern aufgrund der natürlichen Dynamiken der Medienlandschaft, jeder Menge Akteuren mit verschiedenen Agendas und weil man auch machtlos ist, über ein Thema zu sprechen, auch um es zu widerlegen, wenn jemand anderes bereits Framing und Priming erfolgreich betrieben hat. Es ist cherry picking von bestimmten Ereignissen, es ist Priming durch Rhetorik und der Fokus auf die Begriffe und Framing, da es plötzlich um Hautfarbe geht. Und wer korrekt feststellt, wie es alle Experten sagen, dass Hautfarbe und Kriminalität nichts miteinander zu tun haben, sondern Geschlecht, Alter und Wohlstand, dann wird man als „Realitätsverweigerer“ angeguckt. Der „Mittelweg“ ist dann nur, um Migration zu reden, aber diese völlig heterogene Gruppe halt als Opfer darzustellen.
Und dann ist es bequemer, einfach mit dem rassistischen Sturm zu schwimmen und das falsche Narrativ zu verstärken. Unsere Innenministerin Faeser hat vor Weihnachten noch die Brandmauer gegen rechts beschworen, aber die reißt sie selbst ein, wenn sie von einer „Verrohung“ spricht und dann allen Ernstes von „gewaltbereiten Integrationsverweigerern“. Wenn eine FDP-Politikerin den NS-Begriff „kulturelle Verfremdung“ nutzte (und Tweet später löschte) und ein CDU-Politiker noch von „Phänotyp: westasiatisch“ spricht, dann brauchen wir die rechtsextreme AfD nicht mehr. Was natürlich nur heißt, dass durch die Adelung aus der „Mitte“ die rechtsextremen Rassisten noch mehr Zulauf bekommen und sich noch mehr festbeißen.
DEUTSCHLAND WIRD IMMER SICHERER – ZEIGEN DIE ZAHLEN
Wollt ihr die Realität? Die Fakten, Zahlen? Passt auf, die zwei Narrative „Es wird immer schlimmer“ und „Ausländer sind schuld“ sind so etabliert in unserer Gesellschaft, die Realität ist in manchen Kreisen so undenkbar, ich komme mir vor wie derjenige, der feststellt, dass der Kaiser nackt ist.
Laut aktuellster PKS war 2021 das fünfte Jahr in Folge, in dem Deutschland so sicher war wie seit der Wiedervereinigung nicht und die Anzahl der Straftaten erneut, diesmal um weitere 4,9 %, gesunken sind. Darunter auch wieder Gewaltkriminalität (Insgesamt: -6,8 %; Mord, Tötung und Tötung auf Verlangen: -12,1 %; gefährliche und schwere Körperverletzung: -6,2 %). Da wir über Rassismus reden: Nicht-Deutsche Tatverdächtige (Nicht Täter, dazu später mehr) gingen um 3,6 % zurück und sog. „Zuwanderer“ (was das eigentlich heißen soll, auch in Kürze) sanken ebenfalls um 3,8 %. Die Zahl der Straftaten von sog. „Zuwanderern“ sank sogar am stärksten von allen (um 4,3 %, Vergleich deutsche: -1,7 %). Nachdem die Zahl für Nicht-Deutsche 2020 bereits um 5,2 % und „Zuwanderer“ um 11,4 % sank (Quelle), und 2019 -2,0 % und -8,9 % respektive (Quelle). Ein deutlicher Abwärtstrend seit Jahren, besonders bei „Nicht-Deutschen“ und sog. „Zuwanderern“, auch ihr relativer Anteil ist leicht gesunken in den letzten Jahren. Erzählt das mal der AfD.
Wie selbstverständlich steht regelmäßig – nicht nur an Silvester – „Lauter, härter, brutaler“ , „Kriminalität: Wie gefährlich ist das Leben in Deutschland?“, oder „Gewalt zwischen Deutschen und Zuwanderern geht meist von einer Seite aus“ als Schlagzeile? „Deutschland so sicher wie nie“ steht nirgendwo, obwohl es richtig ist. Verkauft sich nicht gut. Und übrigens: Zerstört fundamental das AfD-Narrativ von dem Deutschland, das seit 2015 untergeht oder so. Diese Tatsache wirkt wie aus einem Paralleluniversum in AfD-Gruppen. Warum spricht das kaum jemand an??
… aber die Proportionalität!
Und egal, ob ich die Zahlen da oben anführe oder jemand darauf hinweist, dass unter den Tatverdächtigen (!) mit 45 Personen die größte Gruppe die deutsche Staatsangehörigkeit hatte, wird jemand an dieser Stelle mit „Überproportionalität“ kommen. Nicht nur, dass es grundsätzlich merkwürdig ist, wieso die Hautfarbe oder Nationalität die exakt gleiche Straftat plötzlich verwerflich(er) oder problematisch(er) machen sollen, ist diese „Überproportionalität“ ein Mythos, der ebenfalls extrem weit verbreitet ist.
Die Zahlen sind nicht mehr ganz aktuell, aber wie wir oben gesehen haben sogar „besser“ geworden, aber wusstet ihr, dass anerkannte Geflüchtete dreimal WENIGER kriminell sind als deutsche Jugendliche? Wusstet ihr, dass es MEHR Ausländer gibt als Deutsche? Also insgesamt, auf der ganzen Welt? Ich bin cheeky, aber das ist der Knackpunkt. Deutsche sind in Österreich auch überproportional kriminell. Der Vatikan hat die höchste Kriminalitätsrate der Welt und die höchste Ausländerkriminalität.
Weil „Ausländer“ ja auch in ein Land fahren können, dort Tatverdächtige (nicht Täter!) werden können und wieder nach Hause fahren. Tobias Wilke hat das für Volksverpetzer alles bereits 2019 erklärt: „Nichtdeutsche“ [müssen] keineswegs offiziell in Deutschland gemeldet sein, um sich hier regelmäßig oder gelegentlich, dauerhaft oder auf der Durchreise aufzuhalten. Im „PKS Jahrbuch 2018 Band 3“ heißt es dazu auf S. 101:
Man kann Grenzen auch überqueren…
Erst einmal die sog. „Zuwanderer“. Die bereits von der Polizei absurd benannte Gruppe der „Zuwanderer“ sind natürlich keine „Zuwanderer“ im normalen Sprachgebrauch und transportieren schon inhärent dank dem damaligen Innenminister Seehofer rassistische Narrative. Aber „Zuwanderer“ meint NICHT einfach nur Asylsuchende. In der Definition des BKA gehört auch „unerlaubter Aufenthalt“ dazu – Studenten, Touristen oder Arbeitnehmer und Geschäftsleute, aber auch professionelle Diebesbanden ohne gültige Visa. Kein Fluchtkontext also. Als polizeilich ermittelte Tatverdächtige tauchen diese zwar in der Kategorie „Zuwanderer“ auf, waren jedoch nie „Schutzsuchende“. Hier zum Beispiel ein Pole, der in die Statistik als „Zuwanderer“ einfließt:
Dann: Es sind Tatverdächtige. Es ist nicht die Statistik, was am Ende aufgeklärt wird, oder wer am Ende Täter war. Auch wer am Ende nachweislich unschuldig war, bleibt am Ende da drin stehen. Und immerhin ist die Aufklärungsquote nur 58,7 %. Und ratet mal, wer häufiger verdächtigt und angezeigt wird. Übrigens verzerrt das nicht nur die Schwere der Verbrechen wegen der sog. „Überbewertung“ der Polizei, die Straftaten regelmäßig schlimmer auf, als sie am Ende abgeurteilt werden, bei „Zuwanderern“ dürfte das wohl massiv der Fall sein. Bei „Zuwanderern“ liegt die Quote „vollendeter“ Tötungsdelikte bei nur 18,9 %. Insgesamt ist sie aber mehr als doppelt so hoch: 43 %. Diese Zahlen stellen alle einen VERDACHT dar, auch der Polizei. Hier füttern Vorurteile wieder Vorurteile: Es gibt per Definition Racial Profiling, auch Vorurteile unter Beamten, die sicherlich auch einen Faktor spielen.
Weiter Rassismus zerlegt
Aber ignorieren wir das mal: Schauen wir uns vielleicht an, wie viele überhaupt nicht zur offiziell in Deutschland gemeldeten „Wohnbevölkerung“ gehören: jene mit bekanntem Wohnsitz im Ausland (14,6 %), mit unbekanntem (6,7 %) oder ohne festen Wohnsitz (10 %). Das macht einen großen Unterschied in der Statistik.
Bereits eine ca. fünfstündige Autofahrt macht Deutschland für mehr 100 Millionen nichtdeutsche Europäer leicht erreichbar. Das macht jenen Vergleich aller tatverdächtigen Ausländer allein mit den in Deutschland gemeldeten Nichtdeutschen vollkommen sinnlos. Unser Autor Tobias Wilke hatte 2019 mit einem Zahlenspiel gezeigt, dass die echten Faktoren Männlichkeit und Alter (und Perspektive/Wohlstand) sind. Die Unter-30-jährigen Deutschen sind dreimal so oft tatverdächtig wie die über 30.
Und die einzige Gruppe, für die wir wirklich eine „Tatverdächtigenbelastungszahl“ feststellen können, sind anerkannte Asylbewerber. Und die waren 2018 lustigerweise relativ genau so wenig oft tatverdächtig wie Deutsche über 30. Und das, obwohl ihr Altersdurchschnitt offensichtlich viel niedriger als die der Deutschen. Immerhin ist jeder Vierte in Deutschland Rentner und die werden halt nicht so oft Tatverdächtige. Das liegt am Alter, Wohlstand, Geschlecht. NICHT an der Hautfarbe.
„Gewalt gegen Polizei“ ist oft gar keine
Und an dieser Stelle möchte ich gar nicht erst großartig darauf eingehen, dass die Zahlen zu „Gewalt gegen die Polizei“ fundamental verzerrt sind, von den Behörden aber gewollt aufgebauscht und in den Medien unkritisch reproduziert werden. Wir haben es hier ausführlich erklärt. Kurzfassung: Selbst per Definition gewaltfreier „Widerstand“ gegen die Polizei – § 113 StGB – ist per BKA-Definition ohne Gewalt (sonst wird es automatisch zu § 114 StGB).
Wird aber trotzdem von der BKA als „Gewalt“ gezählt. Widerstandsdelikte z. B. bei Abschiebungen werden also automatisch als „Gewalt“ (gegen die Polizei) gezählt und wandern in diese Statistik. Wenn sich z. B. also ein Geflüchteter z. B. am Türrahmen festhält, zählen alle Beamten, die ihn überwältigen, als Opfer.
Die Polizei ist in dieser Debatte auch immer ein Akteur mit einer Agenda und kaum jemand hinterfragt jemals die Polizeizahlen oder ordnet sie ein, das wird regelmäßig ungehört kritisiert. Beamte können also bei „Gewalt gegen Polizei“ nie verletzt worden sein (oft sogar andere verletzt haben), oder einfach ihr eigenes Pfefferspray abbekommen haben. Dieser Apotheker, der von Polizeibeamten zusammengeschlagen wurde, ging z. B. als „Gewalt GEGEN Polizei“ in die Statistik ein!
Kommen wir zum Silvester-Narrativ zurück
Also, ich weiß, es war ein sehr langer Text und viele Zahlen und Statistiken und ich schwöre, ich bin auf das meiste nur oberflächlich eingegangen. Die Debatte ist extrem komplex. Ja, wir müssen was gegen randalierende, alkoholisierte, perspektivlose Jugendliche machen. Ja, da sind auch viele mit „Migrationshintergrund“ darunter. Ich möchte aber daran erinnern, dass unser aller Klischee-Bild nicht eine derart heterogene Gruppe zusammenfassen soll. Ich, der Autor dieses Textes, Thomas, bin weiß, deutsch, in Deutschland geboren, hatte sogar deutsche Großeltern. Aber ich habe trotzdem „Migrationshintergrund“. Die wenigsten denken bei diesem Begriff an mich.
Der Rassismus hat in der Silvester-Debatte zweifelsohne gewonnen. Nicht wenige werden diesen Artikel nicht oder nicht unvoreingenommen lesen und uns beschimpfen, wie sie es immer tun. Aber Hautfarbe hat rein gar nichts mit Kriminalität zu tun. Kriminalität wird nicht schlimmer, im Gegenteil. An Silvester gab und gibt es immer Krawalle und sie werden weder – sorry- durch Böllerverbot, noch durch Abschiebungen gelöst (Nicht, dass man deutsche Staatsbürger mit „falschem“ Vornamen ohnehin abschieben könnte). Und ja, das heißt nicht, dass man nicht darüber sprechen sollte und etwas dagegen tun sollte. Aber kaum jemand spricht über das eigentliche Problem: Männlichkeit, prekäre Lage. Hey, vielleicht sollten wir über höhere (Mindest)Löhne und wirtschaftliche Perspektiven reden?
Wieder mal sind wir zu Silvester kollektiv in eine mediale Inszenierung hineingestolpert, deren Symbole und gecherrypickte Beispiele aus Gewohnheit und Faulheit in einem medialen und politischen System eine einfache, aber ziemlich falsche Geschichte über unser Land erzählen, von der vor allem Rechtsextreme und Rassisten profitieren. Kaum jemand traut sich oder kann dem widersprechen. Hier fehlt massiv Wissen und der „Mainstream“ ist bequem und faul und macht lieber mit.
Sprecht über die echten Probleme
Natürlich ist es kein bösartiges „Verschweigen“, wie ich augenzwinkernd getitelt habe, das ist keine „Lügenpresse“, wie genau diejenigen, die jetzt sehr sehr gerne mit diesem Narrativ mitlaufen, sonst immer gern sagen. Gar den Spieß völlig umdrehen, wie das rechte Desinformationsblatt „BILD“, das der Tagesschau typisch faktenfern und hetzerisch unterstellt, die „Wahrheit“ – die Nationalität der Täter von Silvester in Neukölln zu „verschweigen“. Am ehesten die „Lügenpresse“ sind immer noch die, die euch das mit ständigen Lügen und Manipulation eintrichtern wollen.
Und ich weiß auch, was ich hier aufschreibe, die Fakten, der Kontext, die Realität zur Silvester-Debatte – wird so ziemlich niemanden interessieren. Sie ist komplexer als „Der Ausländer ist schuld“ – oder auch nur „der Böller ist schuld“, das löst das Problem auch nicht, offensichtlich. Ich habe versucht, ein wenig reißerisch Aufmerksamkeit für die Fakten mit dem Titel zu erzeugen, so wie es die Grundidee hinter Volksverpetzer ist. Aber wenn wir wollen, dass nicht falsche und rassistische Narrative bestehen bleiben, liegt es an uns – an euch – diese Fakten und vielleicht diesen Artikel auch zu verbreiten und zu teilen. Vielleicht sind wir zur nächsten Silvester-Debatte nicht wieder so vergesslich, blauäugig und faul.
*Nachtrag: An dieser Stelle stand ursprünglich die inzwischen überholte Zahl von 145 festgenommenen Personen in Neukölln. Doch wie ich sagte: Solche Zahlen muss man kritisch hinterfragen. Das hat der Tagesspiegel gemacht. Die 145 Festnahmen bezogen sich auf alle Einsätze der Berliner Polizei in der ganzen Stadt. Bei den Krawallen wurden nur 38 Personen festgenommen – und davon zu 2/3 Deutsche. Die Info ist eine Randnotiz, zeigt aber umso mehr, wie fiktiv die rassistische Erzählung war.
Artikelbild: Sebastian Willnow/zb/dpa