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Silvester: Nur weil es dein Weltbild bestätigt, ist es nicht gleich so passiert – Borna

von | Jan 12, 2023 | Aktuelles

Ich hatte vor einigen Tagen in einem langen, ausführlichen Artikel dargelegt, was in der deutschen Berichterstattung zu Silvester schief gelaufen ist. Und wie aus dem Nichts ein – natürlich durchaus berichtenswerter – Vorfall in Neukölln nicht nur weit über die Verhältnismäßigkeit aufgebauscht wurde, sondern – auch dank falscher/irreführender Polizeimeldungen – gar zu einer völlig falschen und extrem rassistischen Diskussion ausartete. Besonders Rechte, aber alle, die ihren Rassismus bestätigt sehen wollten, hatten entsprechende falsche Meldungen geteilt. Aber nur, weil eine Schlagzeile vermeintlich dein Weltbild bestätigt, ist es nicht gleich auch so passiert. Mit den Berichten über Silvester in Borna ist im Kleinen etwas ähnliches passiert – wenn auch wesentlich weniger fatal.

Agenda-Setting, Narrative und fehlendes Nachprüfen

Gehen wir vorab noch mal zurück nach Neukölln. In meiner erwähnten Analyse habe ich ausführlich dargelegt, wie die Vorfälle dort – völlig unabhängig von den tatsächlichen Details, dazu gleich mehr – medial und durch bestimmte Medien und Akteure, die diese Agenda vorantreiben, von einer Pressemeldung zu einem Symbol erhoben wurden. Zu einem versinnbildlichten Narrativ. Ein Narrativ, das wiederum den Kontext völlig weglässt. Ich fasse es hier kurz noch zusammen.

Denn Krawalle, Verletzte und Angriffe auf Rettungskräfte gab es (leider) schon immer an Silvester. Ich zitiere mal die Tagesschau: „Die Angriffe auf Rettungskräfte und Polizisten an Silvester und Neujahr haben eine politische Debatte ausgelöst. Justizminister Maas und andere Politiker fordern härtere Strafen für die Täter. Die Attacken hätten lebensbedrohliche Ausmaße angenommen, sagte die Polizei.“ Das war 2018. Dèjá-vu?

Tagesschau

Ich hatte für den Artikel buchstäblich Bilder von Ausschreitungen genommen, die Leipzig Silvester 2019 zeigen, und es ist wohl kaum jemandem aufgefallen. Dabei geht es hier nicht darum, die berichtens- und kritisierenswerten Vorfälle in Neukölln zu verharmlosen – sondern um ihnen durch den richtigen Kontext den Status der Einzigartigkeit zu nehmen. Weil genau dies ja als Beweis für rassistische Narrative angeführt wird. Der Freitag hat dargelegt, dass man nicht unabhängig prüfen kann, ob Aggressionen gegen Einsatzkräfte wirklich zugenommen haben, und Übermedien hat viele Beispiele herausgesucht, von Städten, in denen es relativ ruhig war.

Erst Tage später wurden die „offiziellen Zahlen“ herunterkorrigiert

Und, um das Rassismus-Narrativ vollkommen zu entlarven – und vollständig jegliche Diskussionen über „Vornamen“ oder „Phänotypen“ im Kontext von Kriminalität zu widerlegen – habe ich sehr ausführlich die Statistiken, BKA-Zahlen, die Polizeiliche Kriminalstatistik und Expertenmeinungen zusammengefasst und kontextualisiert, um zu zeigen, dass Deutschland immer sicherer wird, und anerkannte Asylbewerber proportional viel weniger kriminell sind als Unter-30-jährige Deutsche. Und die Zahlen von „Gewalt gegen Polizei“ tatsächlich behördlich durch Tricks beschönigt werden.

Das alles hatte den Zweck, um aufzuzeigen, wie irrelevant die Meldungen für den einen Vorfall in Neukölln sind, um diese ganzen großen Welterklärungen vermeintlich zu belegen. Und zwar nicht nur die gefährlichsten, rassistischen, sondern auch die hilflose Debatte über ein Böllerverbot als alternative Lösung. Aber das vielleicht einfachste Beispiel dafür, dass „die Medien“ eine Sau durchs Dorf jagen können, und sich dabei auf falsche bzw. irreführende Zahlen stützen können, kam leider erst kurz nach dem Verfassen meines Artikels:

Von den ursprünglich gemeldeten 145 Menschen, die Polizei und Rettungskräfte angeblich angegriffen haben sollen, blieben in Wahrheit nur 38 Festgenommene übrig. Und das jetzt sogar mehrheitlich Deutsche. Diese „Präzisierung“ der Polizei kam eine Woche nach der Debatte. Und sie zeigt, wie erste Meldungen, im Affekt, weil sie sich politisch instrumentalisieren lassen, völlig unkritisch hergenommen werden können. Darum ist es so wichtig, wirklich stets kritisch zu sein – und im Zweifel kurz abzuwarten. Und die Polizei nicht als über alle Kritik erhabene „privilegierte Quelle“ behandeln sollte. (Das gilt übrigens nicht nur in diesem Kontext).

Und dann war da noch Borna… oder?

Kurz vor der Relativierung der Festgenommenen in Neukölln wurde noch eine weitere Meldung viel verbreitet, die den Vorfall (angemessen) relativierte: Die Randalierer in Borna in Sachsen. Ich hatte den Vorfall in meinem Artikel auch noch am Rande erwähnt, neben vielen weiteren Beispielen von Randalen und Verletzten in ganz Deutschland. T-Online berichtete von Angriffen auf das Rathaus, die Polizei, 200 Randalierenden und „Sieg Heil“-Rufen.

Und auch wenn das Narrativ, dass überall randaliert wurde, nicht nur in einem Berliner Stadtteil mit zufällig hohem Migrationsanteil, korrekt ist, und ein relevanter Hinweis, den ich auch gemacht habe, heißt das nicht, dass die Berichte von Borna ebenso unkritisch geteilt werden konnten. Auch wenn viele – auch ich – das gemacht haben. Wie Anne Hähnig in der ZEIT (+) recherchiert hat, war auch hier einiges übertrieben.

Zum Beispiel waren es nicht 200 Personen, die in Borna randaliert haben, sondern es waren 200 Personen auf dem Platz, aus denen heraus einige (es heißt ungefähr 30, die vermummt waren) Angriffe auf Polizei & Co. durchgeführt wurde. Das ging auch gar nicht aus der zugrundeliegenden Pressemitteilung hervor und wurde von t-Online inzwischen auch korrigiert. Auch die „Sieg Heil“-Rufe konnte Hähnig nur von einer Privatperson bestätigen. T-Online soll die Info nur von ihrem Facebook-Kommentar haben.

Nicht alles, was ins Narrativ passt, ist automatisch wahr

Also, halten wir fest. Neukölln wurde (auch wegen irreführender Polizeimeldungen) durch die üblichen Verdächtigen wenn es um Rassismus und Desinformation geht, aufgebauscht und instrumentalisiert, um ein falsches Narrativ durchzuprügeln. Aber auch Borna war nicht der eindeutig gesicherte Vorfall, wie viele dachten. In Tweets zu der Nachricht war zum Teil von 200 Rechtsextremisten die Rede oder sie wurde für eine undifferenzierte und pauschalisierenden Kritik an „Ostdeutschen“ genutzt.

Narrative zu einzelnen Meldungen sollen oft ein Weltbild beweisen. Doch auch wenn ein Narrativ richtig ist – Randale sind nicht nur ein Neukölln-Problem, sondern auch eins in Borna – müssen wir darauf achten, dass die Beispiele nicht ebenfalls aufgebauscht sind. „Gute Bilder“ dürfen nie wichtiger sein als echte, richtige, aktuelle Bilder.

Denn diejenigen, die falsche Narrative verbreiten wollen – sei es Desinformation über Impfungen oder die Klimakrise – nutzen weiter ihre aufgebauschten Einzelfälle. Sie haben auch nichts anderes. Wer aber den Anspruch hat, die Wahrheit zu verbreiten, braucht nicht nur einzelne Beispiele, der muss sie auch nicht aufbauschen. Es gibt ja genug echte Beispiele. Und vor allem: Zahlen, Studien, Expertenmeinungen. Da hat man dann auch kein Problem, sich zu korrigieren, wenn nötig. Wer Recht hat, muss keine Angst vor der Wahrheit haben. Wer sich nie richtig stellt, und weiter leugnet, muss wohl im Unrecht sein.

Artikelbild: Screenshot Facebook Bürgermeister Urban.