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Musterbeispiel „False Balancing“: Wie die Berliner Zeitung faktenwidrige Behauptungen pushte

von | Apr 6, 2023 | Aktuelles

Die Berliner Zeitung hat in den vergangenen Wochen ein negatives Paradebeispiel dafür geliefert, wie man eine False Balance baut. Von einer False Balance wird gesprochen, wenn eine wissenschaftliche Expertenmeinung und eine Meinung, die nur eine wissenschaftliche Minderheit vertritt, in Medien als gleichwertig dargestellt werden. Gut visualisiert hatte das zum Beispiel mal Quarks:

Die Berliner Zeitung ist aber noch einen Schritt weiter gegangen. Dort wurden wissenschaftliche Expertise und ein Querdenker-Text nebeneinander gestellt – ohne Einordnung für den Leser.

Autor Martin Schwab stammt aus der Querdenker-Szene

Was war geschehen? Eine Gruppe von sieben Juristen hatte in der Berliner Zeitung einen Gastbeitrag veröffentlicht. Der Titel: „Das Zulassungsdesaster: Lobbyarbeit und Rechtsbruch im Fall der mRNA-Präparate?“ Was die Berliner Zeitung aber nicht deutlich macht: Martin Schwab, einer der Autoren des Gastbeitrags, war in NRW bei der letzten Landtagswahl Spitzenkandidat für die Querdenkerpartei „Die Basis“.

Wie die Neue Westfälische (Paywall!) schon 2021 berichtete, nutzt Schwab seine Rolle als Jura-Professor an der Universität Bielefeld, um Glaubwürdigkeit für Positionen aus der Querdenker-Szene zu schaffen. Er verbreitet schon damals Desinformation zur Pandemie und hatte Kontakt zu einer rechtsextremen Aktivistin, die der NW gegenüber selbst zugibt, an Demonstrationen für die Holocaustleugnerin Ursula Haverbeck teilgenommen zu haben. In einer Rede, die Schwab einige Wochen nach der Veröffentlichung des Gastbeitrags in Detmold hält, sagt er: „Die Coronapolitik, in der praktischen Umsetzung, noch nicht in der Theorie, so wie es im Gesetz steht, wohl aber in der praktischen Umsetzung, trug alle Merkmale von Faschismus.“ (Archive-Link zur Rede, Zitat bei 22:33)

Kläglicher Rettungsversuch endet in False Balancing

Dass einer der Autoren ein Politiker aus der Querdenker-Szene ist, erfahren die Leser der Berliner Zeitung bis heute nicht. Allerdings löscht die Zeitung den Beitrag schon kurz nachdem er online gestellt wurde. Laut eigenen Angaben, weil sie „mit starken Argumenten“ konfrontiert, „die die Faktentreue des Textes infrage stellen.“ Nur um den Artikel wenige Tage später wieder zu republizieren. Der Titel diesmal: „Gab es bei den Impfungen ein ‚Zulassungsdesaster‘? Zwei Perspektiven“. Denn neben dem ursprünglichen Beitrag, an deren faktischer Richtigkeit die Redaktion wohlgemerkt zwischenzeitlich selbst Zweifel hatte, erscheint nun auch eine Replik des Molekularbiologen Emanuel Wyler. In einer Vorbemerkung schreibt die Redaktion: Auf diese Weise sollten „die Leser sich selbst einen Eindruck machen können“.

Damit könnte die Geschichte schon zu Ende sein. Die False Balance ist erreicht. In einer großen deutschen Zeitung stehen so ein Beitrag eines Wissenschaftlers und ein Beitrag aus der Querdenker-Szene als gleichwertige Meinungen nebeneinander. Dabei wäre es doch gerade die journalistische Aufgabe der Redaktion, zu prüfen, wer von beiden Recht hat. Doch die Berliner Zeitung hört an dieser Stelle nicht auf.

Berliner Zeitung: Statt Aufklärung weitere Desinformation

Wenig später erscheint dort eine weitere Replik – nicht zum Schwab-Text, sondern zur wissenschaftlichen Einordnung von Wyler. Unter dem Titel „Corona-Debatte: Es ist Zeit für eine Rückkehr zur wissenschaftlichen Seriosität“, erscheint ein Beitrag der Islamwissenschaftlerin Agnes Imhof und des Psychologie-Professors Christof Kuhbandner. Fachfremder geht es kaum.

Natürlich kann auch Kritik von außerhalb des eigentlichen Forschungsfelds berechtigt sein. Aber wenn auf einmal ein Psychologie-Professor etwas zu einem juristischen und virologischen Thema schreibt, sollte auch einer Redaktion klar sein, dass Professor nicht gleich Professor ist. Vor allem, wenn er schon Faktencheck-bekannt ist. Denn Christof Kuhbander fiel während der Pandemie vor allem mit Behauptungen auf, dass die vorhandene Übersterblichkeit auf die Impfungen und nicht auf das Coronavirus zurückzuführen sei, was er auch in seiner Antwort zu Wyler impliziert. Eine Behauptung, die schon mehrfach von Faktenchecks überprüft und widerlegt wurde, etwa vom Bayrischen Rundfunk oder hier bei dpa. Auch Volksverpetzer berichtete bereits über Studien, die zeigten, dass Impfungen die Übersterblichkeit verringern.

Zudem ist Kuhbander Mitglied im Verein Mediziner und Wissenschaftler für Gesundheit, Freiheit und Demokratie von Querdenker-Wortführer Sucharit Bahkdi.

Replik zur Replik zur Replik?!

Auch darauf gibt es für die Leser der Berliner Zeitung keinen Hinweis. Stattdessen gibt es noch einmal eine Replik zur Replik zur Replik. In einem weiteren Text kritisiert Emanuel Wyler richtigerweise, dass eine Debatte über Corona nur geführt werden könne, wenn wissenschaftlicher Konsens wie die Wirksamkeit der Impfung anerkannt wird. Auf Nachfrage des Volksverpetzers, warum er sich an diesem öffentlichen Austausch beteiligt hatte, sagt Wyler: „Es gibt viele gute Redakteure und Redakteurinnen bei der Berliner Zeitung.“ Seine Erfahrungen mit der dortigen Wissenschaftsredaktion seien gut gewesen. „Es ist aber auch so, dass zu Corona Gastautorinnen und Autoren außerhalb des Wissenschaftsteils zu Wort kommen, die anderswo nicht veröffentlichen können“, sagt Wyler. Das wollte er nicht unkommentiert lassen.

Stimmen die Behauptungen aus dem ursprünglichen Beitrag der sieben Juristen denn überhaupt? Denn der einzige Weg, wie dieses Gastbeitragsdesaster keine False Balance ist, wäre wenn die Kritik am „Zulassungsdesaster“ bei der Corona-Impfung tatsächlich so fundiert ist, dass die Redaktion gar nicht anders konnte, als sie zu veröffentlichen. Doch der Volksverpetzer hat den Text einem Virologen und einem Pharmarechtler vorgelegt, die an entscheidenden Stellen Zweifel an der Argumentation der Autoren hegen.

So falsch liegen die Autoren des Berliner Zeitung-Artikels

Im wesentlichen argumentieren die Juristen um Martin Schwab, dass es einen klaren Unterschied zwischen einer „regulären“ und einer Corona-Impfung gebe und dass mögliche Nebenwirkungen nicht ausreichend erforscht wurden, beziehungsweise auch immer noch nicht werden. Dafür bedienen sie sich zweier alter juristischer Definitionen, die die auf mRNA-Technologie basierende Corona-Impfung nicht erfüllen soll. Für die Autoren handelt es sich dabei um ein Gentherapeutikum und nicht um eine „Impfung“ (Anführungsstriche stehen so im Original). In Antwort darauf zitiert schon Emanuel Wyler in seiner Gegenrede zwei Definitionen, was eine Gentherapie ausmacht, unter anderem von der Amerikanischen Gesellschaft für Gen- und Zelltherapie (ASGCT):

„Gene therapy is the introduction, removal, or change in the content of a person’s genetic code with the goal of treating or curing a disease.“

Quelle: ASGCT

Friedemann Weber, Direktor am Institut für Virologie der Justus-Liebig-Universität in Gießen, bestätigt auf Anfrage, dass das eine gängige Definition ist. Zudem merkt er an, dass die alte juristische Definition aus wissenschaftlicher Sicht schon aus einem ganz einfachen Grund nicht zutreffend sei: „ Ein Therapeutikum dient der Behandlung einer Krankheit, eine Impfung hingegen ist ein Prophylaktikum, dient also der Vorbeugung einer Krankheit“, sagt Weber. 

Autoren der Berliner Zeitung verstehen wenig von der Impfung, über die sie schreiben

Zudem kritisiert Weber, wie die Autoren im weiteren Verlauf einen Gegensatz zwischen einer Impfung und einer Corona-Impfung „konstruieren, den es gar nicht gibt“. So schreiben die Autoren um den Basis-Politiker, eine Injektion mit einem Corona-Impfstoff führe „unmittelbar dazu, dass der Körper einen Schadstoff – und nicht wie bei herkömmlichen Impfungen unmittelbar einen spezifischen Abwehr- oder Schutzstoff […] – selbst herstellt“.

Dazu sagt Weber: „Bei mRNA-Impfungen (die keine Schadstoffe sind) stellt der Körper genauso einen ‚Abwehr- oder Schutzstoff‘ (=Antikörper) her wie bei herkömmlichen Impfungen.“ Der einzige Unterschied zwischen mRNA und einem Protein-Antigen, wie man es von Totimpfstoffen her kennt, sei, dass bei der mRNA das Antigen von der Zelle selbst gemacht wird, bei Totimpfstoffen es hingegen direkt verabreicht wird. „Im Übrigen produzieren auch die seit langem bewährten Lebendimpfstoffe Antigen in der Zelle, das ist mitnichten ein exklusives Charakteristikum der mRNA-Impfstoffe“, so Weber. Der Absatz aus dem Arzneimittelgesetz, auf den sich Schwab und Co unter anderem beziehen, ist übrigens bereits 2009 geändert worden, so dass Impfstoffe auch „rekombinante Nukleinsäuren“ wie mRNA enthalten können.

EU-Protokoll: Pharmaindustrie kann nicht allein entscheiden!

Im Rest der Argumentation behaupten Schwab und Co. wahrheitswidrig, dass die Umklassifizierung von Gentherapeutika als Impfstoff nur auf Druck der Pharmalobby zustande gekommen sei und die Corona-Impfung dadurch ohne ausreichende Studienlage zugelassen worden sei. Die Belege, die sie dafür anführen, zitieren sie sehr selektiert oder falsch. So schreiben sie, die Definition im EU-Recht „wurde erst nach einer Stellungnahme der pharmazeutischen Industrie abgeändert. […] die Pharmaunternehmen machten unter anderem geltend, dass die im Richtlinienentwurf vorgesehenen scharfen Sicherheitsauflagen die Produktion von mRNA-Gentherapeutika wesentlich verteuern.“

Aus dem angehängten Protokoll der EU-Konsultation zu dieser Frage geht aber hervor, dass Pharmaunternehmen zwar mit 25 von 44 Teilnehmern maßgeblich, aber nicht alleine an dem Anhörungsverfahren beteiligt waren. So waren unter anderem auch Patientenvertreter und das Paul-Ehrlich-Institut mit dabei. „In dieser Anhörung wurde von verschiedenen Akteuren generell für die Zulassung von Gentherapeutika auf die hohen Kosten für die Zulassung verwiesen. Bezüglich der Impfstoffe wird nicht auf die Kosten verwiesen, sondern von verschiedenen Akteuren eine Ausnahme gefordert, da diese Impfstoffe bereits einer besonderen Regulierung unterliegen“, erklärt Wolfgang Voit, Sprecher der Forschungsstelle für Pharmarecht an der Uni Marburg.

Die angeblichen hohen Kosten, die die Autoren zitieren, waren „nach dem Bericht über die Anhörung nicht der Grund für die Ausnahme für Impfstoffe“, so Voit.

Statistische Power statt Langzeitdaten

Auf dieser wissenschaftlich und juristisch fehlerhaften Grundlage ersinnen die Autoren des Gastbeitrags ein fiktives Szenario, unter dem für sie eine Zulassung von Corona-Impfstoffen vorstellbar gewesen wäre: „Mehrjährige, Placebo-kontrollierte Studien sind für Zulassungsbehörden weltweit der ‚Goldstandard‘, um Wirksamkeit und (Langzeit-)Sicherheit von Arzneimitteln nachzuweisen. Ohne solche validen Studien muss die reguläre Arzneimittelzulassung laut Art. 12 Abs. 1 der Verordnung 726/2004/EG zwingend abgelehnt werden.“

Zum ersten Satz verlinken sie aus wenig ersichtlichen Gründen eine Definition des amerikanischen „National Institute of Aging“. In dieser findet sich nichts davon, dass eine Placebo-Studie mehrjährig durchgeführt werden muss. Nur in einem Beispiel unterhalb der Definition ging es um eine Studie über sechs Jahre. Vielleicht glaubten die Autoren deshalb, diese Verlinkung würde irgendetwas beweisen? Den Mythos, dass klinische Studien mehrere Jahre dauern müssen, führen Impfgegner jedenfalls immer wieder an. Warum das nicht stimmt, erklärt Friedemann Weber: „Was man braucht ist statistische Power. Wenn man mehr als 40.000 Menschen rekrutieren kann und die Effekte deutlich sind, kann so eine Studie auch schon mal in ein paar Monaten ablaufen.“ Und bei Corona gab es nun einmal sehr viele Kandidaten, die für klinische Studien herangezogen werden konnten.

Die von den Autoren zitierte EU-Verordnung schreibt auch tatsächlich nicht vor, dass zur Zulassung eines Arzneimittels langjährige Studien nötig sind. Dass solche Studien nicht vorgeschrieben sind, bestätigt auch Wolfgang Voit. Der Virologe Friedemann Weber erklärt: „Seltene Komplikationen können bei einer Impfung auftreten. Aber schwere Symptome, die erst Jahre später auftreten, sind für Impfungen sehr unwahrscheinlich“. Und Impfstoff-Gutachterin Petra Falb klärte bei Volksverpetzer schon Anfang 2021 auf, warum „keine Langzeitdaten“ kein Problem sind:

Corona-Impfung wird genau überwacht und erweist sich als sicher

Mit ihrer Argumentation suggerieren Schwab und seine Mitautoren, dass die bedingte Zulassung für die Corona-Impfung aufgrund mangelhafter Daten geschah. Kontrollgruppen bei den Impfstoff-Studien wären zu früh aufgelöst worden, schreiben sie. So hätten Pharmaunternehmen kein Interesse daran, mögliche Risiken und Nebenwirkungen weiter zu untersuchen. Dem entgegen stehen die vielen Studien zur Impfung, die durchgeführt wurden und immer noch durchgeführt werden, schreibt bereits Emanuel Wyler in seiner ersten Replik.

Auch wenn das Verfahren zur Zulassung für Corona-Impfstoffe beschleunigt worden war, so sollten die Impfstoffe nur dann zugelassen werden, wenn es eine positive Abwägung von Risiko und Nutzen gab, fasst Wolfgang Voit den rechtlichen Hintergrund zusammen. Das ist selbst den Dokumenten zu entnehmen, die Schwab und Co. anhängen. Es wird darin abgewogen, ob es sich ethisch vertreten lässt, den Studienteilnehmern, die nur ein Placebo und keine Corona-Impfung erhalten haben, einen funktionierenden Impfstoff vorzuenthalten.

Dass Kontrollgruppen bei Placebo-Studien aufgelöst wurden, geschah also nicht willkürlich, wie die Autoren suggerieren. Stattdessen wurde zum damaligen Zeitpunkt abgewogen, dass die vorhandene Datenlage und der Nutzen eines Impfstoffes gegenüber Corona dem Risiko der Pandemie-Situation deutlich überwiegen. Die Zulassung der Impfstoffe geschah keineswegs ohne wissenschaftliche Grundlage. So legt die European Medicines Agency zu den Impfstoffen von Biontech und Moderna ganz offen dar, aufgrund welcher Studien die Impfstoffe zugelassen wurden. Bei Biontech gab es knapp 44.000 Studienteilnehmer, bei Moderna waren es knapp 30.000.

Wolfgang Voit sieht aktuell keinen Grund, an einem gründlichen und transparenten Verfahren zu zweifeln. „Zu ergänzen ist, dass bei den Corana-Impfstoffen mögliche schädliche Wirkungen sehr genau erfasst wurden. Angesichts der sehr großen Zahl an Impfungen sind damit derartige Wirkungen wesentlich genauer bekannt als bei anderen Impfstoffen oder Arzneimitteln“, sagt Voit.

Fazit: Berliner Zeitung und „False Balance“ – so sollte man es nicht tun

Lange Rede, kurzer Sinn: Der Beitrag der Juristen um Martin Schwab weist fachliche Mängel auf, die schon dann offensichtlich werden, wenn man sich nur die Zeit nimmt, die verlinkten Dokumente einmal zu lesen. Was bleibt ist, dass eine große deutsche Zeitung einen Text eines Basis-Politikers veröffentlicht hat, ohne das kenntlich zu machen. Die eigentliche Arbeit, den Text auf seine Richtigkeit zu überprüfen, hat sie einem außenstehenden Molekularbiologen überlassen – und es dem Leser dann doch so präsentiert, als seien beides legitime Meinungen, von denen sich der Leser einfach selbst ein Bild machen soll. Eine Anfrage des Volksverpetzers bei der Berliner Zeitung, inwiefern der Gastbeitrag auf Fakten gegengecheckt wurde, bleibt unbeantwortet.

Doch das heißt nicht, dass dieser Austausch in der Berliner Zeitung ganz ohne Wert ist. Wenn Journalisten miteinander über False Balances diskutieren, kommt häufig die praktische Frage auf: Wo zieht man die Grenze? Ab wann gilt jemand als Experte und ab wann nicht? Nun gibt es zumindest ein Praxisbeispiel, wie man es auf gar keinen Fall machen sollte.

Jan-Henrik Gerdener ist Redakteur bei der Neuen Westfälischen. Während der Corona-Pandemie hat er dort in verschiedenen Redaktionen zur Querdenker-Szene in OWL recherchiert. Sein Schwerpunkt sind Recherchen zu politischem Extremismus.

Artikelbild: canva.com