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Dresden: Neu-Rechte instrumentalisieren Erich Kästner

von | Apr 19, 2024 | Aktuelles

Geschichte wiederholt sich doch – in Dresden. Aber nur vielleicht. Nach dem erbitterten Streit um eine von den Freien Wählern organisierte Lesung aus Victor Klemperers LTI im November 2023 steht nun der nächste Konflikt ins Haus. Konkret: das Haus der Presse in Dresden, Redaktionsgebäude der „Sächsischen Zeitung“. Dort soll am 25. April aus „Die Schule der Diktatoren“ von Erich Kästner gelesen werden. Mit auf der Bühne sollen zu einer anschließenden Podiumsdiskussion der nach weit rechts gedriftete Kabarettist Uwe Steimle und die einstige Politikerin Antje Hermenau sitzen, die ihre einstige Partei Bündnis 90/Die Grünen extrem weit links liegengelassen hat. Oder besser: sollte. Denn ob alles nach Plan laufen wird, war am Freitag fraglich: Der Züricher Atrium-Verlag als Inhaber der Rechte am Werk Kästners hat sein Veto eingelegt.

Doch zunächst zu den Schlüsselfiguren: Damals wie bei der nun angekündigten Veranstaltung ist es an erster Stelle die Dresdner Buchhändlerin Susanne Dagen, die mit dem Begriff „Pegida-nah“ inzwischen zu harmlos beschrieben ist. Dagen will laut Ankündigung am 25. April die einführenden Worte sprechen, formal als kulturpolitische Sprecherin der Fraktion Freie Wähler/Freie Bürger im Dresdener Stadtrat. Sie hat sich in den vergangenen Jahren zu einer der wichtigsten Akteurinnen der Neuen Rechten in Sachsen gemausert. Mit Ellen Kositza, der Gattin des neu-rechten Verlegers Götz Kubitschek aus Schnellroda, hat sie auf YouTube ein gemeinsames Gesprächsformat: „Mit Rechten lesen“. Dort zu Gast waren Martin Sellner von der Identitären Bewegung und die Berliner Immobilienmaklerin Silke Schröder, Teilnehmerin des von Correctiv dokumentierten Treffens in Potsdam. Um nur zwei Beispiele zu nennen.

Auch Kubitschek war schon bei dagen

Auch der Rechtsextremist Kubitschek saß gemeinsam mit seiner Frau Kositza und Dagen am Tisch, um Ende 2023 in deren Privathaus vor laufender Kamera über die „Spaziergänge im Meinungskorridor“ zu diskutieren. Kubitschek ist der Lehrmeister der Selbstverharmlosung: „Nichts zu tun, was hinter die zivilgesellschaftlichen Standards zurückfalle“, riet er 2019 in der verlagseigenen Publikation „Sezession“. Es gehe um den „Versuch, die Vorwürfe des Gegners durch die Zurschaustellung der eigenen Harmlosigkeit abzuwehren“.

Diesem Motto soll nun die Lesung aus dem 1957 in München uraufgeführten Kästner-Drama als Beitrag der Freien Wähler zum Jubiläumsjahr – Kästner ist vor 125 Jahren geboren und vor 50 Jahren gestorben – folgen. Oder besser: sollte. Einerseits.

Krude Demokratie-Diktatur-Vergleiche

Andererseits dürfte die von den Freien Wählern getroffene Auswahl aus dem reichen Werk von Kästner nicht zufällig erfolgt sein, ist die Anspielung auf die gegenwärtigen politischen Verhältnisse in Deutschland sehr wohl beabsichtigt: „Die Schule der Diktatoren“ ist ein Lehrstück über eine Gesellschaft, die unfreier kaum zu denken ist. Der Missbrauch politischer Macht, Manipulation, Kontrolle, Repression – alles kehrt demnach immer wieder. Ist es längst wieder soweit? Wollen das die Freien Wähler sagen?

In der Ankündigung schreiben die Freien Wähler über das Kästner-Stück, der Autor „beschreibt hier, wie Diktaturen entstehen und, auch wenn sie durch eine Revolution vermeintlich überwunden wurden, dennoch innerhalb kürzester Zeit wiedererstarken können“. Und dass sie mit Steimle und Hermenau „über die einende und immer wieder bedrohte Rolle von Kunst und Kultur in politisch unübersichtlichen Zeiten sprechen“ wollen. Letztlich geht es Dagen und ihren Mitstreiter:innen immer wieder darum, die Demokratie zu vergleichen mit den Diktaturen in der deutschen Gesellschaft, mit DDR und Nazi-Zeit.

Die Dresdner Kulturbürgermeisterin Annekatrin Klepsch (Linke) sagte dem Volksverpetzer, sie halte es für „bemerkenswert“, dass sich die Freien Wähler kurz vor den Kommunalwahlen am 9. Juni entschieden hätten, „ausgerechnet aus der ,Schule der Diktatoren‘ zu lesen und nicht zum Beispiel aus ,Fabian‘ oder Kästners Lyrik, vielleicht auch seinen Büchern zum Thema Krieg und Militarisierung“. Die dahintersteckende Absicht ist aus der Sicht von Klepsch leicht durchschaubar: „Das soll einzahlen auf die behauptete Gesinnungsdiktatur.“

Die Selbstverharmlosungsstrategie der Neuen Rechten

Der Geschäftsführer des Kulturbüros Sachsen, Michael Nattke, sieht das ähnlich. Er sagte dem Volksverpetzer:

„Eine der wichtigsten Strategien der modernen Rechten ist die Delegitimierung des Staates, seiner Vertreter und Institutionen“, zum Beispiel durch Vergleiche mit Unrechtsregimen, immer allerdings als „Balancieren auf der Grenze des gerade noch Sagbaren“.

Und genau an dieser Stelle würden die Freien Wähler den Schriftsteller Erich Kästner für sich einspannen. Geradezu provoziert werden sollten so Proteste und Kritik, um dann die Kritiker:innen als diejenigen darzustellen, die Meinungsfreiheit oder kulturelle Freiheit einschränken wollten. „Das ist rechte Selbstverharmlosung par excellence.“

Der Umgang mit einer solchen Strategie ist, wie das aktuelle Beispiel aus Dresden zeigt, kompliziert. Er war es auch schon bei der LTI-Veranstaltung damals im November 2023 im Festsaal des Landhauses, in dem auch das Stadtmuseum seinen Sitz hat. Steimle und Hermenau waren seinerzeit bei der Lesung aus Klemperers Buch über die Sprache des Dritten Reiches auch schon mit von der Partie, außerdem der frühere CDU/CSU-Vizefraktionschef Arnold Vaatz, ebenfalls ein begeisterter Anhänger von Totalitarismus-Vergleichen.

Wie im November eine Klemperer-Lesung möglich wurde

Die Kulturbürgermeisterin Klepsch wollte die Lesung in städtischen Räumen damals verhindern. Auch der Reclam-Verlag als Rechte-Inhaber gab zunächst ein klares Nein: „Wir haben die Veranstalter bereits abgemahnt: Da das Werk Victor Klemperers urheberrechtlich geschützt ist, benötigen sie für eine öffentliche Lesung unsere Genehmigung als Rechteinhaber, die wir ihnen weder erteilt haben noch erteilen werden“, postete er zunächst auf Bluesky. Wenige Tage später aber wollte man „politisch neutral“ sein und erteilte für die Klemperer-Lesung doch eine Freigabe. Und der Erste Bürgermeister von Dresden, Jan Donhauser (CDU), wies die Linken-Politikerin Klepsch an, die städtischen Räume doch zu vergeben. Schließlich seien Vaatz und Hermenau „in Dresden bekannte Demokraten“, vorliegend handele es sich „nicht um eine ,neurechte‘ Veranstaltung“, schrieb er in seiner Verfügung.

Und das soll sich nun so ähnlich wiederholen, wenn auch diesmal nicht in städtischen Räumen? Tatsächlich hatten sich die Freien Wähler im ersten Anlauf wieder um das Landhaus bemüht. Das städtische Rechtsamt erteilte dem eine Absage – Dagen & Co. gingen auf die Suche nach Ersatz-Räumlichkeiten. Und beinahe wurden sie fündig: im prächtigen Programmkino Ost. Das erteilte zunächst eine Zusage, nachdem die Veranstalter signalisiert hatten, dass Schauspieler:innen des Staatsschauspiels Dresden aus Kästner lesen sollten, was dann nicht zustande kam.

Programmkino macht Rückzieher

Anfang April machte das traditionsreiche Arthouse-Kino einen Rückzieher. Geschäftsführer Sven Weser sagte dem Volksverpetzer zur Begründung, er sehe Cancel Culture kritisch, man sei ein „sehr pluralistisches Haus“. Doch gehe die geplante Veranstaltung „über unser Pluralismusverständnis hinaus“. Weser erklärte weiter: „Wir als Programmkino möchten nicht in Verbindung gebracht werden mit der Bewegung der Neuen Rechten.“

Aber will das der Atrium-Verlag in Zürich als Inhaber der Rechte am Werk Kästners? Will das die Mediengruppe Dresdner Druck- und Verlagshaus (DDV)? Sie vergibt im 1966 errichteten Gebäude der einstigen SED-Bezirkszeitung „Sächsische Zeitung“ auch Räume an externe Veranstalter.

Am Freitag überschlugen sich die Ereignisse: Die Unternehmenssprecherin der DDV-Mediengruppe, Heike Falta, verteidigte die Raumvergabe so: „Die Sächsische Zeitung ist weder Veranstalter noch Medienpartner dieser Lesung und hat auch sonst keinerlei Verbindung zu den Veranstaltern. Räume im Haus der Presse werden regelmäßig an verschiedenste Veranstalter von der DDV-Mediengruppe vermietet.“ Auch auf der Homepage der Freien Wähler war die Veranstaltung am Freitagnachmittag noch angekündigt.

Keine Lesungsrechte an politische Parteien

Doch anders als seinerzeit im Herbst der renommierte Stuttgarter Reclam-Verlag zeigt der renommierte Züricher Atrium-Verlag Haltung, wenn einer seiner Autoren für politische Propaganda missbraucht werden soll. Eine vom Atrium-Verlag beauftragte Hamburger Rechtsanwaltskanzlei teilte auf Volksverpetzer-Anfrage mit: „Der Atrium-Verlag erteilt grundsätzlich keine Lesungsrechte aus den Werken Kästners an politische Parteien und Wählervereinigungen.“ Vor diesem Hintergrund habe man „eine etwaige Genehmigung höchst fürsorglich zurückgezogen“ und dies den Freien Wählern in Dresden am vergangenen Dienstag auch so mitgeteilt.

Die beauftragte Kanzlei erklärte weiter: „Ursprünglich war aus dem Schweizer Büro des Atrium-Verlags den Freien Wählern mitgeteilt worden, dass eine Genehmigung grundsätzlich in Betracht komme.“ Die Schweizer Mitarbeiterin in der Rechteabteilung habe „im Zuge der vielen Anfragen weltweit anlässlich des 125. Kästner-Jubiläums diese Anfrage irrtümlich freigegeben“. Die Freien Wähler seien „in der Schweiz nicht bekannt“.

Funfact: Der beauftragte Advokat – der damals seinen Namen nicht nennen wollte – war derselbe, der im November 2023 im Auftrag des Reclam-Verlags mit dazubeitrug, dass im Kontext mit der Klemperer-Lesung einem Shitstorm rechter Publizisten nachgegeben wurde: „Wir können die Veranstalter nicht unter Generalverdacht stellen“, sagte er damals über die Freien Wähler.

Wie die Freien Wähler mit der neuen Information und der klaren Haltung aus Zürich umgehen, war am Freitag zunächst nicht bekannt. Dagen und der Geschäftsführer der Stadtratsfraktion, Thomas Blümel, ließen Anfragen des Volksverpetzers dazu unbeantwortet.

Artikelbild: canva.com