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Humanismus: Aber bitte kritisch!

von | Sep 6, 2022 | Aktuelles

(Selbst-)kritik an der humanistischen Szene

Gastbeitrag von Constantin Huber

Mit Leidenschaft treten Humanist:innen für die Trennung von Staat und Religion, für mehr individuelle Selbstbestimmung etwa bei den Themen Sterbehilfe oder Schwangerschaftsabbrüche und für eine stärkere soziale Verantwortung etwa beim Klimaschutz oder Schutz von Minderheiten ein. Diese und noch viele weitere Standpunkte werden mitunter aus einem humanistischen Weltbild abgeleitet, weshalb sie sich gerne auch generell für die Stärkung des Humanismus einsetzen. Allerdings gibt es in der humanistischen und etwa der damit eng verwobenen atheistischen Szene auch einige Stimmen, die aus Unkenntnis und falschen Prämissen heraus rechte bis rechtsextreme Narrative bedienen. Diese Grenzüberschreitung zieht in der Regel viel Kritik nach sich. Dabei wird dieser wichtige und legitime Vorgang von den betreffenden Personen häufig als üble Bevormundung und nicht hinnehmbarer Einschnitt in ihr Recht auf Meinungsfreiheit missverstanden. Ein solcher Umgang mit notwendiger Kritik hat fatale Konsequenzen für den Humanismus und die Gesellschaft. An vier Beispielen lässt sich das besonders anschaulich verdeutlichen.

Muslimenfeindlichkeit im Namen des Humanismus?

Freilich muss Religionskritik möglich sein. Einige der für das heutige Zusammenleben zentralsten Errungenschaften wurden erst durch das gesellschaftliche und staatliche Abwenden von der Religion möglich gemacht. Das Recht auf Versammlungsfreiheit, die Pressefreiheit, die ersten großen Schritte in Richtung Gleichberechtigung von Mann und Frau und vieles mehr lassen sich hier konkret benennen. Doch darf Religionskritik nicht mit der pauschalen Abwertung von Menschengruppen einhergehen. Wenn etwa Stimmung gegen Menschen muslimischen Glaubens gemacht wird, diese diskriminiert und abgewertet werden, dann ist das kein Humanismus, sondern Menschenhass. Betrifft dieser Muslime, wird er Muslimenfeindlichkeit genannt.

Einige bekannte Autor:innen der humanistischen Szene schaffen es hierbei nicht, trennscharf zwischen Religionskritik und Muslimenfeindlichkeit zu unterscheiden. Das wiederum führt dazu, dass sie – völlig zu Recht – von weiten Teilen der Gesellschaft in die rechte Ecke geschoben und schief beäugt werden. Wer in den Tenor von AfD, Pegida und Co. einstimmt, ja mit diesen sogar zusammenarbeitet und sich ihren Forderungen der Diskriminierung von Migrant:innen nicht widersetzt, der:die wird folgerichtig heftig kritisiert und muss damit leben, dass die meisten Menschen unserer Gesellschaft solche Tätigkeiten missbilligen. Zwar wird gern betont, dass die eigenen Worte ausschließlich gegen die Ideologie und nicht gegen die Menschen gerichtet seien. Beim Besuch solcher Veranstaltungen wird aber recht schnell klar, dass das bei einigen der Redner:innen nur Lippenbekenntnisse sind und die Bestätigung von bestehenden Ressentiments gerne in Kauf genommen werden. Da verwundert es dann auch nicht, wenn betreffende Autor:innen etwa im rechtsextremen Antaios Verlag Bücher vertreiben. Ein Ausschluss aus dem Diskurs, wo immer es möglich ist, ist in solchen Fällen nicht verwerflich, wie häufig moniert, sondern notwendig.

Auf der anderen Seite gibt es aber auch sehr viele Religionskritiker:innen, die es hinbekommen, das erforderliche Maß an Differenzierung, Sensibilisierung und Resilienz gegen die Vereinnahmung durch rechte Gruppierungen zu zeigen. Diesen wird zusammen mit der Säkularisierung allgemein durch solch eine rechte Agitation ein Bärendienst erwiesen.

Wissenschaftsfeindlichkeit im Namen des Atheismus?

Immer mehr Menschen erkennen ob der betreffenden wissenschaftlichen Arbeiten den Nutzen einer gendergerechten Sprache und immer mehr Studien zeigen an, dass das Konzept der Binarität der Geschlechter überholt ist. Wie wir heute wissen, handelt es sich beim Geschlecht um ein Spektrum mit einem weiblichen und einem männlichen Extrem. Und beides sind wichtige Erkenntnisse: Über eine Veränderung der Sprache können Umstände minimiert werden, die zu Diskriminierung führen und durch einen fairen Umgang mit trans* Menschen werden Vorurteile und Stigmatisierungen abgebaut – was unter Anbetracht der hohen Suizidgefahr in dieser Bevölkerungsgruppe auch dringend notwendig ist.

Auf Volksverpetzer gab es schon vor 2 Jahren einen Artikel dazu, dass Feminismus uns alle etwas angeht:

Dennoch gibt es atheistische Organisationen wie etwa die „Richard Dawkins Foundation für Vernunft und Wissenschaft“ (RDF), die von Menschen geleitet wird, die diese Fakten nicht anerkennen mögen und sogar offen dagegen aufbegehren. Und das obwohl sich die Studienlage dazu immer weiter erhärtet. Hinzu kommt bei der RDF das Verbreiten von fragwürdigen Aussagen wie etwa jene von Ayaan Hirsi Ali, wonach an Universitäten nicht mehr das Denken beigebracht würde, sondern, was Student:innen denken sollten. Diese Aussage lässt sich empirisch nicht untermauern. Noch immer wird an Universitäten das wissenschaftliche Denken und Hinterfragen vermittelt. Dass dieses auch dazu führen kann, einmal lieb gewordene Standpunkte zu überdenken und zugunsten anderer aufzugeben, wenn es die wissenschaftliche Studienlage nahelegt, ist keine Schwäche, sondern die große Stärke der Wissenschaft.

Transfeindlichkeit im Namen des Feminismus?

Manche Menschen haben eine erzkonservative Sicht auf die Wissenschaft. Ganz nach dem Motto: Es gibt da Definitionen und die müssen partout so bleiben. Dabei sind viele Definitionen lediglich Hilfsmittel, die mehr oder weniger willkürlich festgelegt wurden und bei Bedarf auch geändert werden können. Dass dies bei den Begriffen „Mann“ und „Frau“ notwendig ist, zeigt allein der Umstand, dass auch trans* Frauen Frauen und trans* Männer Männer sind. Viele Feminist- und Humanist:innen haben dies erkannt und handeln danach. Einige sind allerdings der Ansicht, dass Frauen plötzlich etwas weggenommen würde, wenn auch trans* Menschen mehr Rechte zugesprochen bekommen. Dabei ist längst klar: Mehr Rechte für trans* Menschen und mehr Rechte für Frauen schließen einander nicht zwangsläufig aus. Um gegen Trans* Stimmung zu machen werden von Menschen, die sich dieser Einsicht verweigern, sogar Missstände konstruiert. Etwa die Vermutung, dass sich Männer plötzlich reihenweise als Frauen ausgeben würden, um in Schutzräume einzudringen. Diese Behauptung wurde auch im oft kritisierten Terre des Femmes-Positionspapier (PDF) angesprochen, von welchem sich der Vorstand mittlerweile distanzierte. Dabei kommt dies so gut wie nie vor. Und einzelner Missbrauch von Gesetzeslagen sagt relativ wenig über die generelle Sinnhaftigkeit selbiger aus – andernfalls müssten wir wohl die gesamte StVO verwerfen.

Was die betreffenden Feminist- und Humanist:innen nicht verstehen: Mit der Behauptung, dass es die trans* Menschen seien, die mehrheitlich diskriminierten oder Straftaten begingen, begehen sie die von der Neuen Rechten erhoffte Täter:innen-Opfer-Umkehr. Nicht trans* Menschen sind nach dieser Auffassung die Benachteiligten, sondern all jene, die patriarchale Strukturen aufrechterhalten möchten. Die Biologie-Doktorandin Marie-Luise Vollbrecht, die sich aktuell als Opfer eines „Woke-Mobs“ wähnt, ist dafür ein herausragendes Beispiel. Indem in diesem Kontext unbedarft Bild-Schlagzeilen wiederholt werden und von „gefährdeter Wissenschaftsfreiheit“ oder „Einschränkung der Meinungsfreiheit“ fantasiert wird (das glatte Gegenteil ist der Fall), wird auch die Propaganda gegen Vielfalt und Inklusion befeuert. Sehr zum Nachteil jener, die seit langer Zeit aufgrund der Marginalisierung und Unterdrückung leiden oder sterben.

Der Düsseldorfer Aufklärungsdienst (DA), eine Regionalgruppe der Giordano-Bruno-Stiftung, hat jüngst den abgesagten Vortrag Vollbrechts verlinkt. In diesem YouTube-Beitrag werden einleitend Kritiker:innen von Transfeindlichkeiten als „Ungläubige der Evolution“ diffamiert. Es herrscht der Tenor vor, wonach Wissenschaftsfreiheit, so zeige die Absage des Vortrags an der Humboldt-Universität zu Berlin, sehr stark in Gefahr sei. Dabei ist es gesellschaftlicher Fortschritt, wenn transfeindliche Behauptungen nicht mehr ohne Kritik einfach so reichweitenstark verbreitet werden können. Warum sich der DA an dieser Verbreitung und dieser Agitation beteiligen mag, erklärt er an keiner Stelle.

Misogynie im Namen der Aufklärung?

Die Ernennung von Ferda Ataman zur Antidiskriminierungsbeauftragten des Bundes hat die Axel-Springer-Presse zum Toben gebracht. Von Welt über Bild bis hin zu den offen rechtspopulistisch bis rechtsextremen Blogs Tichys Einblick, Die Achse des Guten oder PI-News haben sich aus diesem Kreis alle maßlos über die Personalie empört. Der selbsternannte „Science Comedian“ Vince Ebert bläst auf LinkedIn in dasselbe Horn, indem er deren unwissenschaftlichen, rechten Narrative reproduziert. Auch der (vermeintliche) Humanist Hamed Abdel-Samad aus dem Beirat der Giordano-Bruno-Stiftung ätzte auf Facebook gegen Ataman: „Sie gehört zu einem Kartell von privilegierten Migrantenkindern, die auf Kosten des Schuldkomplexes der Deutschen Karriere machen und Fördergelder erwerben.“ Aber auch der rechte Verschwörungsmythos, wonach die Bundesregierung eine „Umerziehung“ der Bevölkerung plane, wird von Abdel-Samad in diesem Zusammenhang geäußert. Angeblicher Beleg: Frau Ataman im neuen Amt. Aus diesem heraus, so die waghalsige Vermutung, wäre sie als einzelne Person in der Lage, über den Diskurs zu herrschen. Wahrheitswidrig wird außerdem behauptet, dass Ataman zu Antisemitismus unter Muslimen nicht Stellung bezogen habe.

Viele dieser Äußerungen sind Misogynie in Reinkultur. Durch diese wird die eigentlich so wichtige Kritik am Islam & Islamismus sowie die Bekämpfung von Clan-Kriminalität nur verwässert und erschwert. Denn selbst jene, die die Kritikpunkte teilen, müssen sich so zunächst einmal dem Eindruck erwehren, in dieselbe Kerbe wie Frauenfeind- und Verschwörungsideolog:innen zu schlagen. Tatsächlich hat – anders als Hamed Abdel-Samad behauptet – Frau Ataman sehr viele Artikel zu exakt diesen Themen geschrieben und scheut sich nicht davor, Problemlagen offen anzusprechen und anzugehen. Kritik an ihrer Person und ihrem Tun ließe sich auch einfach sachlich und ohne überzogene Abwertungen und Vorverurteilungen äußern. Auch die Diskriminierungen innerhalb von Migrant:innenengruppen sind ein Themenkomplex, der sich nicht einfach beiseite schieben lässt, wie Abdel-Samad logisch schlüssig anmahnt. Doch warum er, um das zu veräußern, unhaltbare Abwertungen einer Frau in einer Führungsposition anbringen muss und damit die Frauenfeind:innen jeglicher Couleur unterstützt, erklärt er nirgends. Und mit ihm auch keine:r der anderen Autor:innen benannter Zeitschriften und Blogs.

Anti-Woke ist das neue Anti-Gurtpflicht

Bezeichnend ist, dass auf den Social-Media-Seiten der betreffenden Personen und Organisationen rechte bis rechtsextreme Kommentare nur selten moderiert werden. Da drängt sich einer:m schon der Eindruck auf, dass diese Klientel auch Teil der Zielgruppe ist und deren menschenverachtenden Statements und deren Fake News sehr willkommen sind, solange diese der eigenen Stimmungsmache gegen „politische Korrektheit“ und „woke“ dienen. Doch sollten sich die Atheist- und Humanist:innen, die derlei gutheißen, vielleicht fragen: Kann es sein, dass Anti-Woke-Aktivist:innen für das „Recht“ kämpfen, unsensible Ignorant:innen bei Themen wie Sexismus und Rassismus sein zu können, ohne dafür kritisiert zu werden? Und brauchen wir als Gesellschaft nicht noch viel mehr Menschen, die fragwürdige Machenschaften wie Rassismus, Sexismus oder aber die Täuschung von Kund:innen ankreiden? Bedarf es also nicht eher ein Mehr von „Woke“ denn einem Weniger?

So oder so sollten wir verhindern, dass Menschen den Humanismus als Deckmantel für Muslimen-, Wissenschafts- und Transfeindlichkeit oder Misogynie verwenden, ohne dafür heftig kritisiert zu werden. Auch sollten wir erkennen, dass es eine Strategie der Neuen Rechten ist, den Begriff „woke“ zu etwas Verwerflichem umzudichten und sich Teile der bürgerlichen Mitte daran aktuell munter beteiligen. Wer da mitmacht und maßgeblich auf die Bestätigung der eigenen Vorurteile aus ist sowie (neuere) wissenschaftliche Erkenntnisse ignorieren mag, muss sich berechtigterweise den benannten Vorwürfen stellen. Und diese Menschen müssen sich nicht wundern, wenn sie von mehr und mehr Menschen als die grummeligen Fensterrenter:innen des Internet betrachtet werden. Wer so eindeutig auf der falschen Seite der Geschichte steht – siehe etwa auch Menschen, die die Gurtpflicht als üble Bevormundung framten oder noch früher: Am Irrglauben festhalten mochten, dass Frauenhirne doch weniger als Männerhirne leisten könnten –, sollte sich vielleicht auch fragen, ob er:sie sich wirklich als Humanist:in beschreiben kann.

Artikelbild: Lightspring