Identität und Kollektivismus
Diese beiden Begriffe geistern seit geraumer Zeit als Schreckgespenster durch das Politikressort deutschsprachiger Zeitschriften. So bricht etwa Frauke Steffens in der FAZ die Debatte zur Identitätspolitik auf die marxistische Frage zur Besitzverteilung herunter und ist der Ansicht, dass die Reduzierung von manchen gesellschaftlichen Missständen auf eine Macht-Problematik hinter neueren Theorien herhinke. Oder Jürgen W. Falter & Eckhard Jesse, die in der NZZ verkünden, dass das „Denken in kulturellen, religiösen, ethnischen oder sexuellen Gruppenzugehörigkeiten […] ein Rückfall in überwunden geglaubte Traditionen“ sei. Selbst der frühere Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vertritt in einem Interview mit dem Deutschlandfunk die These, dass eine Fokussierung auf Identitätspolitik mehr trennende als verbindende Elemente besäße.
Doch all die großen Worte bleiben im Wesentlichen unterkomplex und weisen einen blinden Fleck auf. So ist die Frage nach der Macht, wer also in der (Mehrheits-)Gesellschaft den Ton angibt, durchaus eine berechtigte. Die Journalistin Anna Seibt mahnt daher an, dass es notwendig ist, die eigenen Privilegien und Machtpositionen zu erkennen, wenn es um das Austarieren von einem neuen „Wir“ geht, das die Vielfältigkeit der Gesellschaft adäquat widerspiegelt. Und bislang sind es ihr zufolge vor allem weiße, heterosexuelle und patriarchal geprägte Menschen, deren Perspektiven schwerer gewichtet werden.
Auch wird von diesen Akteur:innen nicht zwischen linker und rechter Identitätspolitik differenziert
Während Erstere laut der Literaturwissenschaftlerin und Gender-Forscherin Andrea Geier die Anerkennung von Vielfalt und Gleichheit anstrebt, gefährdet Letztere den gesellschaftlichen Zusammenhalt, indem eine bestimmte Idee von Volk und Nation mittels dieser hergestellt werden soll. Laut Geier ist es wichtig, anzuerkennen, dass es Projektionen und Stereotypisierungen aufgrund bestimmter Merkmale wie etwa der Hautfarbe gibt und diese auch etwas mit Diskriminierung und Privilegierung zu tun haben können, über die debattiert werden muss. Das bedeutet auch, wie sie sagt, „anzuerkennen, dass nicht alle von vornherein gleich sind, sondern Gleichheit das Ziel ist“. Gleichheit kann demnach nicht einfach als gegeben proklamiert werden, sondern daran muss gearbeitet werden.
ab und an ist (linke) Identitätspolitik eben erforderlich
Außerdem wird bei der pauschalen Diskreditierung eine Tatsache verkannt: Ab und an ist (linke) Identitätspolitik eben erforderlich. Zum Beispiel, wenn
- Jüd:innen sich hierzulande nicht mehr sicher fühlen
- Frauen noch immer weniger Lohn für gleiche Arbeit erhalten
- Kinder noch immer der unnötigen Gefahr von Genitalverstümmelungen ausgesetzt sind
- Alte Menschen unter vermeidbarer Altersarmut leiden
- Sinti & Roma rassistisch beleidigt und ausgegrenzt werden
- Hass gegen Schutzsuchende geschürt wird und Asylunterkünfte angezündet werden
- BIPoC von den Behörden einem Racial Profiling ausgesetzt werden
- Geringverdiener:innen eine deutlich niedrigere Lebenserwartung haben im Vergleich zu Wohlhabenden
- LGBTIQ ihre Sexualität oder ihr Geschlecht aus einer berechtigten Sorge um Diskriminierung verbergen müssen
Diese Notwendigkeit pauschal zu negieren, zeigt eigentlich nur wie wenig eine betreffende Person von Politik versteht. Denn es ist Teil der Aufgabe von Politik, benachteiligte oder unterdrückte Gruppierungen ausfindig zu machen. Und die entsprechenden Missstände zu beheben.
Wer das partout nicht möchte, kann mit einer solchen Haltung der Arbeitsverweigerung das politische Engagement auch gleich einstellen. Denn das nutzt niemandem und hemmt im Zweifelsfall nur notwendige strukturelle Veränderungen. Das fadenscheinig begründete Nichtstun oder in den Weg stellen als Arbeit zu verkaufen, ist jedenfalls eine Farce.
Identität hat man sich ja selten ausgesucht
Die betreffenden Menschen haben sich ihre Identität ja oftmals nicht ausgesucht. Niemand kann vor der Geburt entscheiden, zu welchem Geschlecht er mal gehören möchte. Und niemand kann nach der Geburt ausschließen, irgendwann einmal aus der Heimat vertrieben zu werden. Dennoch wird das (biologische & soziale) Geschlecht für viele Menschen zu einem wesentlichen Teil der Identität. Ebenso wie ein (gewollter oder ungewollter) Migrationshintergrund. Manchmal wird eine Identität einer bestimmten Gruppe von Seiten der Mehrheitsgesellschaft sogar aufoktroyiert.
Wenn jemand in einem Land lebt, in dem aufgrund des Geschlechts oder der Herkunft Diskriminierungen stattfinden, dann hilft es dieser Person reichlich wenig, ihr durch die Blume zu sagen: „stell dich nicht so an, jeder Mensch ist seines eigenen Glückes Schmied.“ Ebenso unsinnig ist es, darauf zu verweisen, dass eine bestimmte Identität überflüssig sei und nicht betrachtet werden dürfe, weil das ja angeblich zu kollektivistisch sei – und Kollektivismus ja angeblich immer gleich zu Kommunismus führe.
Wer bei benannter Diskriminierung nun an Saudi-Arabien oder ein vergleichbar totalitär regiertes Land dachte, zeigt, wie stark er:sie reale Probleme direkt vor der Haustüre mit immer geschickteren Methoden und hochtrabenden neuen Wörtern verdrängen möchte. Denn es gibt sie auch hier in Deutschland noch immer in leider sehr vielen Bereichen, diese Diskriminierung.
wenn Engagement gegen Benachteiligungen als Spaltung der Gesellschaft uminterpretiert wird
Wer sich als gebärfähiger Mensch mal über Abtreibungen informieren oder als Mensch mit einem nicht europäisch klingenden Namen mal eine neue Wohnung finden wollte, kann ein Lied davon singen. Diesen rufen Falter und Jesse aus der NZZ allen Ernstes entgegen, dass nicht die abbauenswerten systematischen Benachteiligungen das größte Problem sind, sondern pauschal die gesamte Identitätspolitik – also auch jene, die genau diese Benachteiligungen zu beseitigen gedenkt.
Und das ist eigentlich im Kern auch schon der Widerspruch und der offensichtliche Logikfehler aller, die sich gerade mit viel Pathos über eine angeblich stets verwerfliche Identitätspolitik empören. Geistreicher wird es nicht mehr.
Richtig perfide wird es allerdings, wenn das Engagement gegen ungerechtfertigte Benachteiligungen als Beitrag zur Spaltung der Gesellschaft uminterpretiert wird. Dabei spaltet eine gut begründete Identitätspolitik ganz gewiss niemanden, mit Ausnahme vielleicht von denjenigen, die sich die 1960er Jahre mit noch stärkeren Diskriminierungen zurückwünschen, vom Rest der Gesellschaft. Das Ignorieren von Missständen durch plumpes Wegdefinieren oder aber einen Verweis auf den Individualismus, welchem sich die Politik angeblich jederzeit unterzuordnen hätte, kann hingegen sehr real gesellschaftliche Missstände unnötig lange aufrechterhalten.
Der Individualismus ist freilich ein sinnvolles Konzept
Die Gesellschaft zunächst vom Individuum her zu denken, ist eine moderne Errungenschaft, die kaum jemand missen möchte. Allerdings darf dieser nicht insofern verabsolutiert werden, als dass es verunmöglicht wird, gruppenbezogene Missstände zu benennen und anzugehen. Denn dies beschränkte die Handlungsmöglichkeiten der Politik nur in einem bedenklichen Ausmaß. Der Individualismus wird bei einer solch differenzierten Herangehensweise nicht, wie gerne unterstellt, einem Kollektivismus geopfert.
Ein weiterer Vorwurf gegen linke Identitätspolitik lautet, dass diese zu einem Erstarken rechter Parteien führe, weil angeblich Klassenunterschiede vernachlässigt werden. Und stattdessen eine zu starke Fokussierung auf die Interessen von Migrant:innen, BIPoC und LGBTIQ stattfände. Dabei handelt es sich aber eher um eine verzerrte Wahrnehmung. Ein Blick auf die Arbeit der linken Parteien zeigt, dass diese sich seit jeher mit Nachdruck für Erwerbslose, Geringqualifizierte, prekär Beschäftigte, Altersarme, etc. einsetzen. Eine Überbewertung von einzelnen, intensiv geführten Debatten kann darüber nicht hinwegtäuschen. Es braucht daher mehr Sensibilität und ein größeres Bewusstsein dafür, dass betreffende Debatten für die Gesellschaft wichtig, aber nicht zwingend gleichbedeutend mit der Gesamtheit der Arbeit linker Parteien sind.
Verwerfliche Formen linker Identitätspolitik
Allerdings muss konstatiert werden, dass es auch Formen von linker Identitätspolitik gibt, die verwerflich sind. Wie jene, die schlicht unzulässig sind oder zu einer ungerechtfertigten Diskriminierung führen. Zu Ersterem gehört die Betrachtung von Gruppen, die zur Lösung einer Problematik nachweislich nicht zielführend ist. Wenn bei der Frage nach Waldbränden in den USA zum Beispiel auf die Gruppe der mittelständischen Unternehmer:innen geblickt wird, so ist das gänzlich sinnbefreit. Zu Letzterem gehört etwa die von manchen Linken vertretene Einstellung, wonach Personen aus der Mehrheitsgesellschaft an einer Debatte gar nicht teilnehmen dürften. Doch während bestimmte Ansichten nicht immer angehört werden müssen, so müssen es stichhaltige Argumente stets – und zwar völlig gleich, von wem diese geäußert werden.
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Artikelbild: CameraCraft
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