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Breaking News: Es wird immer schlimmer und die Medien sind schuld

von | Apr 21, 2023 | Aktuelles

Du hast es also angeklickt. Dein Gehirn ist angesprungen, deine Aufmerksamkeit wurde gebunden, du wolltest wissen, was jetzt schon wieder Schlimmes passiert ist? Der Titel versprach Aufregung, ein bisschen Drama, ein bisschen spitze Beschuldigungen? Herzlichen Glückwunsch! Du bist Teil des Problems – und damit völlig normal. Nun lass uns verstehen, warum das so ist. Wir geben dir einen Einblick in die Welt der schlechten Nachrichten und was sie mit unserem Gehirn anstellen. Denn während die Frage danach, ob die Welt nun besser oder schlechter wird, natürlich nicht so leicht zu beantworten ist, ist eines wissenschaftlich belegbar: Die Schlagzeilen von Nachrichten wurden in den letzten 20 Jahren deutlich negativer.

Das Ding mit der Negativitätsdominanz oder warum du den Artikel angeklickt hast

Das menschliche Gehirn misst negativen Reizen mehr Bedeutung zu, als positiven oder neutralen. Die Psychologie nennt diesen Umstand den „Negativitätseffekt” oder die „Negativitätsdominanz”. Damit ist gemeint: Wenn verschiedene Reize wie Emotionen, Nachrichten oder Erlebnisse in gleicher Intensität auftreten, haben die negativen Reize den größeren Effekt auf unseren psychischen Zustand. Das Glas ist also immer eher halb leer als halb voll. Dieses Phänomen tritt insbesondere auch im Medienbereich auf. Nachrichten mit negativem Gehalt bekommen vom menschlichen Gehirn mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als positive oder neutrale. Eine großangelegte Studie, die in 17 Ländern weltweit durchgeführt wurde, zeigte, dass das Phänomen grundlegend menschlich ist. 

Für die Medienwelt ist diese Information extrem relevant: Denn mehr Aufmerksamkeit bedeutet natürlich auch mehr Verkäufe. So entwickelt sich eine gefährliche Eigendynamik zwischen Medien und schlechten Nachrichten. 

Immer mehr negative Gefühle 

In den letzten Jahren haben negative Schlagzeilen in Medien deutlich zugenommen. Das zeigt eine Studie, die 23 Millionen Schlagzeilen von 47 Medien aus den USA untersuchte. Die Schlagzeilen stammten aus den Jahren 2000-2019. Über den Zeitraum der Studie kam es zu einem deutlichen Anstieg von Schlagzeilen, die negative Emotionen transportierten. Dazu gehörten in erster Linie die Emotionen Wut, Angst und Traurigkeit. 

Die Studie zeigte auch, dass der Anstieg von negativen Emotionen in Schlagzeilen in rechtsgerichteten Medien besonders groß war.

 

Aber warum ist das denn so? 

Medien haben ganz konkrete Anreize dafür, negative Schlagzeilen zu formulieren. Denn der oben beschriebene Negativitätseffekt schlägt unmittelbar zu, und führt dazu, dass wir als Leser:innen neugierig werden.

Was bei Printformaten die Verkaufszahlen, sind bei Onlineformaten die Klicks. Eine Studie hat kürzlich untersucht, welchen Einfluss negative Worte in Schlagzeilen auf die Klickzahlen haben. Das Ergebnis war wenig überraschend: Negative Worte in den Titeln erhöhen die Wahrscheinlichkeit, dass eine Person einen Artikel anklickt, erheblich. Für die Studie wurden Artikel mit mehreren verschiedenen Schlagzeilen veröffentlicht und die Klickrate erfasst. Insgesamt gab es in der Studie 105.000 verschiedene Schlagzeilen. 

„Bei einer durchschnittlich langen Überschrift erhöhte jedes zusätzliche negative Wort die Klickrate um 2,3 %”, heißt es in der Studie. 

War früher alles besser?

Für Medienschaffende gibt es also ganz konkrete Anreize, Schlagzeilen möglichst negativ zu formulieren. Das dürfte einen direkten Effekt darauf haben, dass viele Menschen meinen, die Welt werde immer schlechter. „Früher war alles besser“ ist nämlich ziemlich weit verbreitet. Tatsächlich glauben laut der Umfrageplattform Yougov viele Menschen, dass die Welt immer schlechter wird. 

Zwar lässt sich die Frage, ob die Welt nun besser oder schlechter wird, sicherlich nicht gänzlich beantworten. Faktoren wie etwa die Klimakrise fangen gerade erst an, uns in ihrer ganzen Bandbreite bewusst zu werden. Verschiedene Orte auf der Welt haben je nach Situation unterschiedlich gute oder schlechte Prognosen. Je nach ökonomischer Situation oder persönlichem Schicksal werden Menschen eine sehr unterschiedliche Einschätzung haben. Und das mit dem Glücksempfinden ist ja noch einmal eine ganz andere Sache. 

Aber in wesentlichen Bereichen, die tatsächlich einen großen Einfluss auf die menschliche Zufriedenheit haben dürften, hat die Welt in den letzten Jahren deutliche Fortschritte gemacht. Ein Projekt der Oxford University hat sich die Lebensbedingungen von Menschen in den letzten 200 Jahren angeschaut. In vielen Bereichen wie etwa Kindersterblichkeit, extremer Armut, Regierungsform und Gesundheit lassen sich deutliche Verbesserungen feststellen. 

Warum denken wir dennoch, dass alles immer schlechter wird?

Noch ein weiterer psychologischer Effekt hilft dabei zu erklären, warum wir denken, die Welt wird immer schlechter. Er wurde mit Hilfe des Blauer-Punkt-Experiments beobachtet und ist durchaus überraschend. Probanden bekamen dabei eine Abfolge von Punkten gezeigt, die sich auf einem Spektrum zwischen Blau und Lila befanden. Sie sollten jeweils bestimmen, ob die Punkte nun blau oder lila seien. Anfangs gab es eine ausgeglichene Anzahl von Punkten in den verschiedenen Farbnuancen. Die Probanden ordneten die Punkte auch entsprechend ungefähr ausgewogen als entweder blau oder lila ein. In einer weiteren Runde wurde aber die Anzahl der blauen Punkte deutlich reduziert.

Man würde also vermuten, dass die Probanden auch weniger Punkte als blau einordnen. Aber tatsächlich war das Gegenteil der Fall. Die Probanden ordneten sogar mehr Punkte als blau ein. Sie erweiterten also eher ihre Vorstellung davon, was blau sei, als anzuerkennen, dass es weniger blau gab. Dieser Effekt trat sogar auf, wenn die Probanden wussten, dass es in der zweiten Runde weniger blaue Punkte gab. Außerdem war das Ergebnis auch bei anderen Beispielen dasselbe, etwa wenn die Probanden einschätzen sollten, ob sie eine Person als bedrohlich wahrnehmen oder einen Forschungsantrag als ethisch nicht vertretbar. 

Hier bestens erklärt von Martin Moder:

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Der Effekt dürfte einigen aus dem eigenen Leben bekannt vorkommen: Je mehr Unkraut man schon gejätet hat, je mehr der weniger schönen Plätzchen man verspeist hat, desto mehr Unkraut sieht man und desto mehr Plätzchen haben Macken und scheinen nicht mehr so perfekt, wie zuvor. 

Was lernen wir daraus? 

Was aus dem Blauer-Punkt-Experiment zu ziehen ist, ist fraglich. Manche versuchen, mit Hilfe des Experiments dafür zu argumentieren, dass manche Menschen immer sensibler würden und nun Beleidigungen und Gewalt sehen würden, wo eigentlich nichts ist. Aber diese Übertragung greift wesentlich zu kurz. Denn ob ein Punkt blau, lila oder irgendwas dazwischen ist, ist moralisch natürlich irrelevant. Aber ob jemandem viel Gewalt, wenig Gewalt oder kar keine Gewalt angetan wird, ist durchaus bedeutend. Nur weil manchen Menschen von anderen nicht mehr pauschal alle Rechte auf Unversehrtheit und Leben abgesprochen werden, ist die sprachliche Gewalt, die sie immer noch erfahren, natürlich trotzdem auch ein Problem. Als Argument gegen diskriminierungssensibles Verhalten taugt das Experiment also nicht. 

Was schlechte Schlagzeilen mit uns machen, sollten wir natürlich dennoch ernst nehmen. Wir können nichts dafür, wenn wir nur kurz nach dem Wetter schauen wollten und uns 30 Minuten später beim Social Media Doom Scrolling erwischen. Unser Gehirn wurde gefesselt von all den schlimmen Nachrichten. Da hilft nur: 

Sich selbst ertappen, Verständnis aufbringen und runterfahren. 

Weitere Tipps im Umgang mit Social Media Aufmerksamkeitsfallen haben wir hier für Euch gesammelt

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