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Letzte Generation kontraproduktiv? Das sagt die Forschung

von | Dez 2, 2022 | Aktuelles

Ein Gastbeitrag von Florian Freistetter, zuerst erschienen auf astrodicticum-simplex

Wenn es um die Klimakrise geht, dann gibt es viel über das man sich aufregen kann. Zum Beispiel, dass es seit fast 700 Tagen (seit dem 1.1.2021) kein Klimaschutzgesetz in Österreich gibt. Oder, dass auf der 27. Klimakonferenz schon wieder nichts beschlossen wurde, dass uns wirklich vorwärts bringt. Oder dass wir die fossile Industrie immer noch mit ein paar hundert Milliarden pro Jahr (global) fördern. Die Liste kann man endlos fortsetzen, leider. Aber das, worüber sich alle gerade wirklich aufzuregen scheinen, sind Klimaaktivist:innen, die Straßen blockieren oder die Schutzscheiben vor Kunstwerken in Museen beschmieren. Und man kann die Aktionen von „Letzte Generation“, von „Just Stop Oil“ und so weiter ja durchaus kritisieren. Man kann sich zum Beispiel fragen, ob man jetzt unbedingt in Museen demonstrieren muss, anstatt zum Beispiel in Autohäusern oder Tankstellen. Oder ob man die Blockaden lieber auf Flugplätzen statt auf Straßen durchführen soll. Und so weiter. Was aber meistens gefragt bzw. behauptet wird:

Diese Art des Protests ist kontraproduktiv, weil man dadurch die Bevölkerung gegen sich und damit gegen die wichtige Sache des Klimaschutzes aufbringt. Die radikalen Aktionen führen dazu, dass auch die legitimen Proteste von Gruppen wie „Fridays for Future“ nicht mehr ernst genommen werden. Die Bevölkerung wird dem Klimaschutz immer negativer gegenüberstehen und am Ende sind wir schlechter dran als vorher.

Zwar klingt die Argumentation plausibel, aber…

So oder so ähnlich lautet die Argumentation. Und es klingt ja durchaus plausibel. Wer mit dem Auto nicht zur Arbeit kommt, weil Letzte Generation die Straße blockiert, wird verärgert sein. Und kann, als Individiuum, ja nicht einmal wirklich was für die Klimakrise; kann daran, als Individium, auch nichts ändern. Das müssen Politik, die großen Firmen, und so weiter erledigen. Warum müssen die „normalen“ Menschen leiden, die nichts dafür können? Warum müssen die Museen dran glauben, die ja auch nicht unbedingt zu den großen CO2-Schleudern der Welt gehören?

Aber nur weil etwas plausibel klingt, muss es nicht richtig sein. Genau für solche Fälle gibt es die Wissenschaft und die hat sich durchaus auch mit der Erforschung von Protestformen und Aktivismus beschäftigt. Ich habe daher probiert, mir einen Überblick über relevante Forschungsergebnisse zu verschaffen.

Aktivismus im IPCC-Report

Wenn man etwas zum Stand des Wissens in Sachen Klimakrise wissen will, dann lohnt sich immer ein Blick in den jeweils aktuellen Sachstandsbericht des Weltklimarates (IPCC). Da ist der Forschungsstand zusammengefasst und das auf knapp 10.000 Seiten. Im Podcast-Projekt „Das Klima“, das ich gemeinsam mit Claudia Frick seit letztem Jahr betreibe, tun wir genau das: Wir lesen den kompletten IPCC-Bericht und erzählen im Podcast, was drin steht. Und tatsächlich sind wir dabei immer wieder auf die Erwähnung von Klimaaktivismus gestoßen. Zum Beispiel in Kapitel 5.2.3 von Teil 3 des Berichts. Dort steht:

„Indigenous resurgence (activism fuelled by ongoing colonial social /environmental injustices, land claims, and deep spiritual/cultural commitment to environmental protection) not only strengthens climate leadership in many countries, but also changes broad social norms by raising knowledge of Indigenous governance systems which supported sustainable lifeways over thousands of years.“

„Wiederaufleben der indigenen Bevölkerung (Aktivismus, der durch anhaltende koloniale soziale und ökologische Ungerechtigkeiten, Landansprüche und ein tiefes spirituelles/kulturelles Engagement für den Umweltschutz genährt wird) stärkt nicht nur die Führungsrolle im Bereich des Klimaschutzes in vielen Ländern, sondern verändert auch weitreichende gesellschaftliche Normen, indem es das Wissen über indigene Governance-Systeme, die über Tausende von Jahren eine nachhaltige Lebensweise ermöglichten, erhöht.“

Dazu muss man erstens anmerken, dass solche Aussagen nicht einfach so im IPCC-Bericht stehen. Das IPCC forscht nicht selbst, sondern fasst nur den Stand der Forschung zusammen. Wenn da nun also steht, dass Aktivismus indigener Gruppen die „climate leadership“ der Länder stärken kann, dann ist das keine Vermutung und kein ideologischer Wunsch, sondern Resultat entsprechender Forschung (und sämtliche Quellen findet man im Bericht natürlich auf hunderten von Seiten gelistet). Und zweitens ist das, was an dieser Stelle erwähnt wird, nicht die Art des Klimaaktivismus, um die es geht, wenn wir von den Aktionen in den Museen und den Straßen reden.

Der IPCC-Report liefert noch mehr

Aber das war ja noch nicht alles, was im IPCC-Report steht. In Kapitel 5.4.2 findet man diese Stelle:

„Climate social movements advocate new narratives or framings for climate mitigation (e.g. climate ‘emergency’) (della Porta and Parks 2014); criticise positive meanings associated with high emission technologies or practices (see Diet and Solar PV Case Studies, Box 5.5 and 5.7); show disapproval for high emission behaviours (e.g. through ‘flight shaming’); model behaviour change (e.g. shifting to veganism or public transport – see Case Study on Mobility in Kolkata, Box 5.8); demonstrate against extraction and use of fossil-fuels(Cheon and Urpelainen 2018); and aim to increase a sense of agency amongst certain social groups (e.g. young people or indigenous communities) that structural change is possible.

Climate strikes have become internationally prevalent, for example the September 2019 strikes involved participants in more than 180 countries (Rosane 2019; Fisher and Nasrin 2020; Martiskainen et al. 2020). Enabled by digitalisation, these have given voice to youth on climate (Lee et al. 2020) and created a new cohort of active citizens engaged in climate demonstrations (Fisher 2019). Research on bystanders shows that marches increase positive beliefs about marchers and collective efficacy (Swim et al. 2019)“

Auf deutsch:

„Soziale Klimabewegungen setzen sich für neue Narrative oder Rahmungen für den Klimaschutz ein (z. B. „Klimanotstand“) (della Porta und Parks 2014); kritisieren positive Bedeutungen, die mit emissionsintensiven Technologien oder Praktiken verbunden sind (siehe Fallstudien zu Ernährung und Photovoltaik, Kasten 5.5 und 5.7); zeigen Missbilligung für emissionsintensive Verhaltensweisen (z. B. (z. B. durch „Flight Shaming“); Verhaltensänderungen vorleben (z. B. Umstieg auf Veganismus oder öffentliche Verkehrsmittel – siehe Fallstudie zur Mobilität in Kalkutta, Kasten 5.8); gegen den Abbau und die Nutzung fossiler Brennstoffe demonstrieren (Cheon und Urpelainen 2018); und darauf abzielen, bestimmten sozialen Gruppen (z. B. jungen Menschen oder indigenen Gemeinschaften) das Gefühl zu vermitteln, dass ein Strukturwandel möglich ist.

Klimastreiks haben sich international durchgesetzt, zum Beispiel waren an den Streiks im September 2019 Teilnehmer aus mehr als 180 Ländern beteiligt (Rosane 2019; Fisher und Nasrin 2020; Martiskainen et al. 2020). Durch die Digitalisierung haben diese Streiks der Jugend eine Stimme zum Thema Klima gegeben (Lee et al. 2020) und eine neue Kohorte aktiver Bürger geschaffen, die sich an Klimademonstrationen beteiligen (Fisher 2019). Die Forschung über Umstehende zeigt, dass Märsche die positiven Überzeugungen über die Demonstranten und die kollektive Wirksamkeit erhöhen (Swim et al. 2019).“

Ich hab diesmal alle Referenzen auf Forschungsarbeiten im Zitat gelassen; dann liest es sich vielleicht nicht mehr so flüssig, aber man sieht, dass diese Aussagen nicht einfach aus der Luft gegriffen sind, sondern auf konkreten wissenschaftlichen Studien basieren, die vom IPCC be- und ausgewertet worden sind. Ich möchte jetzt nicht alle Stellen auflisten, in denen Klimaaktivismus im IPCC-Bericht erwähnt wird (wie gesagt, alle drei Teile machen zusammen knapp 10.000 Seiten aus…). Hier sind ein paar exemplarische Stellen:

Teil 2 des IPCC-Reports

„The failure to deliver inclusive and sustainable adaptation contributes to a collective inability to mobilise the power of creative community vision (…) Social movements can be powerful sources of such alternative visions of the future, as exemplified by recent Youth Climate Strikes and Extinction Rebellion. Community protest such as Youth Climate Strikes have influenced urban climate policy agendas including the declaration of climate emergency in municipalities worldwide, fostering a new debate on climate change, although their impact on local policy is ambiguous. (Teil 2, Kapitel 6.4.3.6.)“

„The knowledge and awareness of climate change as a threat have been increasing since AR5 due to the increasing frequency and magnitude of extreme weather events in the region, information available and climate justice activism (high confidence). (Teil 2, Kapitel 12, Executive Summary)“

„Political activism provides windows of opportunity for climate adaptation. (Teil 2, 17.4.5.2.)“

Deutsch:

„Das Scheitern einer inklusiven und nachhaltigen Anpassung trägt zur kollektiven Unfähigkeit bei, die Kraft kreativer Gemeinschaftsvisionen zu mobilisieren (…) Soziale Bewegungen können mächtige Quellen für solche alternativen Zukunftsvisionen sein, wie die jüngsten Jugend-Klimastreiks und die Extinction Rebellion zeigen. Gemeinschaftsproteste wie die Jugend-Klimastreiks haben die Agenden der städtischen Klimapolitik beeinflusst, einschließlich der Ausrufung des Klimanotstands in Gemeinden weltweit, und eine neue Debatte über den Klimawandel gefördert, obwohl ihre Auswirkungen auf die lokale Politik unklar sind. (Teil 2, Kapitel 6.4.3.6.)“

„Das Wissen und das Bewusstsein über den Klimawandel als Bedrohung haben seit AR5 aufgrund der zunehmenden Häufigkeit und des Ausmaßes von extremen Wetterereignissen in der Region, der verfügbaren Informationen und des Aktivismus für Klimagerechtigkeit zugenommen (hohes Vertrauen). (Teil 2, Kapitel 12, Executive Summary)“

„Politischer Aktivismus bietet Chancen für die Klimaanpassung. (Teil 2, 17.4.5.2.)“

Teil 3 des IPCC-Reports

In Teil 3 des Berichts ist sogar ein eigener Abschnitt (Box 13.7) dem „School strike movement“ und Greta Thunberg gewidmet. Nach einer Beschreibung dessen, was die Ziele von „Fridays for Future“ sind, folgt allerdings die Feststellung „its consequences in terms of political outcomes and emissions reductions have yet to be fully understood“. „Die Folgen für die politischen Ergebnisse und die Emissionsreduzierung sind noch nicht vollständig bekannt“.

Fridays for Future haben Einfluss! (Bild: Anders HellbergCC-BY-SA 4.0)

Zu wenig neue Forschung

Dieser Hinweis zieht sich durch den ganzen Bericht. Es gibt noch zu wenig konkrete Forschungsergebnisse, die die Arbeit von Klimaaktivist:innen untersucht haben. Ein Grund dafür ist natürlich, dass es sich dabei um ein vergleichsweise neues Phänomen handelt; „Fridays for Future“ etwa gibt es erst seit 2018. Und andererseits ist es in der kurzen Zeit auch schlicht nicht möglich, die Auswirkungen des Klimaaktivismus auf etwa die Menge an CO2-Emissionen seriös zu erforschen. Das muss sich erst in den nächsten Jahren zeigen.

Aber die Zitate aus dem IPCC-Bericht zeigen, dass es zumindest ein paar Erkenntnisse gibt. Klimaaktivismus kann Themen setzen; den Druck auf die Politik erhöhen, das Bewusstsein für die Klimakrise in der Bevölkerung verbreiten und so weiter. Wer mehr zur bisherigen Erforschung des Klimaaktivismus (und den Forschungslücken) wissen möchte, kann diesen sehr interessanten Text über die Arbeit der Soziologin Dana Fisher lesen, die auch an den entsprechenden Teile des IPCC-Berichts mitgearbeitet hat.

Aber eigentlich sind es ja gerade nicht „Fridays for Future“ & Co, die uns interessieren – sondern die „radikalen“ Gruppen wie die „Letzte Generation“ und deren Aktionen. Über die hat der IPCC-Bericht natürlich nichts zu sagen. Dort ist der Forschungsstand der letzten Jahre zusammengefasst; der Bericht ist letztes Jahr bzw. Anfang 2022 erschienen und kann daher gar keine Forschungsergebnisse zu Klimaaktionen in Museen o.ä. enthalten. Und das, was für die Forschung zu „Fridays for Future“ gilt, gilt hier noch mehr: Es ist bis jetzt schlicht zu wenig Zeit vergangen, um die Auswirkungen dieser konkreten Protestformen zu untersuchen. Das heißt aber nicht, dass die Wissenschaft diesem Phänomen völlig ratlos gegenüber steht.

Die radikale Flanke

Schauen wir zuvor aber noch einmal in den IPCC-Bericht, also auf das, was die Wissenschaft zur Klimakrise festgestellt hat. Hier sind drei Aussagen aus der „Summary for Policymakers“ des 3. Teils des Berichts:

„Without a strengthening of policies beyond those that are implemented by the end of 2020, GHG emissions are projected to rise beyond 2025, leading to a median global warming of 3.2°“

„Reducing GHG emissions across the full energy sector requires major transitions, including a substantial reduction in overall fossil fuel use, the deployment of low-emission energy sources, switching to alternative energy carriers, and energy efficiency and conservation. The continued installation of unabated fossil fuel infrastructure will ‘lock-in’ GHG emissions.“

„Accelerated and equitable climate action in mitigating, and adapting to, climate change impacts is critical to sustainable development.“

Deutsch:

„Ohne eine Verstärkung der politischen Maßnahmen, die über die bis Ende 2020 umgesetzten Maßnahmen hinausgehen, werden die Treibhausgasemissionen den Projektionen zufolge über das Jahr 2025 hinaus ansteigen und zu einer mittleren globalen Erwärmung von 3,2° führen.

„Die Verringerung der Treibhausgasemissionen im gesamten Energiesektor erfordert einen grundlegenden Wandel, einschließlich einer erheblichen Verringerung des Gesamtverbrauchs an fossilen Brennstoffen, des Einsatzes emissionsarmer Energiequellen, der Umstellung auf alternative Energieträger sowie der Energieeffizienz und der Energieeinsparung. Die fortgesetzte Installation einer unveränderten Infrastruktur für fossile Brennstoffe wird die Treibhausgasemissionen ‚einschließen‘.

„Beschleunigte und gerechte Klimaschutzmaßnahmen zur Abschwächung der Auswirkungen des Klimawandels und zur Anpassung daran sind entscheidend für eine nachhaltige Entwicklung.“

Kurz gesagt: Wenn wir nichts deutlich ändern, dann steuern wir auf eine massiv erwärmte Erde mit all den daraus resultierenden katastrophalen Folgen zu. Um etwas zu ändern, braucht es nicht einfach nur hier und dort kleine Änderungen im System, sondern eine Transformation des Systems. Und das muss schnell passieren.

Radikale Forderungen sind angebracht

Das sagt die Wissenschaft. Das was in der Realität passiert, ist aber quasi das Gegenteil davon. Es passiert wenig, es passiert nicht umfassend genug und es passiert zu langsam. Radikale Änderungen zu fordern ist also auf Basis der wissenschaftlichen Erkenntnisse durchaus angebracht. Aber was fordert Letzte Generation denn nun mit ihren Aktionen? Eigentlich gar nichts, was so enorm radikal ist. In Österreich ein Fracking-Verbot und keine neuen Öl- und Gasbohrungen. Und Tempo 100 auf der Autobahn. Und in Deutschland sind es ein 9-Euro-Ticket für den öffentlichen Verkehr und ebenfalls ein 100km/h-Limit auf der Autobahn.

Angesichts der Aussagen im IPCC-Bericht könnte man Letzte Generation also eher vorwerfen, dass sie zu wenig radikal sind. Stattdessen werden sie von den Boulevard-Medien und manchen Politiker:innen als „Terroristen“ oder „Grüne RAF“ bezeichnet. Oder sie werden medial diskreditiert, wenn etwa der Tod einer Radfahrerin instrumentalisiert wird, um den Klimaktivist:innen vorzuwerfen, sie würden den Tod von Menschen in Kauf nehmen (was in diesem Fall nachweislich nicht korrekt ist). Das alles ist absurd, beantwortet aber immer noch nicht die Frage, ob diese Form des Aktivismus kontraproduktiv für die Sache ist.

„Radikale Flanke“ kann Unterstützung erhöhen

Schauen wir mal in die Studie mit dem vielsagenden Titel „Radical flanks of social movements can increase support for moderate factions“, die im Juli 2022 erschienen und damit noch recht frisch ist. Der Titel enthält schon die Hauptaussage: Eine „radikale Flanke“ kann die Unterstützung für den moderaten Teil einer Bewegung erhöhen. Wenn also Gruppen wie die Letzte Generation „radikale“ Aktionen durchführen und (unter Umständen) den Unmut der Menschen auf sich ziehen, dann führe das nicht dazu, dass auch die moderaten Klimaschützer:innen darunter leiden.

Die Studie stellt auch fest, dass es die Nutzung von radikalen Taktiken ist, die diesen Effekt hat und nicht die von radikalen Forderungen: Wenn ein Teil einer Bewegung radikalen Taktiken einsetzt, wird das, was der moderate Teil macht, als weniger radikal angesehen, auch wenn sich dort gar nichts geändert hat. Das hat in den Experimenten die bei der Studie durchgeführt worden sind, dazu geführt, dass die Versuchspersonen größere Unterstützung für die moderate Fraktion entwickelten als vorher. Oder, um die Autoren der Studie selbst zu zitieren:

„These results suggest that activist groups that employ unpopular tactics can increase support for other groups within the same movement, pointing to a hidden way in which movement factions are complementary, despite pursuing divergent approaches to social change.“

„Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass Aktivistengruppen, die unpopuläre Taktiken anwenden, die Unterstützung für andere Gruppen innerhalb derselben Bewegung erhöhen können, was auf eine verborgene Art und Weise hindeutet, in der sich die Fraktionen der Bewegung ergänzen, obwohl sie unterschiedliche Ansätze zum sozialen Wandel verfolgen.“

Dieses Phänomen der „radikalen Flanke“ einer Bewegung ist natürlich nicht neu. Man kennt es zum Beispiel aus der Sufragetten-Bewegung Anfang des 20. Jahrhunderts oder der Bürgerrechtsbewegung in den USA.

Weitere Studie kommt zu ähnlichem Schluss

Zu einem ähnlichen Schluss kommt eine Studie aus dem Jahr 2020: „Disrupting the System Constructively: Testing the Effectiveness of Nonnormative Nonviolent Collective Action“. Dort wurden drei unterschiedliche Arten von Aktionen untersucht. Erstens „normative nonviolent action“, also alles, was sozial akzeptiert, gewaltfrei und innerhalb der legalen Normen der Gesellschaft ist. Friedliche Demonstrationen zum Beispiel oder Petitionen. Zweitens hat man „nonnormative nonviolent action“ untersucht, also Aktionen die nicht sozial akzeptiert sind, Normen und Gesetze verletzen (können), aber gewaltfrei sind. Ein Beispiel dafür wären Straßenblockaden oder Besetzungen. Der dritte Fall sind die „nonnormative violent actions“, also alles was tatsächlich nicht gewaltfrei ist: Ausschreitungen, Zerstörung von Eigentum, etc.

Die Aktionen von Letzte Generation kann man vermutlich der non-normativen gewaltfreien Aktionen zuordnen, es sei denn, man definiert das Beschmieren von Glasscheiben mit abwaschbaren Flüssigkeiten als „Zerstörung von Eigentum“ (, was aber eine sehr umfassende Definition von „Gewalt“ wäre). Am Ende kommt die Studie jedenfalls zu einem ähnlichen Schluss wie die aus dem Jahr 2022:

„Taken together, we show that nonnormative nonviolent action can be an effective tactic for generating support for concessions to the disadvantaged among those who are most resistant because it generates constructive disruption.“

„Zusammengenommen zeigen wir, dass nicht-normative gewaltfreie Aktionen eine wirksame Taktik sein können, um bei denjenigen, die sich am meisten wehren, Unterstützung für Zugeständnisse an die Benachteiligten zu gewinnen, weil sie eine konstruktive Störung verursachen.“

Vergleich von friedlichen Protestformen mit zivilem Ungehorsam

Eine weitere Studie aus dem Jahr 2020 („Does Climate Protest Work? Partisanship, Protest, and Sentiment Pools“) hat friedliche Protestformen mit zivilem Ungehorsam verglichen und dabei auch untersucht, inwieweit die Auswirkungen des Protests auf die Bevölkerung mit deren politischen Einstellung zusammenhängt (Demokraten vs. Republikaner in den USA). Das Ergebnis: Die Auswirkungen der friedlichen Demonstrationen sind in beiden Lagern gleich; ziviler Ungehorsam erreicht die Demokraten, aber nicht die Republikaner. Aber, und auch das ist eine interessante Erkenntnis, es konnte nirgendwo ein „backfire effect“ beobachtet werden, egal bei welcher Gruppe und Protestform; ziviler Ungehorsam hat der Bewegung also mindestens nicht geschadet. Das Fazit der Studie:

„This study (1) lends supports to the use of tactical diversity within the climate movement and (2) demonstrates how the broader forces of partisanship interact with protest to shift the pool of supporters available to movements, extending our nascent collective knowledge of how partisanship shapes the outcomes of social movements and protest.“

„Diese Studie (1) unterstützt den Einsatz taktischer Vielfalt innerhalb der Klimabewegung und (2) zeigt, wie die breiteren Kräfte der Parteilichkeit mit dem Protest interagieren, um den Pool der Unterstützer, der den Bewegungen zur Verfügung steht, zu verschieben, und erweitert so unser gerade erst entstehendes kollektives Wissen darüber, wie die Parteilichkeit die Ergebnisse sozialer Bewegungen und Proteste beeinflusst.“

taktische Diversität“

Auch hier wird also der Wert von „taktischer Diversität“ im Aktivismus gezeigt; ein Phänomen das ebenfalls nicht neu ist.

Man muss natürlich festhalten, dass es sich hier nicht um „harte“ Naturwissenschaft sondern um psychologische und soziologische Forschung handelt, die deswegen nicht per se schlechter ist, aber naturgemäß mit sehr viel mehr Unsicherheiten zu kämpfen hat. Die Aussagen sind also nicht unbedingt eindeutig (und die Forschungslücke habe ich ja weiter oben schon erwähnt). Der Artikel „The Activist’s Dilemma: Extreme Protest Actions Reduce Popular Support for Social Movements“ aus dem Jahr 2020 hat einen sehr eindeutigen Titel, fasst aber unter „extreme protest“ nicht nur Aktionen wie Straßenblockaden sondern auch definitive Sachbeschädigung und die Zerstörung von Eigentum. Die Aussage des Titels wird im Text außerdem noch ein wenig relativiert:

„Taken together with prior research showing that extreme protest actions can be effective for applying pressure to institutions and raising awareness of movements, these findings suggest an activist’s dilemma, in which the same protest actions that may offer certain benefits are also likely to undermine popular support for social movements.“

„Zusammen mit früheren Untersuchungen, die zeigen, dass extreme Protestaktionen wirksam sein können, um Druck auf Institutionen auszuüben und das Bewusstsein für Bewegungen zu schärfen, deuten diese Ergebnisse auf ein Dilemma der Aktivisten hin, in dem dieselben Protestaktionen, die gewisse Vorteile bieten können, wahrscheinlich auch die Unterstützung der Bevölkerung für soziale Bewegungen untergraben“.

Was will die Letzte Generation?

Womit wir uns jetzt auch mal fragen können, ob Aktivismus wie ihn die Letzte Generation & Co durchführen überhaupt das Ziel hat, die Masse der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen? Wenn das tatsächlich so wäre, dann müsste es sich bei den Aktivist:innen ja eigentlich um ziemlich dumme Leute handeln. Denn dass einem nicht die Herzen der Menschen zufliegen, wenn man sie auf dem Weg zur Arbeit blockiert etc., dürfte klar sein. Man kann aber durchaus davon ausgehen, dass die meisten der Aktivist:innen sich durchaus gut überlegen, was sie machen und wie sie es machen. Und ihnen dürfte ebenso bewusst sein, dass sie auf Kritik aus der Bevölkerung stoßen werden.

Aber erstens geht es eben – siehe oben die Zitate aus dem IPCC-Bericht – darum, radikale Änderungen durchzuführen und wer so etwas fordert, ist selten populär. Und zweitens erreichen die Aktivist:innen ja durchaus Menschen. Einerseits können sie mit ihren Aktionen Sympathisant:innen aus der eigenen Szene motivieren. Und andererseits erreichen sie die Medien. Dafür braucht es keinen wissenschaftlichen Beleg; man kann sich ja derzeit Tag für Tag ansehen, wo Vertreter:innen von Letzte Generation medial auftreten. In Talkshows, in Zeitungsinterviews, in Gesprächen mit Politiker:innen, und so weiter. Und auch das kann man als Erfolg definieren.

„Warum die ‚Letzte Generation‘ alles richtig macht“

Ich zitiere dazu den sehr lesenswerten Essay „Warum die ‚Letzte Generation‘ alles richtig macht“ von Friedemann Karig, der auf uebermedien.de erschienen ist (Paywall):

„Genau das wird durch eine radikale Flanke erreicht: Die Systeme gesellschaftlicher Organisation (Politik, Medien, Zivilgesellschaft) können ihr Anliegen nicht länger ignorieren. Und die folgende Diskussion zwingt viel mehr Menschen als zuvor, die Widersprüche nicht nur zu hören, sondern zu fühlen.“

Wir setzen uns mit den Aktionen von Letzte Generation auseinander. Mal mehr, mal weniger; mal sinnvoller, mal sinnfreier. Mal vernünftig, mal boulevardesk. Und sehen den Effekt um den es geht: Das, was viele sanftere Formen des Protestes nicht erreicht haben, haben diese Aktionen erreicht. Man kann gerne fordern, dass man weiter „lieb sein“ soll. Friedlich demonstrieren. Und so weiter. Das läuft aber alles auf die Forderung „Bitte nicht stören“ hinaus und so verständlich es ist, nicht gestört werden zu wollen: Irgendjemand oder irgendwas muss gestört werden, denn sonst ändert sich nichts. „Lieb sein“ hat ja offentlich nicht funktioniert. Die wissenschaftliche Basis ist seit Jahren bekannt.

Seit Jahren sind auch die notwendigen Maßnahmen bekannt. Die Forderungen sind bekannt. Man kann noch ein paar Jahre lang die Straßen auf und ab spazieren und niemanden stören. Dann wird vermutlich auch nichts passieren. Oder man kann die Straßen blockieren. Und die Verantwortlichen zu der Auseinandersetzung mit dem Thema zwingen, die sie bisher meiden. Man muss ja mit Protest auch gar nicht alle Menschen überzeugen. Das kann man sowieso nicht. Es reicht ein kleiner Teil der Bevölkerung, ein paar Prozent, um ausreichend viel Wirkung zu entwickeln, die dann auch die Politik nicht mehr ignorieren kann.

Wenn aus Wissenschaft Aktivismus wird

Momentan tun wir so, als wäre es sehr schlimm, wenn Menschen für kurze Zeit die Straßen blockieren. Wir regen uns über die „Zerstörung“ oder „Geringschätzung“ von Kultur auf, wenn doch nur ein paar Glasscheiben schmutzig sind. Was ich dagegen tatsächlich schlimm finde, sind Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die Dinge tun, die man von der Wissenschaft eigentlich nicht gewöhnt ist.

Eine Klimaforscherin und IPCC-Autorin, die eine Straße blockiert und dafür in Polizeigewahrsam kommt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich auf der Straße festkleben, weil sie alle anderen Methoden des Protests schon ausgeschöpft haben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die eigene Aktivismusgruppen gründen, um die Politik dazu zu bringen, die Klimaforschung nicht weiter zu ignorieren. Das alles ist schlimm. Denn wenn sich die Wissenschaft dazu gezwungen sieht, auf diese Weise zu handeln, dann ist die Lage wirklich ernst.

Man muss die Aktionen nicht kritiklos hinnehmen; soll man auch gar nicht. Protest lebt von Austausch und Diversität. Aber die Forderung bitte nur noch so zu protestieren, dass sich niemand davon gestört führt, ist nicht nur kontraproduktiv, sondern wissenschaftlich mindestens zweifelhaft. Die Wissenschaftler:innen, also die Menschen, die Dank ihres Berufs am besten über die Auswirkungen der Klimakrise Bescheid wissen, sind die, die gemeinsam mit den Aktivist:innen am lautesten und deutlichsten darauf hinweisen, dass es fatal wäre, untätig zu bleiben: Das sollte uns Sorgen machen!

Artikelbild: Lennart Preiss/dpa