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Studie: Werden Millennials weniger konservativ als ihre Großeltern?

von | Feb 21, 2023 | Aktuelles

In einem von der Financial Times veröffentlichten und auf Twitter zigfach geteilten Artikel untersucht John Burn-Murdoch Wahlumfragen in den USA und Großbritannien, die von 1964 bis 2022 durchgeführt wurden. Burn-Murdochs Datenauswertung umfasst eine Analyse der politischen Ansichten der letzten Generationen und ihren Wandel im Laufe der Jahre, einschließlich der Millennials, also der zwischen 1981 und 1996 Geborenen. Burn-Murdoch stellte fest, dass Millennials in den USA „viel weiter nach links tendieren“ als frühere Generationen. 

Quelle: Screenshot twitter.com

Bedeutet das, Millennials entgehen der Entwicklung von sozialrevolutionären Jugendlichen zu gesättigten Spießbürger:innen? Und was könnte der Grund sein, dass wir später weniger konservativ als Oma und Opa werden? Wir schauen drauf, welche Erkenntnisse sich aus der Untersuchung wirklich ziehen lassen und zeigen auf, warum es wichtig ist, sich nicht zu stark auf eine einzelne Studie zu fokussieren.

Wahlverhalten

Die alte Leier (das Zitat wird wahlweise Churchill oder Clemenceau zugeschrieben) hält sich bis heute hartnäckig:

If you’re not a socialist before you’re twenty-five, you have no heart; if you are a socialist after twenty-five, you have no head.

Quote Investigator

Mit zunehmendem Alter werden Menschen seit Generationen konservativer – das zeigt sich insbesondere in ihrem Wahlverhalten. Was ist mit den vielen jungen Nichtwählenden? Und hat Älterwerden wirklich etwas damit zu tun? Die in der Grafik abgebildeten Wahlergebnisse stammen aus den USA, wo im Gegensatz zu Deutschland ein Zweiparteiensystem existiert. In einem Land, in dem nur zwischen Republicans und Democrats entschieden werden kann, ist das Wahlverhalten nicht sehr aussagekräftig. Doch bevor wir nach Deutschland und zu den deutschen Millennials springen, schauen wir uns den gesellschaftlichen Kontext an, der diese Generation herausgebildet hat und dafür sprechen könnte, dass wir (ja, hier schreibt eine Baby-Millennial/Fast-Gen-Z-Oma) zu linken Greisen heranwachsen.

Überzeugte Antikapitalisten oder arme Schweine?

Zuerst einmal sind politische Überzeugungen der Generationen sicherlich keine monolithischen Gebilde:

Millionen junger Menschen wurden nicht mit einer besonderen Veranlagung geboren, die sie automatisch links oder progressiv macht. Vielmehr sind sowohl die Suche nach politischen Alternativen als auch der ernüchterte Ausweg vom völligen Verzicht auf politisches Engagement (wie es viele junge Wählende heute tun) beides ziemlich rationale Reaktionen auf die Welt, wie wir sie erlebt haben, d. h. auf die vielfältigen Krisen, finanziellen Zusammenbrüche und politischen Enttäuschungen, die seit Ende der 1990er Jahre vorherrschen.

In den USA besaßen beispielsweise Millennials weniger als 10 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts (2021), der Rest ist vor allem in den Händen der Boomer und Gen X – für Gen Z wird es wohl noch schlimmer aussehen. Die soziale Mobilität, also die Möglichkeit Einzelner zu höheren sozio-ökonomischen Schichten aufzusteigen, ist drastisch gesunken. Wer nicht vom System profitiert, ist weniger daran interessiert, es zu erhalten, als es zu verändern.

Hier eine kurze Analyse des sich selbst-ironisch als links-populistisch bezeichnenden YouTube-Kanals „The Kyle Kulinski Show“.

YouTube player

Auch Burn-Murdoch weist darauf hin, dass die meisten Millennials in der Zeit nach der globalen Finanzkrise erwachsen wurden und sich nun in ihren 30ern bezahlbares Wohneigentum schlichtweg nicht leisten können. Was erklären könnte, warum sie eher für eine Umverteilung des Wohlstands von den Reichen zu den Armen sind. 

Gen-Z hält bequemen Millennials den Spiegel vor

Eine popkulturelle Analyse erlaubt die steile These, dass Millennials sich ein Vorbild an Gen-Z nehmen – nicht andersrum. Beide Generationen würden sich annähern, statt auf Distinktion zu setzen.

“Heute weiß ich: Wir Millennials sind wirklich alles, außer besonders und mit unserem halb-ehrlichen Idealismus lässt sich wenig bis gar nichts verändern. Wir werden hysterisch bei Plastikstrohhalmen und matschen im selben Atemzug die dritte Avocado der Woche in die Mittags-Bowl”

So bringt es die Autorin Elisabeth Krainer in ihrem Artikel “Ich schäme mich ein Millennial zu sein- Und Gen Z ist daran Schuld” auf den Punkt. 

Gen Z stehe für eine überpolitisierte Jugend, sowohl im Diskurs, als auch auf der Straße, mit linksorientierten Bewegungen wie „Letzte Generation“ und „Extinction Rebellion“. Ihnen haftet ganz sicher nicht der Ruf an, politisch apathisch zu sein, anders als es den Millennials mit ihrer Hipster-Kultur geht. Das sieht man beispielhaft auch an der steigenden Wahlbeteiligung junger Wahlberechtigter zwischen 18 und 24 im Vereinigten Königreich, die deutlich stärker anstieg als die generelle Wahlbeteiligung:

“2005 hatten nur 37 Prozent der 18 bis 24 Jahre alten Wahlberechtigten bei den Nationalwahlen (UK) ihre Stimme abgegeben. 2017 und 2019 gaben jeweils 54 und 47 Prozent der 18- bis 24-Jährigen ihre Wahlzettel ab. 62 Prozent wählten in beiden Wahlen die eher linke Labour-Partei – 24 Prozentpunkte mehr als noch 2005.”

fluter.de

Auch „Spießer „wählen links

Doch reicht Wahlverhalten, um die Entwicklung einer ganzen Generation und ihres Wertekanons abzubilden?

„Heimat, Ordnung und Zusammenhalt – Werte, die man eher in deutschen Kleingartenanlagen und Heimatvereinen vermuten würde. Doch sie stehen auch bei jungen Menschen unter 30 Jahren hoch im Kurs, wenn man einer Befragung der Forschungsgruppe Wahlen im Auftrag der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung Glauben schenkt.“

Augsburger Allgemeine

Studien sind lediglich ein Deutungsangebot, doch es lohnt sich, hier genauer hinzusehen. Denn die Studie zeigt, dass nicht nur Werte das Wahlverhalten beeinflussen, sondern das Selbstbild der Wählenden. Junge Menschen wollen nämlich nicht als konservativ wahrgenommen werden. Den Begriff bewerten junge Menschen explizit als schlecht. Das gilt auch für Begriffe wie „Tradition“ und „Werte“. Anscheinend paradoxerweise stehen gleichzeitig gerade Werte wie „Zusammenhalt“ und „Sicherheit“ bei den befragten jungen Menschen hoch im Kurs. Werte, die von einer konservativen Grundhaltung zeugen könnten.

Dennoch: Weltweit hat sich die Vorstellung, dass junge Unzufriedene mit zunehmendem Alter eine weichere Haltung einnehmen, inzwischen relativiert. Millennials weisen in fast allen Ländern mit fortschreitendem Alter weiterhin eine kritische Haltung auf. Und zwar nicht nur gegenüber konservativen Parteien, sondern auch gegenüber demokratischen und linksorientierten Parteien. Wenn konservative Parteien in Zukunft nicht mehr auf „die Alten“ setzen können, würde es bedeuten, dass Parteien wie die CDU oder FDP nicht mehr nach rechts rücken und sich mit AFD-ähnlichen Parolen den rechten Rand stärken? Um die jungen und die jung gebliebenen Stimmen zu gewinnen, müssten man in Zukunft „linkere“ Parolen skandieren.

Fazit: Entwicklung bei Millennials ist komplizierter, als es scheint

Erste Schlussfolgerung: Über dieses Thema könnten wir ein ganzes Buch schreiben, weil es so dicht ist und die Gründe vielschichtig. Und wir einfach Antworten auf komplexe Fragen nicht leiden können – sonst würden wir ja selbst die Verschwörungsmythen glauben wollen, die wir stattdessen debunken.

Lange Rede, kurzer Sinn:

Burn-Murdoch führt das Studienergebnis darauf zurück, dass Millennials im Aftermath der globalen Finanzkrise 2008 aufwuchsen und eine politische Haltung entwickelten. Wahlverhalten und Wertekanon eines Wählenden sind nicht synonym. Auch die gefährliche, global steigende Unzufriedenheit mit demokratischen Systemen und ihren Möglichkeiten der Partizipation muss beachtet werden. Junge Menschen fühlen sich selbst in Ländern mit demokratischen Regierungen nicht repräsentiert und können nicht auf Wohlstand mit zunehmendem Alter hoffen.

Screenshot twitter.com

Millennials sind die erste Generation in der neueren Geschichte, die ärmer ist als ihre Elterngeneration. Und das wird Konsequenzen haben. In einer Studie aus dem Jahr 2012 argumentieren Psycholog:innen: Es sei Bestandteil konservativer Ideologien, die jeweils bestehende Verhältnisse zu legitimieren. Konservative sind glücklich, weil das Schlechte ausgeblendet wird und alles bleiben darf, wie es ist; Progressive leiden hingegen am Status quo, da sie sich angesichts der allgegenwärtigen Ungerechtigkeiten machtlos fühlen.

Vielleicht sind Millennials gezwungenermaßen leidensfähiger als frühere Generationen und bleiben es bis ins hohe Alter.

Artikelbild: shutterstock