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Das widerlegt alle, die Schweden lobten: So viele Tote wie seit 150 Jahren nicht

von | Aug 20, 2020 | Aktuelles, Corona

So viele Tote wie seit 150 Jahren nicht

Immer noch gibt es Menschen, die das Narrativ verbreiten, Schweden würde besonders gut durch die Corona-Pandemie kommen. Nicht, weil die Zahlen das hergeben, sondern weil Schweden im Vergleich zu seinen Nachbarn und auch zu Deutschland weniger drastische Eindämmungsmaßnahmen vorgenommen hat und viele Menschen, die der Meinung sind, die Maßnahmen Deutschlands seien unnötig gewesen, das deshalb wahr haben wollen.

Dass daran etwas nicht stimmen kann, zeigt diese erschreckende Statistik: Das schwedische Amt für Statistik hat veröffentlicht, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres 2020 so viele Menschen in Schweden gestorben sind wie seit über 150 Jahren nicht mehr. Durch Covid-19 starben bis Ende Juni 4.633 Schwed:innen (Quelle) – inzwischen liegt die Zahl bei 5.800 (Quelle) (Quelle). Die Zahl anteilsmäßig ist viel höher als in den schwedischen Nachbarländern.

Das letzte Mal war es eine Hungersnot

Insgesamt starben im ersten Halbjahr 2020 über 51.000 Schwed:innen – und ist damit das tödlichste Jahr seit 1869. In diesem Jahr suchte unter anderem eine Hungersnot das Land heim. Die Bevölkerungszahl lag damals bei 4,1 Millionen, im Vergleich zu den 10,3 Millionen heute. Das heißt, dass aufgrund von Corona in Schweden die Übersterblichkeit in Schweden rund 10% höher war als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Am tödlichsten war der April (Quelle).

Aber auch diese Statistik von Anfang Juni zeigte Schweden als traurige Spitze: Bei den täglichen Corona-Toten je Einwohner*in. Schweden hatte das 14-fache der deutschen Anzahl – hochgerechnet auf unsere Bevölkerung wären das über 450 Tote täglich gewesen.

Quelle: FT analysis of data from the European Centre for Disease Prevention and Control and the Covid Tracking Project. Data updated June 2 2020 3.07pm BST (Link)

Hätten wir in Deutschland anteilsmäßig so viele Tote gehabt wie in Schweden wären 47.000 Menschen bis heute verstorben. Zum Vergleich: In Deutschland starben bisher „nur“ 9.300 Menschen (Quelle).

In Schweden gibt es aber auch viele Maßnahmen

In Schweden gab es keine gesetzlich angeordneten Ausgangsbeschränkungen (einen echten „Lockdown“ gab es auch in Deutschland nicht übrigens – dafür in Neuseeland Quelle). Hintergrund ist vor allem juristisch: Die Ausrufung eines Ausnahmezustands ist rechtlich in Friedenzeiten auch gar nicht möglich, dafür trat ab 18. April eine Ergänzung des Seuchenschutzgesetzes in Kraft (Quelle).

Laut Government Response Stringency Index der University of Oxford (Quelle), der 17 verschiedene Indikatoren untersucht und zeigt, wie stark die Maßnahmen der einzelnen Länder auf einer Skala von 0 bis 100 sind, liegt Schweden bei 37. Zum Vergleich: Deutschland lag bereits bei 70, inzwischen 57. Dänemark und Finnland lagen auch eine Zeit lang in den 70ern, inzwischen auch bei 56 und 37 respektive.

Das heißt: Schweden setzt mehr auf Freiwilligkeit und Empfehlungen. Dennoch gibt es viele Einschränkungen und der Alltag hat sich auch drastisch verändert, das zeigen auch Mobilitätsdaten von Google (Quelle). In der Hinsicht unterscheidet sich Schweden nicht groß von Deutschland. In Schweden sind aber vor allem Schulen und Kitas offen geblieben.

Die Infiziertenzahlen sind jedoch in Schweden weniger zuverlässig – dort wird vergleichsweise viel weniger getestet als bei uns (Quelle). Es ist davon auszugehen, dass viel mehr Infektionen unerkannt bleiben.

Aber die Wirtschaft?

Es ist etwas grausam, aber Pandemie-Leugner:innen verweisen dafür auf die Wirtschaft Schwedens: Das Bruttoinlandsprodukt ist im zweiten Quartal lediglich um 8,6% geschrumpft. Das ist zwar immer noch verheerend, aber im Vergleich zu anderen EU-Staaten glimpflicher: Deutschland (-10,1 Prozent), Frankreich (-13,8 Prozent), Spanien (-18,5 Prozent) oder der EU insgesamt (Quelle). Schwedens Nachbar Finnland sieht aber anders aus: Dort schrumpfte die Wirtschaft lediglich um 5%, auch mit strikteren Maßnahmen (Quelle).

Weit entfernt von Herdenimmunität

Manche argumentieren, die hohen Todeszahlen in Schweden wären zwar schrecklich, jedoch hätte Schweden dadurch die Herdenimmunität erreicht und brauche deshalb keine zweite Welle zu fürchten wie andere Länder. Das ist jedoch ebenfalls Wunschdenken: Antikörpertests ergaben Infektionsraten von gerade mal vier bis sieben Prozent (Quelle). Für Herdenimmunität bräuchte man mehr als 60 Prozent. Kein Wunder, dass Schwedens Nachbarländer zögerlich sind, die Grenzen zu öffnen – man fürchtet Ansteckung durch das Nachbarland (Quelle).

Schwedens führender Epidemiologe Tegnell gibt einen anderen Grund für die hohen Todeszahlen: Altersheime. Tegnell erklärt, fast 50 Prozent der Toten lebten in Altersheimen (Quelle). Das scheint aber nicht der Grund zu sein: In der Schweiz sollen ebenfalls 53% der Covid-19-Toten aus Altersheimen stammen (Quelle). Und was auch Besorgnis verursacht: Schwedischen Berichten zu Folge ist die Übersterblichkeit in Altersheimen doppelt so hoch wie im Mittel der letzten fünf Jahre (Quelle).

Zum Vergleich: In Deutschland liegt der Anteil bei 38 Prozent laut RKI. Dazu muss man allerdings auch sagen, dass dem RKI bei fast einem Drittel aller Toten keine Informationen vorliegen, ob es sich um Heimbewohner*innen gehandelt hat. Die Zahlen könnten hierzulande also genau so hoch liegen. Außerdem: Die Altersverteilung der Corona-Toten unterscheidet sich in Deutschland und Schweden nicht groß. 60-69 Jährige (7 % Schweden vs 9 % Deutschland), 70-79 Jährige (22 % vs 22 %), 80-89 Jährige (41 % vs. 45 %) und Über-90-jährige (25 % vs 19 %) (Quelle, Quelle).

Schweden hatte eine heimliche Triage

Was ist also passiert? Schweden hat vergleichsweise eine geringere Anzahl an Intensivbetten – dennoch waren die Intensivstationen laut offiziellen Statistiken nie komplett ausgelastet, obwohl sie pro Einwohner*in deutlich mehr Todesfälle hatten. Der grausame „Trick“: Schweden hat eine Überlastung und eine Triage wie in Bergamo oder New York vermieden, weil sie alte Menschen einfach nicht versorgt haben. Zwei Drittel aller ihrer Toten sind über 80 – auf der Intensivstation waren allerdings nur fünf Prozent (Quelle).

Lokale Gesundheitsämter hatten von der Verlegung älterer Patient*innen abgeraten haben, ebenso von der Beatmung als palliative Maßnahme ohne die Zustimmung einer Ärztin/eines Arztes (Quelle). Es gab also keine Überlastung der Krankenhäuser – denn man hat die Alten einfach im Altersheim sterben lassen. Im Grunde genommen bestand also der schwedische Sonderweg daraus, dem jüngeren Teil der Bevölkerung mehr Freiheiten zu lassen, Kitas und Schulen offen zu lassen – und dafür alte Menschen in den Altersheimen sterben zu lassen, um nicht die Krankenhäuser zu überlasten.

Ob die vielen Toten die etwas bessere Wirtschaftslage rechtfertigen, ist deshalb zweifelhaft. Auch weil sich der letztlich Ausgang erst noch zeigen wird. Auch ist es falsch, dass nur Leute gestorben wären, die „ohnehin gestorben“ wären. Nicht nur widerspicht die massive Übersterblichkeit dieser Tatsache, Studien zeigen auch, dass das Virus im Schnitt 9 Lebensjahre kostet (Quelle). Vergessen darf man dabei auch nicht, dass auch Überlebede bisher teils schwere, lang anhaltende Folgeschäden davon getragen haben (Quelle) und natürlich das zynische, aber oft vergessene Argument: Viele Tote schaden der Wirtschaft auch. Ein Lockdown rentiert sich letztlich auch wirtschaftlich mehr. Tote können nicht konsumieren und arbeiten.

Mehr dazu:

Coronomics: Warum die harten Corona-Maßnahmen unsere Wirtschaft schützen

Artikelbild: rozdemir


Unsere Autor:innen nutzen die Corona-Warn App des RKI: