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5 Bullshit-Argumente gegen das Selbstbestimmungsgesetz widerlegt

von | Dez 21, 2022 | Aktuelles

Noch bis Ende dieses Jahres möchte die Bundesregierung für das neue Selbstbestimmungsgesetz einen finalen Gesetzesentwurf vorlegen. Dieser soll das diskriminierende, extrem veraltete Transsexuellengesetz[1] von 1980 ablösen und es vor allem trans* Personen ermöglichen, ihren Geschlechtseintrag in offiziellen Dokumenten wie beispielsweise dem Pass unkompliziert beim Standesamt ändern zu lassen. Dass mit einer solchen Revolution des Selbstbestimmungsrecht für alle Menschen nicht jeder zufrieden ist, ist für viele unverständlich. Deswegen werden in diesem Artikel die fünf häufigsten Argumente gegen das kommende Selbstbestimmungsgesetz aufgezählt und erklärt, warum diese nicht nur ziemlich schwach, sondern auch sehr trans*- bzw. menschenfeindlich sind.

Selbstbestimmungsgesetz bringt Erleichterungen für trans* Personen

Aber beginnen wir von vorne: Vorgestellt wurde die Idee zum neuen Selbstbestimmungsgesetz von der Bundesfamilienministerin Lisa Paus und dem Bundesminister der Justiz Dr. Marco Buschmann. Es soll dazu beitragen, den bisher sehr zeit- und kostenaufwendigen Prozess der Änderung des Geschlechtseintrages für trans* Personen ab 18 Jahren so weit wie möglich zu erleichtern. Für trans* Personen ab 14 Jahren besteht die Möglichkeit, ihren Geschlechtseintrag mit der Zustimmung der Sorgeberechtigten oder mit Unterstützung des Familiengerichts zu ändern.

Für unter 14 Jährige kann die Eintragungsänderung nur durch die Sorgeberechtigten geschehen. Außerdem besteht nach einer Änderung eine Sperrfrist von einem Jahr, um zu verhindern, dass der Eintrag zu häufig geändert wird. Übrigens: Zur Vereinfachung von geschlechtsangleichenden Operationen soll das Selbstbestimmungsgesetz nicht beitragen. Es handelt sich lediglich um eine Beschleunigung des Prozesses der formellen Eintragung. Das Selbstbestimmungsgesetz ist also nur eine bürokratische Sache. Mehr Informationen zum geplanten Gesetz findet ihr auf der Seite des Bundesfamilienministeriums oder auch kompakt bei der Tagesschau.

Screenshot tagesschau.de

Trotz dieses meiner Meinung nach bis hierhin gut durchdachten Gesetzesvorschlags gibt es immer noch hetzende Stimmen, die sich lautstark dagegen äußern, Menschen ein Recht auf freie Selbstbestimmung zuzuschreiben.

Die 5 häufigsten „Argumente“ zum Selbstbestimmungsgesetz werde ich in diesem Artikel debunken. Sie lassen wesentliche Dinge außer Acht und eröffnen Narrative, die den Blick in dieser Debatte auf gänzlich irrelevante Tatsachen lenken.

Argument 1: Wer Belästigen will, wird sich vom Geschlechtseintrag nicht aufhalten lassen

Werfen wir zuerst einmal einen Blick in einige Kriminalstatistiken. Dann kann nämlich erstens festgestellt werden, dass über 50% der Opfer von Sexualdelikten die Täter*innen vorher schon gekannt haben. Zweitens wurde laut der schriftlichen Dokumentation [pdf] des bff Kongresses von 2010 nur jede siebte Vergewaltigung von einer dem Opfer unbekannten Person begangen. Es handelt sich also sehr selten um ‚Zufallstaten‘. Drittens ist noch immer der gefährlichste Ort für Frauen das eigene Zuhause: Forscher*innen der HTWK in Leipzig gehen davon aus, dass 70% der körperlichen und sexuellen Übergriffen in den eigenen vier Wänden stattfinden.

Die Faktenlage zeigt also eindeutig, dass Sexualstraftaten überwiegend im persönlichen Umfeld oder Bekanntenkreis geschehen und es sich nur selten um ‚Zufallstaten‘ handelt, bei denen Täter*innen das Opfer spontan auswählen. Wenn es sich dann also um eine solche Zufallstat handeln würde – wie das Argument gegen das Selbstbestimmungsgesetz es spinnt – würde diese dann nur umsetzbar sein, wenn das Gesetz in Kraft tritt? Nein. Denn wer bisher Frauen in Umkleiden oder Saunas belästigen möchte, der kann das (leider) auch einfach tun. Nämlich Indem er oder sie den Bereich betritt, ob die Person nun „darf“ oder nicht.

Warum sollte sich also ein triebgesteuerter Sexualstraftäter noch die Mühe machen, vorher zum Standesamt zu gehen, um seinen Geschlechtseintrag zu ändern? Nur damit er dann auch offiziell im Schwimmbad in die Frauenumkleiden „darf“? Zumal dafür auch erst ein Gang zum Standesamt und anschließend eine Neubeantragung des Passes nötig wäre. Diese kostet fast 60€ und dauert schätzungsweise 8 Wochen. Vorausgesetzt, man bekommt direkt einen Termin beim zuständigen Amt.

Es gibt doch sowieso keine Ausweiskontrollen an Umkleidekabinen

Jemand, der Frauen belästigen will, wird sich nicht die Mühe machen, zuerst wochenlang auf seinen neuen Pass zu warten. Nein, die Person wird einfach in die Umkleide gehen und die Frauen belästigen. Das eingetragene Geschlecht wird dabei keine Rolle spielen, auch nicht, ob er in der Umkleide „hätte sein dürfen“. Wurde jemand von euch überhaupt schon einmal vor dem Betreten einer Umkleide oder einer Sauna nach dem Pass gefragt, damit die Security am Eingang überprüfen konnte, ob ihr auch WIRKLICH ein Mann oder eine Frau sind und damit überhaupt in diese oder jene Umkleide „dürft“? Ich nehme euch das Nachdenken ab: Nein. Ich bin mir sehr sicher, dass das noch niemandem passiert ist. Denn welches Geschlecht in unseren Dokumenten eingetragen ist, interessiert und kontrolliert beim Betreten einer Umkleide niemanden.

Wir gehen doch selbst einfach immer dahin, wo wir es für richtig halten. Was ich damit sagen möchte ist, dass es dieses Selbstbestimmungsgesetz niemandem erleichtern würde, einfach in Frauenumkleiden oder -Saunas zu marschieren. Denn das ist jetzt (leider) auch einfach schon möglich. Ich halte es auch eher für ein Armutszeugnis unserer Gesellschaft, dass viele Menschen einen solch wichtigen Gesetzesvorschlag nur deswegen ablehnen, weil sie von vorneherein davon ausgehen, dass es Männer geben wird, die ihn ausnutzen, um Frauen zu belästigen oder zu missbrauchen. Das zeigt doch das eigentliche Problem auf, oder nicht? Wir sollten uns nicht davon abhalten lassen, Gesetze einzuführen, die wichtig und notwendig sind, nur weil eine kleine Wahrscheinlichkeit besteht, dass Menschen sie ausnutzen. Die besteht schließlich bei jedem Gesetz.

Argument 2: Frauenhäuser bleiben weiterhin safe spaces!

Frauenhäuser sind Safe Spaces, die leider in erster Linie deswegen notwendig sind, weil Männer gewalttätig werden. Das BMFSFJ schreibt dazu: „Über die Aufnahme in ein Frauenhaus entscheidet das Team der Einrichtung. Eine Verpflichtung der Einrichtung zur Aufnahme einer bestimmten Person besteht nicht. Frauen können des Frauenhauses verwiesen werden, wenn sie sich nicht an die Satzungen oder Hausordnungen halten können“. Die in konservativen Kreisen erstaunlich weit verbreitete Vorstellung, dass sich ein Mann also extra als Frau eintragen lässt, um dann unbehelligt in ein Frauenhaus zu spazieren und sich dort einen netten Nachmittag zu machen, ist fernab der Realität. Jedes Frauenhaus kann individuell entscheiden, wen sie aufnehmen möchten und/oder können.

Bei einer Ablehnung hat das dann auch nichts mit „Diskriminierung“ zu tun (wie man oft aus rechten Kreisen hört). Gründe sind vielleicht logistische (möglicherweise gibt es keine freien Zimmer mehr) oder zwischenmenschliche Aspekte (die Frau erweckt nicht den Eindruck, als benötige sie dringend Hilfe, im Gegensatz zu andere Frauen, die vielleicht in das Frauenhaus möchten). Hier erweckt das Argument den Eindruck, die Frauen in Frauenhäusern sollten lediglich vor den bösen Männern geschützt werden, die ein solches Gesetz ausnutzen könnten. Dieser Fall ist, realistisch gesehen, ziemlich unwahrscheinlich. Denn die Mitarbeitenden der Frauenhäuser hören ja nicht plötzlich auf zu kontrollieren, wer mit welchen Intentionen zu ihnen kommt.

Argument 3: Karriere machen ist immer noch einfacher als Mann – trotz Frauenquote!

Als Frau hat man es am Arbeitsmarkt im Durchschnitt immer noch schwerer, Karriere zu machen. Das liegt vor allem auch daran, dass die höheren Etagen von Unternehmen bis heute Männerdomänen sind. Entsprechend existiert auch nach wie vor ein Gender Pay Gap. Über das folgende Argument musste ich also lauthals lachen, als ich es zum ersten Mal in rechten Propagandaartikeln las: Männer könnten sich als Frau eintragen lassen, um dann über die Frauenquote in den Vorstand eines Unternehmens zu kommen. Ach ja, wenn es für Frauen doch nur so einfach wäre. Dann säße ich auch schon längst in einem Vorstand und würde meine Milliönchen scheffeln. Leider gibt es aber immer noch etwas, dass bei der Auswahl für Vorstandsmitglieder eine kleine aber entscheidende Rolle spielt: Kompetenz. Ach ja, und das Geschlecht. Das aber nicht zugunsten von Frauen.

Denn trotz der gesetzlich vorgeschriebenen Frauenquote (die übrigens in den meisten Bereichen weit weniger als 50% beträgt), schaffen es nur extrem wenige Frauen in die Vorstände. Das liegt aber oftmals nicht daran, dass sie nicht so kompetent wären wie ihre männlichen Mitstreiter, sondern nur daran, Trommelwirbel… Dass sie eine Frau sind. Das hat zumindest Dr. Carsten Wippermann in einer Studie 2010 herausgefunden. Die Behauptung also, dass Männer durch die Änderung ihres Geschlechts auf dem Papier karrieretechnische Vorteile erlangen würden, ist nicht nur schlichtweg falsch. Sie ist auch ignorant den Menschen gegenüber, die seit Jahrzenten unter diesem diskriminierenden System in der Arbeitswelt leiden.

Argument 4: Nein, man kann nicht einfach „zur Frau werden“, um sportlich erfolgreich zu sein

Kommen wir nun zu etwas, das die meisten Männer eigentlich kaum interessiert. Außer eben, wenn im selben Atemzug wieder über die „Gender-Ideologie“ hergezogen werden kann: Frauensport. Genauer gesagt: trans Frauen im Frauensport. Denn obwohl bei weitem nicht so viele Menschen über die Fußball oder Handball-WM der Frauen sprechen, sind doch alle Ohren gespitzt, wenn es um trans Frauen im Leistungssport geht. Ich habe mich jedoch dazu entschieden, dieses Fass hier nicht zu öffnen, sondern mich lediglich auf „Männer, die ihren Geschlechtseintrag nur ändern, um als „Frau“ an Frauenwettbewerben teilzunehmen“ zu beschränken.

Das ist nämlich so einfach gar nicht möglich: Um sich als Person für einen „Frauenwettbewerb“ anmelden zu können, muss der Testosteronspiegel der Person für über 12 Monate unter 10 Nanomol/l Blut liegen. Bei cis Männern (also Männern, die als solche geboren wurden und sich auch mit diesem biologischen Geschlecht identifizieren) liegt der durchschnittliche Nanomol/l Blut Wert bei 12 – 40 nmol/l. Das bedeutet, dass sich kein Mann einfach durch einen geänderten Geschlechtseintrag als Frau ausgeben kann, um im Frauensport große Erfolge zu erzielen. Eine Senkung des Testosteronwertes im Blut geht lediglich durch eine Hormontherapie, wie sie beispielsweise bei trans* Personen durchgeführt wird.

Screenshot: hormonspezialisten.de

Argument 5: Trans* Personen suchen sich ihre Situation nicht beliebig aus

Okay, dass trans* Personen sich die Marginalisierung und den damit verbundenen gesellschaftlichen Hindernislauf nicht freiwillig aussuchen, dürfte allen einleuchten. Trotzdem muss ich noch kurz auf ein „Argument“ eingehen, was ich zu Haufe in Kommentarspalten von Beiträgen sehe, in denen es um verschiedene Geschlechter geht. Öfter ließt man bewusst absurd hetzende Kommentare á la „Wenn ich mich für ein Einhorn halte, heißt das nicht, dass ich auch eins bin.“ Eben solche Kommentare tragen kein Stück zu einer sachlichen und lösungsorientierten Debatte bei.

Der Vergleich zwischen dem „Wunsch“ ein Fabelwesen zu sein (oftmals sind es auch Gegenstände oder Tiere, die als Vergleich angeführt werden) und dem inneren Leidensdruck nach der Anerkennung der Gesellschaft zu dem Geschlecht, mit dem man sich identifiziert und wohlfühlt, ist mehr als geschmacklos. Immer noch scheinen viele nicht zu verstehen, dass trans* Personen sich ihre Situation nicht aussuchen. Da geht es nicht um ein „Ach, heute fühle ich mich als Frau, heute als Mann und heute als Kaninchen“. Es handelt sich um eine komplette Abstoßung des eigenen Körpers, weil er nicht dem entspricht, wie er sein sollte. Weil man einfach im falschen Körper auf die Welt gekommen ist.

Wir können uns alle fragen: Wie würde es uns gehen, wenn uns plötzlich alle Mitmenschen mit ‚Herr‘ ansprechen, obwohl wir eine Frau sind (oder umgekehrt)? Wenn uns alle mit einem falschen Namen ansprechen würden? Wie lange hätten wir die Kraft dazu, den anderen immer und immer wieder so sagen „Das ist nicht mein richtiger Name“ oder „Versteht ihr nicht, dass ich eine Frau bin“? Wenn alle um uns herum zu blind wären, um zu sehen, wer wir eigentlich sind? Und uns die Gesetzgebung dann auch noch erschwert, festlegen zu können, wer wir sind? Wie frustrierend muss sich das anfühlen?[2] Die meisten Menschen können sich glücklich schätzen, das niemals durchmachen zu müssen. Mich schließt das auch ein. Trotzdem ist es unsere Pflicht als Menschen, andere zu unterstützen und ihnen wenigstens die Möglichkeit zu geben, ihr Leben nach ihren Vorstellungen zu gestalten.

Fazit zum Selbstbestimmungsgesetz: Recht auf Selbstbestimmung tut niemandem weh

All die hervorgebrachten Argumente zum Selbstbestimmungsgesetz wirken auf mich herbeigesponnen, um nur irgendwelche Scheinargumente gegen dieses Gesetz zu erfinden. Jedes dieser Argumente lässt sich nämlich durch einen kurzen Blick in vorhandene Statistiken oder auch nur durch Empathie für leidende Menschen entkräften. Kritiker*innen scheinen in dieser Debatte oftmals den Kern der Sache zu vergessen. Das Selbstbestimmungsgesetz ist für trans* Personen gedacht, die die Gesetzgebung seit über 40 Jahren diskriminiert. Diese Menschen wollen einfach nur offiziell der Mensch sein, der sie sind. Und zwar ohne vorher völlig unangebrachte und entwürdigende Fragen zu ihrer sexuellen Orientierung oder sexuellen Vorlieben beantworten zu müssen. Oder einem Gericht beweisen zu müssen, dass sie wirklich Mann oder Frau oder eben auch nicht binär (also keinem der zwei „klassischen“ Geschlechter zugehörig) sind.

Woher kommt die dem entgegengebrachte Transfeindlichkeit? Das Recht auf Selbstbestimmung tut niemandem weh, außer denen, denen es vorenthalten wird. Ja, das Gesetz könnte in Einzelfällen ausgenutzt werden. Das darf uns aber nicht davon abhalten, es trotzdem durchzubringen. Offenbar besteht eine allgemeine Angst davor zu akzeptieren, dass nicht alles einfach „von Gott“ oder „der Natur“ vorgegeben ist. Cis Personen müssen ja auch vor niemandem beweisen, dass sie dieses oder jenes Geschlecht haben. Warum sollten es also trans* Personen müssen? Warum können Menschen nicht selbst wissen, wer sie sein möchten?

Auf Volksverpetzer gibt es bereits Beiträge dazu, wie manche Rechte und Konservative gegen trans* Personen hetzen. Falls ihr mehr dazu wissen wollt, empfehlen wir diesen Artikel über transfeindliche Hetze der WELT vom Juni:


[1] Übrigens ist das Wort ‚Transsexuell‘ faktisch falsch. Der Wunsch nach einer Transition hat nämlich nichts mit der sexuellen Orientierung einer Person zu tun. Es geht hier um die gefühlte und gelebte Geschlechtsidentität. Deswegen lautet der korrekte Begriff ‚Transgender‘.

[2] Durch diesen Vergleich versuche ich, die Situation von trans* Personen für Menschen zu erklären, die mit dem Thema bisher wenig Berührungspunkte hatten. Ich selber bin eine cis Frau und kann mir deshalb nur vorstellen, wie es für trans* Personen sein muss. Keinesfalls möchte ich mit diesem Vergleich die Situation Probleme, Gedanken oder Gefühle von trans* Menschen herunterspielen, relativieren oder banalisieren.

Artikelbild: tagesschau.de / canva.com