3.820

Querdenker machen aus Polizeigewalt gegen St. Pauli-Fan Angriff auf sich

von | Nov 16, 2022 | Aktuelles

In einschlägigen „Querdenken“-Kanälen auf Telegram macht aktuell ein Video die Runde, das einmal mehr zeigt, wie Fake News häufig funktionieren: Echte Aufzeichnungen, Bilder und Videos werden genutzt und in den falschen Kontext gesetzt. In diesem Fall in einen Kontext, der dem verqueren Narrativ der „Querdenker:innen“ entspricht. So möchten Figuren wie Michael Wendler nun darauf aufmerksam machen, wie unfair Energiepreis-Protestierende behandelt werden – und untermauern ihre These mit einem Video, das vermeintlich Polizeigewalt auf einer solchen Demonstration zeigen soll. Und tatsächlich, die Aufnahme dokumentiert das gewaltsame Vorgehen eines Bundespolizisten gegen eine am Boden liegende Person. Doch ein näherer Blick zeigt: Es handelt sich gar nicht um einen Protest gegen steigende Energiepreise. Stattdessen ist das Video im Vorfeld eines Fußballspiels des FC St. Pauli gegen den Hamburger Sport-Verein entstanden.

„Querdenker“ wären gern Freiheitskämpfer gegen brutales Regime

„Eine deutsche Lektion in Staatsbürgerkunde“ untertitelt ein Telegram-Kanal das Video, der sich regelmäßig über Corona-Maßnahmen echauffiert und 5G als tödlich darstellt. Weiter verkündet der Post, dass sich das Video global verbreite und es im Ausland für Entsetzen sorgen dürfte. In der Bundesrepublik sei das „‚harte Durchgreifen‘ gegen einheimische Demonstranten“ bei ‚Maßnahmenprotesten‘ dagegen parteienübergreifend begrüßt worden. 

Im Video ist zu sehen, wie ein Beamter eine Person am Boden mit dem Knie auf dem Kopf fixiert und sie mehrfach in den Nierenbereich schlägt. Die Aufnahme für ihre Zwecke nutzend, behaupten „Querdenker:innen“ einfach mal, die Person am Boden wäre einer von ihnen. Jemand, der sich gegen hohe Energiepreise einsetzt und dafür von einem Bundespolizisten brutal angegriffen wird. Weiterhin zu behaupten, dass ein solcher Übergriff parteiübergreifend begrüßt würde, setzt „Querdenker:innen“ in die so beliebte Opferrolle, in der sie als alleinige Wahrheitsträger gegen ein brutales Regime ankämpfen. Doch auch dieser Versuch, die eigene Bewegung zu verklären, zeigt nur wieder, dass es nicht um Wahrheit geht. Denn dann hätte der Post wohl auch offenbaren müssen, dass es sich in Wirklichkeit um einen Fußballfan handelt, der da am Boden liegt.

St. Pauli-Fan wird von Polizist fixiert – Zusammenhang mit Demonstration ist „Humbug“

Er wollte am 14. Oktober 2022 das Hamburger Fußballderby zwischen dem FC St. Pauli und dem Hamburger Sport-Verein besuchen. Doch dazu kam es nicht, denn als sich rund 150 bis 200 St.-Pauli-Fans entschieden, zu den HSV-Fans zu stürmen, griff die Polizei ein. Dabei kam es – wie im Video zu sehen – mitunter auch zur Ausübung von Gewalt, ein 60-Jähriger erlitt nach Angaben der Polizei eine schwere Hüftverletzung. Das Video sorgte bereits Mitte Oktober für scharfe Kritik. Der Fanclubsprecherrat des FC St. Pauli bestand auf einer Stellungnahme der Polizeiführung und des Hamburger Innensenators. Ein Fanclub schrieb außerdem, dass sich die Auseinandersetzung schon vor dem Eingreifen durch die Polizei „eigentlich wieder beruhigt“ hatte. Das Dezernat Interne Ermittlungen ermittelt seither gegen einen Bundespolizisten.

Sowohl die Polizei als auch der FC St. Pauli haben sich mittlerweile zur zweckentfremdeten Aufnahme geäußert. Der Fußballverein machte darauf aufmerksam, dass im Hintergrund des Videos das Stadion zu sehen ist. Die Polizei bezeichnet die Aufnahme derweil als „hinlänglich bekanntes Video“ und einen Zusammenhang mit Protesten gegen gestiegene Energiepreise als „Humbug“.

Auch echte Bilder und Videos werden für Desinformation zweckentfremdet

Was die Behauptungen der „Querdenker:innen“ noch absurder macht: Beim FC St. Pauli handelt es sich um einen Verein, dessen Support sich zu großen Teilen aus linken Fans zusammensetzt. Er ist auch bekannt dafür, sich politisch links zu engagieren. Was machen rechte „Querdenker:innen“ also, wenn ihnen die Themen ausgehen? Sie bedienen sich bei den Videos Linker, machen die Geschädigten zu den ihren und senden es einmal um die Welt – in der Hoffnung, dass sie das resultierende Mitleid und die Erschütterung ein wenig glaubwürdiger machen.

Die kursierende Aufnahme macht einmal mehr deutlich: Videos und Bilder müssen nicht technisch bearbeitet sein, um falsche Tatsachen darzustellen. Aber Desinformation bleibt Desinformation – und die Behauptung falscher Tatsachen ist eine bewusste Lüge. Sollte das Video tatsächlich, wie vom Telegram-Kanal behauptet, global viral gegangen sein, ist der entstandene Schaden wohl kaum mehr aufzuhalten. Um gegen volksverhetzende, betrügerische „Querdenker:innen“ anzukommen, braucht es dagegen gar keine Gewalt. Dafür reichen Gerichtsurteile wie die gegen Michael Ballweg oder Sucharit Bhakdi, der mit antisemitischen Aussagen aufgefallen war: