Gastbeitrag von Annika Brockschmidt
Annika Brockschmidt ist Historikerin und Journalistin. Sie beschäftigt sich unter anderem mit dem Einfluss der Religiösen Rechten auf die amerikanische Politik. 2021 erschien ihr aktuelles Buch „Amerikas Gotteskrieger. Wie die Religiöse Rechte die Demokratie gefährdet“ bei Rowohlt.
Das Ende von “Roe” ist nur der Anfang vom Ende
Warnungen davor, dass der Oberste Gerichtshof der USA in seiner aktuellen Zusammensetzung plant, das Recht auf Abtreibung zu beenden, wurden lange als hysterisch oder alarmistisch abgetan. Man hat juristischen Experten wie Andrew L. Seidel und Elie Mystal nicht ernst genommen, die seit Jahren davor warnen, dass das eines der erklärten Ziele des christlich-nationalistischen Projekts in den USA ist. Immer wieder wurde auf rote Linien verwiesen – ohne zu beachten, dass die amerikanische Rechte diese angeblichen roten Linien im Stechschritt überquert. “So weit werden sie schon nicht gehen”, war das Hauptargument, wenn Experten aus den Bereichen Jura und Geschichte vor dem drohenden Ende des Rechts auf Abtreibung auf nationaler Ebene gewarnt haben.
Jetzt ist es geschehen. Ein Leak hat “Politico” einen Urteilsentwurf aus dem Februar beschert, in dem das wegweisende Urteil von 1973 im Fall Roe v. Wade, das Schwangerschaftsabbrüche innerhalb eines bestimmten Rahmens legalisierte, gekippt wird.
Im Fall Dobbs v. Jackson Women’s Health geht es um ein Abtreibungsverbot in Mississippi nach 15 Wochen, ein eindeutiger Verstoß gegen Roe v. Wade. Der Urteilsentwurf entstammt der Feder von Richter Samuel Alito, der darin die Urteile im Fall Roe und dem darauf aufbauenden Fall, Planned Parenthood v. Casey (1992), kippt.
Noch nicht entschieden?
Nun werden bereits erste Medienstimmen laut, die beschwichtigen: Noch sei nichts entschieden, es handele sich erst um einen Entwurf.
Schauen wir uns an, wie die Abstimmung ausgefallen ist: Amy Coney Barrett, Brett Kavanaugh, Neil Gorsuch und Clarence Thomas unterschreiben Alitos Urteilsentwurf. Die ersten drei wurden von Donald Trump auf Empfehlung der erzkonservativen Federalist Society explizit an den Obersten Gerichtshof berufen, um das Recht auf Abtreibung abzuschaffen. Clarence Thomas verbreitet seit Jahren den Mythos, dass Abtreibung einen Genozid an Schwarzen Babys legalisiere. Alito zitiert diese Lüge in seinem Urteilsentwurf.
Ein weiterer Hinweis, dass sich am Kern des Urteils nichts ändern wird: Die Mehrheit der Richter am Obersten Gerichtshof war einverstanden, dass Samuel Alito den Urteilstext für die Mehrheit verfasst. Das bedeutet, dass sie damit einverstanden sind, dass die Sprache extrem sein wird. Denn ein Urteil, das von Alito verfasst wird, so viel war von vorneherein klar, würde kein “Kompromiss” werden, der das Recht auf Abtreibung zwar massiv einschränkt oder effektiv beendet, aber noch versucht, den Anschein eines “unparteiischen” Gerichts zu wahren. Nein: Alito ist seit Jahrzehnten ein absoluter Hardliner. Ein Urteil, das von Alito geschrieben wird, muss eines sein, das Roe v. Wade kippt.
Es ist eine Hardliner-Entscheidung
Dass die Mehrheit der Richter am SCOTUS damit einverstanden war, zeigt uns, dass sie mit ihm auf einer Linie liegen. Kann sich an der Sprache oder an einigen Formulierungen noch etwas ändern? Sicher. Am Inhalt wird sich nichts ändern. Der Oberste Gerichtshof hat entschieden, dass Roe v. Wade der Vergangenheit angehört. Wie John Roberts sich entscheidet, ist noch unklar – doch das bedeutet lediglich, dass noch nicht sicher ist, ob es eine 5-4 Entscheidung oder eine 6-3 Entscheidung wird. Das Ergebnis ist dasselbe.
In seinem Urteilsentwurf stützt Alito sich auf juristische Präzedenzfälle aus dem englischen Recht – darunter auf Matthew Hale, wie Emily Bale, Professorin an der Columbia School of Journalism schreibt, “..der mindestens zwei Frauen wegen Hexerei hinrichten ließ und ein Traktat verfasste, in dem er Vergewaltigung in der Ehe unterstützte”.
Alito verbreitet dabei in seinem Urteilsentwurf den üblichen Geschichtsrevisionismus der Religiösen Rechten, der immer wieder auch von großen Medienhäusern reproduziert wird: dass das Urteil im Fall Roe v. Wade das Land gespalten habe. Alito schreibt: “Roe war mit Sicherheit nicht erfolgreich darin, die Spaltung in der Abtreibungs-Frage zu kitten. Im Gegenteil, ,Roe’ hat ein nationales Thema weiter befeuert, das in den letzten fünfzig Jahren bitterlich spaltend war.” Nicht einmal Weiße Evangelikale – heute die Gruppe, die am lautesten gegen das Recht auf Abtreibung kämpft – waren 1973, zum Zeitpunkt des Urteils, nicht damit einverstanden. Im Gegenteil: Die Southern Baptist Convention bestätigte noch 1976 ihre Unterstützung für die Entscheidung.
Erst Jahre später nahm die Religiöse Rechte den Kampf gegen Abtreibung auf – um den eigentlichen Grund für ihre politische Genese und Mobilisierung zu überdecken, die Aufhebung der Segregation (“Rassentrennung”) an Schulen und die drohende Besteuerung von christlichen Privatschulen, die sich nicht an diese Vorgabe halten wollten. Heute ist Abtreibung eines der großen Themen der Religiösen Rechten, das ist korrekt – aber historisch gesehen war das Thema lange nicht kontrovers diskutiert und wurde erst aufgenommen, als es der eigenen Selbstvermarktung diente, wie der selbst evangelikale Historiker Randall Balmer schreibt.
Radikaler Geschichtsrevisionismus
Leaks dieser Art sind extrem selten in der Geschichte des Obersten Gerichtshofs. Und doch droht, der mediale Fokus auf diesem Aspekt, die katastrophalen Folgen dieser Entscheidung zu überschatten: Denn für genau diesen Fall, dass das Urteil im Fall Roe v. Wade aufgehoben wird – und die Entscheidung über die Legalität von Abtreibung an die Bundesstaaten fällt, haben 26 Staaten sogenannte “Trigger-Gesetze” erlassen, die automatisch gelten, sobald der Oberste Gerichtshof Roe kippt. Bedeutet: In der Hälfte aller Bundesstaaten würde Abtreibung von heute auf morgen praktisch illegal.
Öffentlicher Druck ist die einzige, letzte Waffe gegen diesen radikalisierten Supreme Court – und selbst diese Waffe ist aller Wahrscheinlichkeit nach eine stumpfe. Elie Mystal ist skeptisch, ob Protest wirklich den Obersten Gerichtshof wirklich bewegen und ob er überhaupt in ausreichendem Maße stattfinden würde. Er schreibt in “The Nation”: “Es wird keinen Aufstand geben, weil die meisten Menschen sich schon daran gewöhnt haben, mit einem christlich-fundamentalistischen Supreme Court zu leben.”
Ein Indiz dafür, dass ein massiver Aufschrei unwahrscheinlich ist, bevor der Gewöhnungseffekt einsetzt? In Texas, schreibt Mystal, ist Abtreibung seit einigen Monaten effektiv illegal. Der große Aufschrei blieb aus. Und selbst wenn es zu Massenprotesten oder gar Aufständen kommen sollte: Nicht umsonst haben Republikanische Legislativen in den letzten Monaten auch die Rechte von Demonstranten massiv beschränkt – und diejenigen, die sie potentiell überfahren, in Schutz genommen.
christlich-fundamentalistischer oberster gerichtshof
Der Kampf gegen die Religiöse Rechte ging schleichend verloren, schreibt Mystal: “Der Kampf um das Recht auf Abtreibung wurde langsam, über lange Zeit hinweg und dann auf einen Schlag verloren. Er ging 2016 verloren, als Richter Antonin Scalia starb und Mitch McConnell den Sitz offen hielt, bis ein Republikaner im Weißen Haus installiert werden konnte. Er ging verloren, als sich die ,New York Times’ eine ganze Präsidentschaftswahl, an der die erste von einer der beiden großen Parteien nominierte Frau beteiligt war, auf ihren privaten E-Mail-Server fokussierte, anstatt ihr Engagement für Frauenrechte zu thematisieren.
Und er ging verloren, als Ruth Bader Ginsburg 2020 starb und McConnell ihre Nachfolgerin im Eiltempo durchdrücken durfte. Er ging verloren, als Joe Biden sein Amt antrat und die Reform, Erweiterung oder Neutralisierung der Macht des konservativen Obersten Gerichtshofs nicht zu seiner obersten Priorität machte.” Das Versagen der Demokraten, durch eine Reform den ideologisch besetzten Obersten Gerichtshof wieder ins Gleichgewicht zu bringen, darf nicht unerwähnt bleiben. Sie hatten die Gelegenheit – sie haben sie tatenlos verstreichen lassen.
Es ist auch ein Versagen der Demokraten
Auf der anderen Seite steht ein jahrzehntelanges Projekt der Religiösen Rechten. Immer wieder schrieben Medien Nachrufe auf die Religiöse Rechte, erklärten sie für tot – sie lagen jedes Mal falsch. Der jahrzehntelange Aufbau von Lobbygruppen und ThinkTanks, die Modell-Gesetzgebung verfassten, die sogenannte “Heartbeat Bills” etablierten und langsam aber sicher daran arbeiteten, dass die Religiöse Rechte ihr Ziel erreichen würde. Gleichzeitig bildete die Bewegung in Organisationen wie der Federalist Society ganze Generationen von Juristen und zukünftigen Richtern aus, die als rechte Ideologen auf der Richterbank die Ziele des Bewegung durchsetzen würden. Mit Erfolg. Der Oberste Gerichtshof ist dabei, die Uhr um fünfzig Jahre zurückzudrehen.
Der bestmöglichste Ausgang des Ganzen wäre, wenn Alito durch öffentlichen Druck von seinen Kollegen dazu gebracht würde, die Sprache seines Urteilstextes abzuschwächen, sodass Roe v. Wade nicht explizit, sondern “nur” effektiv gekippt wird. Das Ergebnis wäre immer noch dasselbe: Abtreibung wäre illegal in der Hälfte des Landes. Ein katastrophaler Tag für das Recht auf körperliche Autonomie von Schwangeren. Doch damit hat der Schrecken noch kein Ende: Denn dieser Urteilsentwurf ist nur ein Puzzlestück des christlich-nationalistischen Projekts, dem der Oberste Gerichtshof zu arbeitet.
Der best case ist jetzt nur, dass das Abtreibungsrecht nicht explizit, sondern “nur” effektiv gekippt wird
Alito selbst verrät uns das in seinem Entwurf: Er sagt, der Fall Roe sei genauso falsch entschieden worden wie die Fälle Lawrence und Obergefell. In Lawrence v. Texas (2003) wurden die Sodomie-Gesetze aufgehoben, und der Fall Obergefell v. Hodges (2015) legalisierte die gleichgeschlechtliche Ehe. Die Kriminalisierung von LGBTQ-Menschen steht als Nächstes auf der christlich-nationalistischen Wunschliste. Auch davor warnen Experten seit langer Zeit – auch diese Warnungen wurden in den Wind geschlagen.
Und Alito behauptet zwar, dass der Oberste Gerichtshof die Fälle Griswold v. Connecticut (1965, Legalisierung von Verhütungsmitteln) und Loving v. Virginia (1967, legalisierte inter-racial Ehe) nicht antasten werde – doch warum sollte man irgendetwas aus dem Mund dieses Gerichts noch für bare Münze nehmen? Brett Kavanaugh hat in seiner Nominierungs-Anhörung vor dem Senat gesagt, Roe v. Wade sei für ihn geltendes Recht – genauso Neil Gorsuch. Laut dem “Politico”-Leak haben beide für die Aufhebung des Rechts auf Abtreibung gestimmt.
Verbot von Ehe für Alle, Verhütungsmitteln und sogar inter-racial Ehen droht
Der Jurist und SCOTUS-Experte Andrew L. Seidel fasst die Lage auf meine Nachfrage hin so zusammen: “Dieser umfassende Urteilsentwurf beinhaltet all das, was Alito schon seit Jahren unbedingt schreiben wollte.” Seidel ist der Autor des im September 2022 erscheinenden Buchs “How the Supreme Court is Weaponizing Religious Freedom” und ist der Vizepräsident für Strategische Kommunikation bei Americans United for Separation of Church and State – eine Organisation, in der Gläubige und Nichtgläubige Amerikaner gemeinsam für die Trennung von Kirche und Staat eintreten.
Seidel sieht Alitos Urteilsentwurf vor dem Hintergrund der langen Geschichte der Religiösen Rechten in den USA: “Die religiösen Extremisten, die den Kreuzzug gegen körperliche Autonomie orchestriert und geholfen haben, den Obersten Gerichtshof unter Trump zu besetzen, werden nicht zufrieden sein, bis Abtreibung und Verhütungsmittel in den ganzen Vereinigten Staaten verboten sind. Sie werden nicht zufrieden sein, bis sie ihre christliche Nation haben. Dieses Urteil, auch wenn es sich nur um einen Entwurf handelt, lässt ihre Strategie ganz deutlich erkennen. Leser sollten sich nicht auf Grund der begrenzten Sprache, die Alito verwendet, in Sicherheit wiegen, denn dieser Fall ist nicht das Ende. Ein Urteil wie dieses räumt lediglich das größte Hindernis auf dem Weg zu einer christlichen Nation aus dem Weg. Das Ende von Roe ist erst der Anfang.”
Das Ende von Roe ist erst der Anfang
Die so oft beschworenen angeblichen roten Linien, die nicht überschritten werden würden, existieren für die Religiöse und Politische Rechte nicht. Der Georgetown Professor und Historiker Thomas Zimmer schreibt dazu auf Twitter: “Die reaktionäre Gegen-Mobilisierung gegen eine multi-racial, pluralistische Demokratie wird nicht aufhören, weil die Menschen dahinter eine plötzliche ‘erleuchtung’ haben werden, dass sie *so* weit nicht gehen sollten. Sie *wird entweder gestoppt werden* oder Erfolg darin haben, weiße, Christliche, patriarchale Herrschaft durchzusetzen. Unsere Aufgabe ist es, unsere Erwartungen für die Zukunft anzupassen, über worst-case-Szenarien nachzudenken – und was es in der Praxis heißt, dementsprechend zu handeln. Zu sagen ‘So weit werden sie nicht gehen’ – so stirbt die Demokratie, und so verschwinden Bürgerrechte.”
Es ist kein Zufall, dass der Oberste Gerichtshof den Voting Rights Act 2013 so massiv beschnitten hat, dass quasi nichts mehr von ihm übrig blieb. Denn eine stete Mehrheit von Amerikanern befürwortet das Recht auf Abtreibung – und das seit Jahren. Eine Entscheidung des Obersten Gerichts, die so massiv der öffentlichen Meinung entgegenläuft, konnte nur gefällt werden, wenn zuvor das Wahlrecht massiv beschnitten wird. Um zu wissen, was die Religiöse und Politische Rechte als Nächstes plant, muss man nur eines tun: ihr zuhören. Die Senatoren Marsha Blackburn und John Cornyn haben das in Statements rund um die Confirmation Hearings von Ketanji Brown Jackson vor einigen Wochen bereits durchblicken lassen – und teils ganz offen gesagt. Das deutsche Medienecho war nicht existent.
Das war nur Möglich, da auch das Wahlrecht massiv beschnitten wurde
Auf der Bundesstaatsebene hat ein groß angelegter Roll-Back von Bürgerrechten in Republikanisch dominierten Staaten bereits begonnen. Auch hier wird der Zusammenhang der Einschränkung des Wahlrechts von BPoC, des Abtreibungsrechts, der Rechte von LGBTQ-Menschen und Einschränkungen von Lehrplänen in deutschen Medien nicht erkannt: Es handelt sich um einen konsolidierten Angriff auf alles, was Weiße, rechte, christliche Sensibilitäten verletzt – von der bloßen Existenz im öffentlichen Raum von LGBTQ-Menschen bis hin zum Recht auf körperliche Autonomie von Schwangeren.
Das Ende von Roe ist erst der Anfang: Gleichgeschlechtliche Ehe, die Kriminalisierung von Homosexualität und das Ende des Rechts auf Verhütungsmittel stehen als nächstes auf der christlich-nationalistischen Wunschliste.
Artikelbild: shutterstock.com Bob Korn
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