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Wie der Begriff „Freiheit“ für Egoismus missbraucht wird

von | Aug 19, 2023 | Aktuelles

Von Corona bis Klima – immer öfter kippt Freiheit ins Toxische. Die liberale Leitmaxime heißt heute vor allem: Ich, ich, ich. In seinem soeben erschienenen Buch „Wenn jeder an sich denkt, ist nicht an alle gedacht. Streitschrift für ein neues Wir“ schreibt Jan Skudlarek über den fragwürdigen Trend, den eigenen Egoismus als Ausdruck individueller Freiheit zu maskieren. Wir dürfen einen Auszug aus seinem soeben erschienen Buch veröffentlichen.

AUTONOMIE VS. AUTONOMISMUS

Wir streben nach Autonomie, wir sehen sie als wünschenswert an. Autonomie gehört zur modernen Freiheit dazu. Der Wunschzustand: ein pragmatisches Konzept von Autonomie, welches die individuellen Freiheiten, das eigene Leben zu gestalten, berücksichtigt, während es zugleich die Autonomie und Freiheit der anderen respektiert. Eigenverantwortung nach dem Prinzip: Meine Freiheit endet dort, wo deine beginnt. Das wäre im besten Sinne liberal. Und in einer besseren Welt würde mein Buch an dieser Stelle enden. Doch die Wahrheit ist, dass viele Menschen sich selbst nur zu gerne als große Freiheitsfreunde inszenieren, jedoch ausschließlich ihre grenzenlose Ich-Freiheit zelebrieren.

Um diesen wichtigen Unterschied zu markieren, möchte ich Autonomie von dem abgrenzen, was ich »Autonomismus« nenne. Wenn wir Autonomie als wünschenswertes Selbstbestimmungskonzept definieren, das uns dazu befähigt, die Grenzen anderer wahrzunehmen und umfassend zu respektieren, ist Autonomismus das Gegenteil. Er ist der radikalisierte Autonomiegedanke – Freiheit auf Speed! Autonomismus meint, dass mein eigenes autonomistisches Freiheitsstreben so gut wie jegliches legitime Fremdinteresse überschreibt. Wer autonomistisch denkt, maximiert das individuelle Freiheitsstreben bis ins Toxische. Ohne Rücksicht auf Verluste. So argumentieren zum Beispiel jene, die gegen ein Tempolimit und für grenzenlose Raserei auf deutschen Autobahnen eintreten, autonomistisch. Sie priorisieren ihre eigene Hochgeschwindigkeitsfahrt, nicht die Gefährdung anderer – und nicht den Schutz der gemeinsam bewohnten Umwelt. Nüchtern betrachtet, ist jedoch der einzige Ort, an dem Raserei gleichbedeutend ist mit Freiheit, nicht die Autobahn, sondern die Rennstrecke (vgl. Tagesspiegel, FAZ).

Der Autonomismus kennt vor allem einen einzigen Trick:

Wer den eigenen Egoismus moralisch anpinseln will, muss »Freiheit« (vgl. Aiwanger auf Twitter) statt »Egoismus« sagen. Das vorgelagerte Individualinteresse wird auf diese Weise maskiert. Der Autonomist schiebt eine vermeintliche Werteorientierung in den Vordergrund: »Ich will doch nur Freiheit! Für uns alle!« Et voilà, aus Egoismus wird Selbstbestimmung. Aus Ellenbogenmentalität wird Autonomie. Nicht wenige fallen auf diesen Hütchenspielertrick rein. Fakt ist: Wenn jeder an sich denkt, ist eben nicht an alle gedacht. Stattdessen entsteht ein soziales Vakuum.

Nirgendwo sah man das so deutlich wie während der Corona-Pandemie. Über Freiheit und Selbstbestimmung während der Pandemie ließe sich mühelos ein eigenes Buch schreiben, weswegen ich mich auf einige wesentliche Punkte konzentriere. Zum Beispiel: Autonomisten verzerrten während der Pandemie jegliche Vorsicht schnell zur »Panikmache«. Maske in engen Räumen? Panikmache! Größere Veranstaltungen absagen? Panik! Kurzerhand wurde alles zur freiheitsfeindlichen Panikhandlung deklariert, was die individuelle Selbstbestimmung auch nur ansatzweise tangierte. In Zeiten einer internationalen Notlage wahrlich nicht die beste Idee.

Ellenbogenmentalität gab es allerdings auch im »Team Vorsicht«

Denken wir an das Phänomen der »Impfdrängler«, also jene Menschen, die sich bei Einführung der Corona-Impfung – jenseits sinnvoller medizinischer Priorisierung – an der Wartereihenfolge vorbeimogeln wollten oder sich tatsächlich vorbeimogelten (vgl. Deutschlandfunk). Was hier priorisiert wurde, war vor allem die eigene Freiheit und Sicherheit gegenüber der Freiheit und Sicherheit anderer. Ich persönlich hatte einen Streitmoment mit einem sehr guten Freund, weil dieser – Mitte dreißig, gesund, Homeoffice – zufällig durch Vitamin B zu einem irren frühen Zeitpunkt an eine Impfung kam, während unsere Elterngeneration, inklusive meiner eigenen Eltern, noch vergeblich auf Impfschutz gegen das damals noch aggressivere, gerade für Ältere überaus bedrohliche Coronavirus wartete. Der Streit wurde schnell beigelegt. Dennoch lag ihm eine unterschiedliche Vorstellung von Freiheitsräumen zugrunde.

Legendär sind auch die zahllosen Partys und Veranstaltungen, die durch George Orwells »Alle Tiere sind gleich, aber manche sind gleicher als die anderen«-Prinzip gefeiert wurden, während harte Kontaktbeschränkungen galten. Zu nennen sind runde Geburtstage deutscher Politiker (vgl. Spiegel) oder die »Partygate-Affäre« (vgl. Tagesschau), die zum Niedergang des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson beitrug.

Nichts anderes als wirtschaftlicher Autonomismus sind die zahlreichen, aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft moralisch verwerflichen, aber oft legalen »Maskendeals«, durch die einige wenige Entscheidungsträger vor allem zu Pandemiebeginn sensationelle Millionengewinne einkassierten, indem sie Maskenmangel und allgemein die Pandemie-Notlage clever ausnutzten (vgl. mdr).

radikale Priorisierung der eigenen Bedürfnisse

Alle genannten Handlungen zeichnen sich durch eine Priorisierung der ersten Person aus. Eine radikale Priorisierung der eigenen Bedürfnisse, oft zum Nachteil anderer. Exakt das ist mit »Autonomismus« gemeint. Es geht um Freiheit, aber um jeden Preis. Freiheit, die höchstens noch Spuren von Moral enthält. Autonomistische Denk- und Handlungsweisen sind aber kein reines Pandemiephänomen. Grenzübertritte in die Freiheitsräume unserer Mitmenschen sehen wir überall, sobald wir gezielt darauf achten.

Ein Beispiel: In Zeiten schmelzender Gletscher und schmelzenden Schnees ist das Betreiben und Bewirtschaften von Skigebieten eine Herausforderung. Während Kunstschnee vielerorts schon die Regel ist – klimatechnisch gesehen eine kümmerliche Tatsache, die der bayerische Politiker Hubert Aiwanger mit »Auch Schneekanonen sind Freiheit!« kommentierte – , ging der Schweizer Skiort Gstaad einen Schritt weiter und flog den Schnee kurzerhand per Helikopter an die Pisten (vgl. DerStandard). Skispaß für die Gutbetuchten auf Kosten der Allgemeinheit. Freizeitautonomismus pur.

Ebenfalls dem Autonomismus zuzurechnen sind Privatjetflüge, da für sie weniger schädliche Alternativen bestehen. Und wo wir beim Verkehr sind: SUVs sind mittlerweile weniger sportliche Geländewagen als vielmehr urbane Privatpanzer. Fast 800 000 von ihnen wurden 2022 allein in Deutschland neu zugelassen (vgl. Statista). Mit ihnen geht ein städtisches Wettrüsten einher. Für mich ist es im Fall eines Unfalls allemal besser, in einem hohen, gut gepanzerten Auto zu sitzen. Für Nicht-SUV-Fahrer – und Fußgänger und Fahrradfahrer ohnehin – sind SUVs allerdings eine Gefahr; eben weil sie so hoch, schnell und massiv sind.

Eine autonomistische Wettrüstenlogik rät also: »Wenn du eins hast, brauche ich ebenfalls eins.« Der Kalte Krieg des Straßenverkehrs. Ausgeschlossen und gefährdet werden in diesem »Jeder denkt an sich«-Kreislauf all jene, die sich keinen Privatpanzer leisten können oder wollen. Hier sehen wir, dass Autonomismus vor allem ein An-Sich-Denken ist, jedoch keineswegs nur einen selbst betrifft. Der Egoismus des einen schadet den anderen. Die Verbesserung der Individuallage führt zur Verschlechterung der Gesamtlage. Ein Prinzip, das vor allem die Klimakrise prägt.

Bemerkenswert ist auch die Psychologie der Freiheit und des Freiheitsentzugs

Als autonomistischen Gegenprotest gegen den, aus seiner Sicht, vermeintlich radikalen Klima-Protest der Letzten Generation schrieb ein Berliner Anwalt »Nehmt das Auto, statt der Bahn, fahrt im Sportmodus und schaltet Start-Stop-System aus. Heizt bei offenem Fenster und lasst die Lichter brennen, bis dieser Verein bereit ist, demokratische und rechtsstaatliche Grundsätze zu achten.« (vgl. Tagesspiegel) Alles klar, du Freiheitskämpfer! Zeig es diesen Klimafuzzis! Endlich Recht und Ordnung! Die Psychologie nennt diese Art von Widerstandshandlung »Reaktanz«. Auf eine Beschneidung der Freiheitsräume reagieren wir manchmal mit Fluchen und Strampeln. Kurzerhand: mit Trotz. An sich keine schlechte Eigenschaft, um Freiheitsräume zu konservieren. Würden wir stets klein beigeben, wären wir vermutlich schnell entmachtet. Die Frage ist dennoch: Verteidigung um jeden Preis? Sollte ich mich, sobald nicht alle sofort nach meiner Pfeife tanzen, wie ein Vierjähriger benehmen, der sich im Supermarkt schreiend auf den Boden wirft?

Wohl kaum. Nicht jeder Kampf lohnt sich, nicht jede Trotzreaktion ist verhältnismäßig. Wer bei jeder Einschränkung gleich austickt, hat selbst ein Problem – und ist ein Problem für andere. In Wahrheit lohnt sich das Differenzieren. Der Unterschied zwischen einem Eingriff und einem Übergriff liegt ja gerade in seiner ethischen wie politischen Legitimität. Der Autonomist übersieht diesen Unterschied leider. Für ihn ist jede Veränderung der herrschenden Freiheitsverhältnisse automatisch ein Übergriff, auf den es mit Reaktanz zu reagieren gilt. Die Differenzierung versagt, der Trotz gewinnt.

Ballermannmasochismus für den eigenen Freiheitsfetisch

Denken wir an den AfD-Politiker Thomas Seitz, der Ende 2020 aus Protest gegen die Maskenpflicht im Bundestag mit einer durchlöcherten Maske erschien (und nur Wochen später mit einem schweren Corona-Verlauf im Krankenhaus lag) (vgl. Tagesspiegel), oder jenen Herrn, der sich auf einer Kasseler »Querdenker «-Demo in bilderbuchartiger Reaktanz einen Damenslip spöttisch über den Kopf zog (vgl. hna). Reaktanz wie aus dem Lehrbuch ist auch »Fridays for Hubraum«, eine Facebook-Gruppe, die ein westfälischer Kfz-Meister und Autotuner gegründet hatte, um sich – gemeinsam mit Tausenden anderen Pkw-Begeisterten – über Fridays for Future lustig zu machen.

Mein persönlicher Favorit der Trotz-Peinlichkeiten: Menschen, die als libertäre Gegenreaktion zu einer gefühlten, aber in Wahrheit inexistenten »Cancel Culture« anfingen, lautstark das gleichnamige Ballermannlied über die Puffmutter Layla zu grölen. Ballermannmasochismus für den eigenen Freiheitsfetisch (vgl. ZEIT). Was diese Menschen alle gemeinsam haben? Ihr Trotz zielt ins Leere. Sie bewirken damit nichts. Der Berliner Anwalt hat seinen Kindergartentweet mittlerweile gelöscht. Ob er noch bei offenem Fenster heizt, ist nicht bekannt.

Wie wir im Verlauf dieses Buches immer wieder sehen, sind die Grenzen der Freiheit fließend und keineswegs eindeutig. Autonome Entscheidungen können soziale Erwartungen nicht immer aushebeln. Im Gegenteil, allerorts begegnen uns die sozialen Leitplanken weniger als Schikane und vielmehr als notwendige Systematisierung des Soziallebens, insbesondere in Krisenzeiten. Gerade weil autonomistische Prinzipien der Eigenverantwortung in kritischen Momenten versagen, muss ein Mindestmaß an Krisenmanagement her – ob diese Krise nun »Corona« heißt oder »Klima«. Und ein Krisenmanagement, das grundsätzlich am Körper der Menschen kentert, ist kein gutes Krisenmanagement. Darüber hinaus wäre Fortschritt schlichtweg unmöglich, würden wir notwendige Verhaltensänderungen sofort unterlassen, nur weil irgendjemand trotzt, motzt, poltert und strampelt.

Möchtest du mehr über das Problem der (Un-)Freiheit lesen? Hier geht es zu seinem neu erschienen Buch.

Jan Skudlarek ist Autor, Dozent und Philosoph. Er schreibt BücherNewsletter und Tweets.