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Der Abschuss von MH17 – Musterbeispiel russischer Desinformation

von | Jul 18, 2023 | Analyse

Gastbeitrag von Dietmar Pichler

Der Abschuss des Passagierairliners MH17 im von russischen Kräften kontrollierten Donbas war nicht nur eine Tragödie, die 298 Menschenleben forderte, sondern ist immer noch DAS Musterbeispiel zum Verständnis, wie russische Desinformationskampagnen funktionieren.

Am 17. Juli 2014 stürzte Malaysia-Airlines-Flug 17 (MH17) am Weg von Amsterdam nach Kuala Lumpur über der ostukrainischen Region Donetsk auf von „russischen Separatisten“ kontrolliertem Gebiet ab. 283 Passagiere und 15 Besatzungsmitglieder wurden bei dem Abschuss der Passagiermaschine getötet, es gab keine Überlebenden.

Igor Girkin, ein Nationalist und Geheimdienstler aus Moskau, postete unmittelbar nach dem Abschuss, im Glauben, dass es sich um eine ukrainische Antonov-26 (AN-26) Militärmaschine gehandelt habe: „wir haben Euch ja gewarnt, nicht durch unseren Himmel zu fliegen“. Nachdem klar war, dass es sich nicht um eine Militärmaschine gehandelt hat, wurde das Posting entfernt. Auch staatsnahe russische Medien berichteten von einem Abschuss einer ukrainischen Militärmaschine durch prorussische Kräfte.

Ein Rechercheteam russischer Oppositioneller, unter Mitwirkung des 2015 in Moskau ermordeten Boris Nemtsov, untersuchte die staatliche Berichterstattung in der Zeit vor und nach dem Abschuss. Aus dem Zusammenschnitt russischer Medienberichte geht hervor, wie die Bevölkerung darauf vorbereitet wird, dass die „heroische Miliz“ in der Ostukraine bald über ein funktionierendes BUK-Raketensystem verfügen werde. Nach dem Abschuss wurde von den sogenannten „Separatisten“ geleugnet, je über ein BUK System verfügt zu haben. Das Video zeigt auch Ausschnitte von Berichten, die aus der Zeit stammen, als noch nicht bekannt war, dass es sich um ein Passagierflugzeug handelte. In diesen heißt es, dass „die Miliz ein weiteres ukrainisches Transportflugzeug“ abgeschossen hätte.

Unzählige „alternative“ Sichtweisen der russischen Propagandamaschine

Die Strategie des Kremls zur Verschleierung der Täterschaft kann gut mit dem bekannten Zitat des Breitbart Co-Gründers Steve Bannon beschrieben werden: „Flood the zone with shit“. Dem realen Ablauf der Ereignisse, sollten so viele „alternative Versionen“ entgegengestellt werden, dass am Ende die Leserin und der Leser zumindest so weit verwirrt wurde, dass gar keiner Version mehr geglaubt wird.

Alternative „Theorien“, ohne Anspruch auf Vollständigkeit:

„Ukrainischer Kampfjet hat MH17 abgeschossen!“
„Eine Bombe an Bord hat das Unglück ausgelöst!“
„Die Menschen an Bord waren bereits tot!“
„Das Ziel des Abschusses war ein Flugzeug mit Wladimir Putin an Bord!“
„Es war ein BUK System, doch die Ukrainer haben es bedient!“
„Der am Flughafen Borispil arbeitende spanische Fluglotse Carlos hat am Radar ukrainische Kampfjets gesehen!“
„Russische Satellitenbilder zeigen ukrainische BUK Einheiten!“

Was all diese „Theorien“ gemeinsam haben, dass sie alle von Faktencheckern und der internationalen Untersuchungskommission (Joint Investigation Team – JIT) widerlegt wurden, was aber nicht bedeutet, dass sie ohne Wirkung blieben.

Juristische Aufarbeitung

Im November 2022 verurteilt ein niederländisches Gericht zwei russische Staatsbürger und einen Ukrainer wegen Mordes zu lebenslanger Haft. Einer der Verurteilten ist Igor Girkin, der ehemalige Verteidigungsminister der „Volksrepublik Donetsk“, der kurz nach dem Abschuss noch postete, dass es sich um eine „ukrainische Militärmaschine“ handeln würde. Bis heute wurde keiner der drei Verurteilten von Russland ausgeliefert. Das Gericht stellte ebenso fest, dass die Konfliktregion im Osten der Ukraine praktisch unter russischer Kontrolle stand. Ein weiterer Fakt, den russische Offizielle über viele Jahre geleugnet haben.

Fakten spielen keine Rolle

Unzählige rechte Verschwörungsblogs, Social Media Trolle und russlandnahe Medien verbreiteten die „alternativen Fakten“ auf der ganzen Welt, auch im deutschsprachigen Raum. Für diese Akteure spielte es keine Rolle, dass Putins Flugzeug gar nicht über die Ukraine geflogen ist, dass die russischen Satellitenbilder gefälscht und der „Fluglotse Carlos“ ein Produkt der Kreml-Propaganda war. Ganz nach dem Motto: Je mehr Lügen im Umlauf sind, desto weniger zählt die Wahrheit.

Einen Höhepunkt an Absurdität lieferte der rechtsesoterische Kopp Verlag, der sogar die Geschichte mit dem „Flugzeug voller Leichen“, in dem Fall „Dosenfleisch“ genannt, veröffentlichte. In Österreich zweifelte der sozialdemokratische Parlamentarier und damalige Vizepräsident der Österreichisch-Russischen Freundschaftsgesellschaft Christoph Matznetter in einem TV-Interview die russische Urheberschaft des Abschusses mit den Worten „cui bono“ an, eine Phrase, die man sonst eher aus verschwörungstheoretischen Zirkeln kennt.

Mit der Frage „was aber, wenn es umgekehrt war, wenn man versucht hat, es ihnen in die Schuhe zu schieben, den russischen Separatisten“ reihte er sich dort ein, wo fast alle Verschwörungserzählungen zu MH17 hinführen wollen, zur Unterstellung, dass der Abschuss von MH17 eine „False Flag“ Operation gewesen wäre.

Zum Thema:

Dietmar Pichler hatte diesen Text zunächst als Twitter-Thread veröffentlicht. Dietmar Pichler ist Desinfo-Analyst aus Wien mit Schwerpunkt auf internationale Desinformationskampagnen autoritärer Regimes. Seit 2014 befasst er sich intensiv mit der russischen Propaganda gegen die Ukraine und die Europäische Union. Im Rahmen seiner Recherchen reist er auch regelmäßig nach Osteuropa, speziell in die Ukraine. Artikelbild: Vladimir Smirnov/Pool Sputnik Kremlin/AP/dpa