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Gefeierte Neonazi-Aussteiger, vergessene Opfer

von | Mai 5, 2023 | Analyse

YouTube ist eine der beliebtesten Internetseiten der Welt. Kein Wunder, hier finden sich allerlei Videos für jeden Geschmack. Von Musikvideos, über Fitness- und Ernährungs-Tipps, Vlogs oder Dokumentationen. Auch wenn man sich mit dem Thema Rechtsradikalismus beschäftigt, wird man hier fündig: Man stößt zwangsläufig auf Gespräche zwischen einem ehemaligen Neonazi-Rocker und einem Aussteiger*innen, der früher unter dem Namen “Hitler von Köln” bekannt gewesen ist. Lust auf Skandal, markige Persönlichkeiten, griffige Selbstbezeichnungen, reizende Headlines, Clickbaiting, sprechen den digitalen Algorithmus der Gegenwart an.

Aussteiger machen aus ihrem Scheitern ein Geschäftsmodell

Es ist eine Tatsache, die man ganz unterschiedlich bewerten kann. Doch allein ein Titel wie “Hitler von Köln” dürfte vielen User*innen schon einen Klick abringen. Im postnazistischen Deutschland hat die Verwendung des Namens “Hitler” eine kalkulierbare Aufmerksamkeit zur Folge. Bestätigt wird diese These dadurch, dass man besagte Personen nicht nur in den Tiefen von YouTube findet. Sie werden auch in Talkshows eingeladen und schreiben Bestseller bei größeren Verlagen. In ihren YouTube-Formaten erzählen sie allein oder gemeinsam ausführlich und in voller Länge über ihr Leben, ihre Radikalisierung und ihren Ausstieg. Nicht selten besprechen sie auch jede neue Dokumentation über ihre ehemalige politische Gesinnung. Sie geben sich als geläuterte Expert*innen, die über die Gefahren des “Extremismus” aufklären wollen.

Dabei geht es auch um etwas anderes: Sie haben aus ihrem Scheitern ein Geschäftsmodell in der Ökonomie der Aufmerksamkeit gemacht. Ihre Ware: Kommodifizierung der eigenen Lebensgeschichte. YouTube-Marketing trifft auf Netflix Storytelling. So weit, so gängig. Doch was ist ihr Unique-Selling-Point? Sie erzählen ihren Ausstieg aus der gewaltbereiten Neonazi-Szene als ein Selfmade-Beispiel der Abkehr vom “Extremismus”. In einer Gesellschaft, in der die sog. Extremismus-Theorie weiterhin beliebt ist, lässt sich damit ein gutes Geschäft machen.

Diese Theorie besagt, dass die Ränder der Gesellschaft, gemeint sind damit rechts- und linksradikale wie auch islamistische Bewegungen/Gruppierungen, die Existenz der Demokratie und die vermeintlich gute Mitte bedrohen. Doch wenn man genauer hinschaut, erkennt man, wie tief die Ideologien, die in dieser Theorie auf die “Extremismen” gebannt werden, doch in die sog. demokratische Mitte hineinreichen. Die verschwörungsideologischen Proteste um Querdenken und co., sowie Umfragen und Studien zu Antisemitismus belegen das Gegenteil. Sie machen deutlich, dass ungefähr 20 bis 30 Prozent der Gesellschaft manifest oder latent antisemitisches Ressentiment haben.

Glauben wir lieber dem Aussteiger als seinen Opfern?

Deutschland liebt den Gedanken des geläuterten Neonazis. Das ist zumindest ein naheliegender Gedanke, wenn man die Aufmerksamkeit beachtet, die ihnen gewidmet wird. Die Aufmerksamkeit für die Opfer rechter Gewalt steht damit kaum auf einer Ebene. Entsprechend wollen wir die Frage aufwerfen, ob die deutsche Gesellschaft Aussteiger*innen vielleicht deshalb auf ein Podest hievt, weil sie im Kleinen die “Wiedergutwerdung” (Eike Geisel) der Deutschen bestätigen?

Oft wird im Brustton der Überzeugung erklärt, dass diese lebhaften Erfahrungsberichte besonders jungen Menschen als Abschreckung dienen sollen. Sie sollen zeigen, wohin die Radikalisierung führen kann und im besten Fall dazu anhalten, einen anderen Weg einzuschlagen. Dafür gibt es inzwischen ein Dutzend staatliche Ausstiegsprogramme und private Initiativen. Teilweise wurden sie sogar von ehemaligen Neonazis mitbegründet. Kritik an der Vermarktung von vermeintlichen Aussteiger*innen kommt regelmäßig von Beratungsstellen für Betroffener rechter Gewalt. Ausstiege aus der radikalen Rechten dauern laut den Beratungsstellen Jahre und sind mit klaren Brüchen gegenüber den rechtsradikalen Organisationsstrukturen sowie Kontaktabbrüchen gegenüber dem sozialen Umfeld verbunden.

So meint der Dachverband der unabhängigen Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG): „Ausstiegsprozesse müssen zwingend damit einhergehen, dass eine glaubhafte Auseinandersetzung mit allen Ideologieelementen des Rechtsextremismus stattfindet und überprüfbare Informationen über die jeweiligen Strukturen, in denen die Aussteiger*innen zuvor aktiv waren, offengelegt werden.” Während viele Medienschaffende und Teile der Gesellschaft nur allzu gerne bereit sind, Ex-Neonazis ihren Ausstieg ohne ein Wimpernzucken abzunehmen, wird den Opfern rechter Gewalt in vielen Fällen erst einmal nicht geglaubt.

Opfer haben mit falschen Anschuldigungen zu kämpfen – Täter werden rehabilitiert

Am 19. Dezember 1980 wurden der Rabbiner Shlomo Lewin und seine Lebensgefährtin Frida Poeschke in ihrem Haus in Erlangen von einem Neonazi erschossen. Seitens der Sicherheitsbehörden wurden krumme Geschäfte oder ein mögliches Engagement Lewins beim israelischen Geheimdienst „Mossad“ als Motive in Betracht gezogen. Die Parallelen zum NSU-Komplex sind unverkennbar. Rechter Terrorismus als Tatmotiv wurden in beiden Fällen nicht in Betracht gezogen, sondern die Schuld bei den Opfern gesucht. Denn auch bei der blutigen Mordserie des NSU war jahrelang von „Döner-Morden“ oder kriminellen Tätigkeiten die Rede, da niemand glauben wollte, dass die Ermordeten tatsächlich Opfer eines rechten Terrornetzwerks waren.

Zwei Beispiele, die bis heute für Verunsicherung bei Betroffenen rechter Gewalt sorgen. Der VBRG hat in der Vergangenheit immer wieder erlebt, dass Neonazis und Rechtsradikale lediglich aufgrund von Strafverfahren gegen sie an Programmen teilgenommen haben und ihren Ausstieg lediglich simuliert haben. “Eine Strategie, die leider immer noch erfolgreich ist” und die der VBRG u.a. beim Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke (CDU) beobachten konnte.

Man könnte aufgrund der Analysen des VBRG daher auch die Frage stellen, ob die ehemaligen Täter*innen überhaupt reflektiert über ihre eigene Lebensgeschichte beispielsweise vor Schulklassen referieren können. Können sie damit ein mögliches Abdriften junger Menschen in die rechte Szene verhindern? Ähnlich sieht es bei ihren Erzählungen auf YouTube, in Talkshows und Podcasts aus.

Aussteiger-Geschichten zur Befriedigung des Voyeurismus?

Häufig befriedigen diese Berichte über Aussteiger*innen auch einen eigenen Voyeurismus des Publikums. Sie können ohne Angst in eine Welt voller Gewalt eintauchen. Eine Welt, die ein Gros der Mehrheitsgesellschaft nie betreten wird. Weil die Majorität selbst nie von Rechtsradikalen ins Fadenkreuz genommen wird. Würde es nicht einen ähnlichen Effekt erzielen, mit Betroffenen rechtsradikaler Gewalt zu sprechen? Besonders vor dem Hintergrund, dass die persönlichen Berichte von Aussteiger*innen selten größeren Erkenntnisgewinn bieten.

Die Recherche zur politischen Rechten findet oft unter Gefahr für Leib und Leben statt. Wer intensiv über die Szene berichtet, wird zum Abschuss freigegeben. Hinzu muss diese Aufmerksamkeit für die Betroffenen der rechten Gewalt, an der sich diese Aussteiger*innen in ihrer ersten Karriere beteiligt haben, geradezu zynisch klingen. Während sie an den physischen und psychischen Narben leiden oder Angehörige ihre Ermordeten betrauern. Machen Aussteiger*innen mit ihrem Abschied jetzt eine zweite, sehr erfolgreiche Karriere.

Fazit: Verkehrte Welt – Vergebung für Ex-Nazis, Vergessen für Opfer?

Unsere Irritation löst sich nicht daran aus, dass jeder Mensch die Möglichkeit für eine zweite Chance haben sollte. Au contraire, wir betreiben Bildungsarbeit und das könnten wir nicht, wenn wir nicht sogar davon überzeugt wären, dass Menschen sich ändern können. Nahezu jedes Mitglied dieser Gesellschaft hat antisemitische und rassistische Vorstellungen internalisiert. Wer sich von der Hoffnung verabschiedet, Menschen durch Bildungsarbeit zu erreichen, verabschiedet sich von dem Gros der europäischen Gesellschaften.

Doch geht es in diesem Fall um Menschen, die nicht nur einzelne Ressentiments und Denkmuster übernommen haben. Sie waren tief im ideologischen Verflecht verstrickt und befanden sich am Ende der Radikalisierungsspirale. Deshalb sollte man Rehabilitation der Aussteiger*innen nicht mit Vergebung verwechseln. Vergeben können nur die Opfer und Betroffenen der rechten Betätigung.

Dennoch wird schnell behauptet, dass die Aussteiger*innen ein Recht auf Vergebung hätten. Die angebliche oder tatsächliche Sanktionierung und der Ausschluss müssten nun ein Ende haben. Während der organisierte rechte Terror in diesem Land allzu gerne verdrängt wird, scheint die deutsche Öffentlichkeit kaum genug von denjenigen zu bekommen, die der rechten Szene (vermeintlich) den Rücken gekehrt haben. Tolerant zeigt man sich gegenüber den verbliebenen Einstellungen, die nun aber in bürgerlicher Rhetorik gekleidet werden. Es wird nicht genug nachgehakt, wovon sich die Aussteiger*innen denn eigentlich verabschiedet haben.

Über die Autoren

Monty Ott ist Politik- und Religionswissenschaftler und Schriftsteller. Er publiziert zu tagespolitischen Themen und beschäftigt sich in seinen Beiträgen mit Antisemitismus, Erinnerungskultur, Intersektionalität und Queerness. Seit über einem Jahrzehnt engagiert sich Monty Ott in der antisemitismuskritischen Bildungsarbeit. Von 2018 bis 2021 war er Gründungsvorsitzender von Keshet Deutschland e. V.

Ruben Gerczikow ist Autor, Publizist und hat Publizistik und Kommunikationswissenschaften studiert. Er recherchiert zu antisemitischen Strukturen im analogen und digitalen Raum. Seine Veröffentlichungen behandeln die Themenfelder Antisemitismus, Rechstextremismus, Islamismus und jüdische Gegenwart. Von 2019 bis 2021 war er Vizepräsident der European Union of Jewish Students sowie der Jüdischen Studierendenunion Deutschlands. 

Anfang 2023 ist ihr gemeinsam verfasster Reportageband „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ – Junge jüdische Politik in Deutschland im Verlag Hentrich & Hentrich erschienen.

Artikelbild: Belish