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Uni Hamburg verbreitet unwissenschaftliche Thesen als „Studie“ – Medien verzerren weiter

von | Feb 19, 2021 | Analyse

Medien greifen reißerisch unwissenschaftliche Thesen auf

Dass Corona aus einem Labor in Wuhan stammen soll, dafür gibt es keine Belege. Die Mehrheit der wissenschaftlichen Studien hält es für viel wahrscheinlicher, dass das Virus einen natürlichen Ursprung hat (Quelle, Quelle, Quelle, Quelle, Quelle). Vergangenen Mai klärte eine Molekularbiologin in einem Gastbeitrag den damaligen Stand der Wissenschaft rund um den Ursprung des Coronavirus für uns auf, wer genauere Hintergründe lesen will (hier). Bisher handelt es sich bei der These „aus dem Labor“ eher um eine Verschwörungserzählung, die unter anderem von rechtsextremen Desinformations-Multiplikatoren verbreitet wurde (mehr dazu). Jetzt spricht die Uni Hamburg jedoch von einer „Studie“, die zeigen solle: „Zahl und Qualität der Indizien sprechen für einen Laborunfall.“ (Quelle)

Wenn eine Universität eine „Studie zum Ursprung der Coronavirus-Pandemie“ veröffentlicht, ist das natürlich erstmal ein Indiz für Seriosität. Dementsprechend teilen viele Medien die Behauptung – die immer noch dem generellen Konsens in der Wissenschaft widerspricht. Doch wie bei vielen Medien immer, besonders bei dem Boulevard-Blatt BILD, wird für Leser:innen der Eindruck erweckt, es handele sich jetzt um eine Tatsache. Nicht um eine fragwürdige und unwissenschaftliche These.

Und natürlich ist es auch gefundenes Fressen unter anderem für Fake-News-Verbreiter:innen, Rechtsextreme und diverse bekannte Desinformations-Seiten.

Unwissenschaftliche These? Die Uni Hamburg bezeichnet das Paper selbst als ohne „hochwissenschaftliche Beweise“. Ist es jetzt also wissenschaftlich oder nicht? Unglücklicherweise spricht vieles dagegen, auch wenn es medial jetzt als ernstzunehmende Darstellung eines Experten dargestellt wird.

Quellen der „Studie“: Youtube-Videos, rechtsradikale Fake-Seiten

Vorneweg: Beim Autor der „Studie“ handelt es sich um keinen Virologen oder Epidemiologen, sondern um einen Physiker mit viel Erfahrung in der Rastertunnelmikroskopie. Außerdem handelt es sich nicht um empirische Forschung, sondern um eine Literature Review. Während natürlich beides einen wissenschaftlichen Debattenbeitrag nicht grundsätzlich diskreditiert, ist es relevant für die Bewertung der fragwürdigen Thesen. Denn die Auswahl der Quellen des Wissenschaftlers der Uni Hamburg besteht nicht nur aus seriösen Studien, sondern beinhaltet auch Links zum „Focus“, zu diversen Youtube-Videos, Twitter-Accounts und sogar der rechtsradikalen Fake-News-Seite „Epoch Times“.

Die zitierten Veröffentlichungen, die aus vertrauenswürdigeren Quellen stammen, sind in Teilen allerdings schon mehrere Jahre alt und beziehen sich gar nicht auf das aktuelle Coronavirus. Es handelt sich eher um eine Zusammenfassung bereits bekannter Theorien, die mögliche Laborunfälle diskutieren.

Dem ZDF gegenüber erklärte Prof. Wiesendanger, der Autor, der sich seiner unbelegten These „zu 99,9 % sicher“ sei, dass sein Papier auch gar nicht als Studie für den wissenschaftlichen Diskurs gedacht sei, „sondern für die Öffentlichkeit“.  Volker Stollorz, Redaktionsleiter des Science Media Centers in Köln, erklärte auch: „Eine Studie kann und darf man das nicht nennen“ (Quelle).

Kritik von anderen Expert:innen

Auch eine Gruppe von Wissenschaftlern um Biologin Dr. Andrea Thorn (Würzburg) hat dazu Stellung bezogen und hier konkrete Punkte kritisiert und näher erläutert. Darin widersprechen sie sechs wesentlichen Aussagen aus dem Papier. So gehört das betreffende Labor in Wuhan zu den weltweit sichersten und Wiesendangers Quellen können das auch nicht widerlegen. Auch ist eine bisherige Unkenntnis über einen Zwischenwirts kein Beleg, dass es nicht tierischen Ursprungs ist. Die von der WHO gestützte These, dass es einen Zwischenwirt gibt, erkläre auch das überbewertete Indiz Wiesendangers, dass es keine Fledermäuse am Ausbruchsort gab.

Auch Behauptungen, dass es im Oktober einen Laborunfall gegeben haben soll, können die Quellen des Papiers nicht belegen. Selbst einige von Wiesendangers Indizien bestehen nur aus weiteren Indizien, keinerlei Belegen. Die Gruppe der Wissenschaftler:innen kritisiert ebenfalls, dass das Papier keinerlei Begutachtung durch andere Expert:innen unterlaufen hat, wie im Wissenschaftsbetrieb üblich. Thorn schließt konkret:

„Was als Einladung zur Debatte daherkommt, ist eine ziemlich chaotische und tendenziöse Internetrecherche, die in keiner Weise der guten wissenschaftlichen Praxis entspricht. Tausende von Menschen, die gegen die Maßnahmen oder gegen China sind, oder einfach nur einen Schuldigen für Corona suchen, fühlen sich bestätigt und die Universität Hamburg steht dafür ein.

Es ist gut und richtig, dass Professoren an deutschen Unis veröffentlichen und erforschen können, was sie wollen. Aber dass dieser Artikel in enger Absprache mit dem Präsidenten ​[15]​, aber ohne Peer Review im Namen der Uni veröffentlicht wird, wirft kein gutes Licht auf die Universität Hamburg, die ja auch unsere eigene wissenschaftliche Heimat ist.“

ASta der Uni Hamburg kritisiert das Papier „entspricht nicht den wissenschaftlichen Standards“

Das Papier, das offenbar mit der Leitung der Uni Hamburg abgesprochen war und als „Diskussionsanstoß“ gedacht war, wird jetzt heftig kritisiert. Unter anderem von der Studierendenvertretung der Uni Hamburg. Diese stellen ebenfalls fest, dass die „Studie“ „nicht den wissenschaftlichen Standards“ entspricht, „die wir von einer Universität erwarten“. Darüber hinaus spiele das Papier nur „Verschwörungstheoretiker*innen in die Hände“.

Auch das Dekanat der Fakultät für Mathematik, Informatik und Naturwissenschaften der Uni Hamburg veröffentlicht eine kritische Stellungnahme. Sie erklären, dass es sich „nicht um eine wissenschaftliche Studie mit qualitätsgesicherten Inhalten und Standards handelt. Das Papier hat keinen Peer-Review-Prozess durchlaufen und ist daher eher als nichtwissenschaftlicher Aufsatz oder Meinungsäußerung zu bezeichnen.“

Die Vorwürfe erklären neben den unzuverlässigen Quellen, die buchstäblich Fake-News-Seiten beinhalten, auch warum: Es soll Cherry Picking betrieben worden sein, das einseitige Heraussuchen von Indizien, um eine zuvor festgelegte These zu untermauern, ohne Gegenargumente zu berücksichtigen. Das Papier wurde darüber hinaus nicht wissenschaftlich veröffentlicht und nicht wie üblich von Fachkolleg:innen einer Peer Review unterzogen. Es wurde auch nicht auf einem etablierten Preprintserver veröffentlicht.

Der Uni Hamburg wird hier u. a. „sträfliche Unwissenheit oder völliger Mangel von Qualitätskontrolle“ (Quelle) vorgeworfen, denn die fragwürdigen Thesen derart zu bewerben und auch noch irreführend als seriöse Studie zu präsentieren, ist unverantwortlich. Dass sie durch die (verkürzte) Reproduktion in vielen Medien in den Köpfen vieler Menschen als Fakt etabliert werden wird, ist ein düsteres Zeichen, wie schnell Desinformation riesigen Schaden anrichten kann.

Kein einziger Beleg für die These

Letztlich bleibt übrig, dass für die These kein einziger Beleg gefunden wird, nur Hörensagen und Spekulationen. Laut Uni Hamburg und Wiesendanger soll allein „die Zahl und Qualität der Indizien“ dafür sprechen. Dabei hat dieser alles andere als (dem eigenen Anspruch nach!) ergebnisoffen lediglich bewusst alles gesammelt, was der eigenen Theorie widerspricht. Dabei werden sträflich alternative Erklärungen ignoriert, für die es mehr und qualitativ hochwertigere Indizien gibt, wie selbstverständlich die Zoonosen-These. Quellen wie Youtube-Videos oder Fake-News-Seiten widersprechen auch der angepriesenen „Qualität“ der Indizien. Der Schaden ist allerdings bereits angerichtet: Wie wir sehen, werden viele diese These jetzt für die Realität halten, auch weil sie nicht darüber informiert werden, wie seriös sie einzuschätzen ist.

Auch ist ein Problem, dass die These nicht mit Sicherheit widerlegt werden kann und das wohl auch nie werden kann, denn der letzte Ursprung des Coronavirus ist noch umstritten. Dennoch ist festzuhalten, dass andere Erklärungen viel wahrscheinlicher sind und auch viel seriöseren wissenschaftlichen Unterbau haben. Dass die unwissenschaftliche These des „Laborunfalls“ attraktiv ist, weil sie einfache Erklärungen und einen Sündenbock abgibt, macht es jedoch nicht gleich zur Wahrheit. Daran ändert auch nicht ein Thesenpapier, das nicht einmal von sich selbst den Anspruch hat, ein wissenschaftlicher Beitrag zu sein. Aber eben vielleicht dadurch einen viel größeren Schaden in der öffentlichen Wahrnehmung hinterlassen wird.

Die Uni Hamburg hat den wissenschaftlichen Diskussionen dadurch einen Bärendienst erwiesen und die öffentliche Wahrnehmung dazu wohl nachhaltig mit „nicht hochwissenschaftlicher“ Desinformation verseucht. Und Verschwörungsideolog:innen gestärkt, wenn auch unabsichtlich. Vielleicht sollte sie demnächst eine Studie über die Verbreitung von Desinformation anfertigen.

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Änderungshinweis 17:00: Die Passage „Kritik von anderen Expert:innen“ wurde eingefügt. Artikelbild: Screenshot Uni Hamburg

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