4.820

Gestohlen, zerknüllt, verunstaltet: Politiker teilen Schicksal ihrer Wahlplakate

von | Mrz 2, 2020 | Aktuelles, Analyse

von Tobias Wilke

Diesem Artikel sei vorangestellt, dass wir beim Volksverpetzer Gewalt grundsätzlich und aus tiefster Überzeugung vehement ablehnen. Dabei ist es vollkommen unerheblich, wer das Opfer ist – es gibt keine „gute Gewalt“ in der politischen Auseinandersetzung, auch nicht gegenüber denjenigen, die selbst rassistische Gewalt verharmlosen oder sogar gutheißen, die Minderheiten oder Andersdenkende regelmäßig verächtlich machen.

Wir haben diesen Artikel bereits am Wochenende geplant, also vor dem mutmaßlichen Brandanschlag auf das Fahrzeug des AfD-Bundessprechers Tino Chrupalla. Eine solche Tat auf dem Grundstück eines von einer Familie bewohnten Hauses ist durch nichts zu rechtfertigen. Chrupalla hatte seine eigene Partei übrigens gerade erst zur verbalen Mäßigung aufgefordert und das rassistische Verbrechen von Hanau tatsächlich ein „rassistisches Verbrechen“ genannt, mit „Ausländerhass“ als Motiv.

Wir befassen uns im Folgenden also nicht mit schwerer Kriminalität, sondern mit der äußerst merkwürdigen, statistischen Erfassung jener „extremistischen Angriffe“ auf Politiker, bei denen niemand auch nur eine Schramme hätte davon tragen können und bei denen der Sachschaden jeweils im einstelligen Euro-Bereich liegt.

„Angriffe“ auf Rekordniveau?

Vergangene Woche wurden am Amtsgericht im sächsischen Döbeln die Urteile gesprochen gegen drei Männer, die Anfang 2019 mit einer aus Tschechien mitgebrachten Kugelbombe schweren Sachschaden an einem Büro der AfD verursacht hatten. Die Deutsche Presseagentur hatte das Urteil im Vorfeld zum Anlass genommen, beim Landeskriminalamt Sachsen Zahlen zu „Angriffen auf Politiker und Parteieinrichtungen“ für das Jahr 2019 abzufragen.

Über das Ergebnis dieser Zahlenabfrage berichteten unter anderem Sächsische Zeitung, Dresdner Neue Nachrichten, Leipziger Volkszeitung und der Mitteldeutsche Rundfunk.

„In Sachsen hat die Anzahl der registrierten Angriffe auf Politiker und Parteieinrichtungen den höchsten Stand seit Beginn der Erfassung im Jahr 2016 erreicht.“, fasst beispielsweise die Sächsische Zeitung die dpa-Meldung zusammen „In dieser Kategorie wurden 2019 im Freistaat insgesamt 551 politisch motivierte Straftaten verzeichnet.“ Im Teasertext für den Artikel nennt die Zeitung diese Angriffe „Gewalt“, betroffen sei vor allem „eine Partei“. Spoiler: gemeint ist die AfD.

Diese „eine Partei“ veröffentlicht umgehend eine eigene Pressemitteilung mit den Zahlen, die die dpa beim Landeskriminalamt abgefragt hatte. Darin heißt es: „Im letzten Jahr wurden 185 Attacken gegen die AfD registriert, eine Verdreifachung gegenüber dem Vorjahr.“

Das Jahr 2019 – war da irgendwas?

Statt über „Angriffe“ und „Gewalt“ zu schreiben, hätte die dpa und jene Redaktionen, die die Agenturmeldung für eigene Artikel nutzten, lieber konsequent von „Straftaten“ sprechen sollen. Die meisten davon haben nämlich herzlich wenig mit „Angriffen“ oder „Gewalt“ zu tun. Ein sehr ähnliches Problem hatte Volksverpetzer erst kürzlich bei der angeblich gestiegenen, größtenteils vermeintlichen Gewalt gegen Polizeibeamte thematisiert:

„Gewalt gegen Polizei“ wird von Polizei & Innenministerium selbst massiv aufgebauscht!

Hätte man sich im Kontext „Politiker und Parteien“ auf die Betrachtung von Straftaten beschränkt, wäre dem einen oder anderen sicherlich aufgefallen, dass 2019 in Sachsen Landtagswahlen stattfanden. Erstmals übrigens seit „Beginn der Erfassung“ solcher Straftaten im Jahr 2016.

Selbstverständlich wurden die Straftaten auch vorher erfasst, neu ist die Auswertung!

Dass in einem Wahljahr mehr Straftaten gegen „Politiker und Parteien“ wahrscheinlich sind, dürfte klar sein. Vor allem aber sind auch sehr viel mehr Straftaten überhaupt möglich: beispielsweise der Diebstahl oder die Beschädigung von Wahlplakaten, die üblicherweise erst sechs Wochen vor einer Wahl aufgehängt werden dürfen und eine Woche nach der Wahl abgehängt werden müssen. In Sachsen betraf das 2019 den Zeitraum von Mitte Juli bis zum zweiten Sonntag im September.

Tatwaffe: Schwarzer Edding

In welcher Größenordnung diese „Angriffe“ auf Wahlplakate in der Polizeistatistik zur PMK, also der politisch motivierten Kriminalität auftauchen, dazu liefert eine Antwort auf eine parlamentarische Anfrage der AfD-Bundestagsfraktion einen recht guten Überblick.

Die AfD hatte nach „Angriffen auf Politiker, Parteibüros und Wahlplakate im dritten Quartal 2019“ gefragt, also dem Zeitraum, in den die Landtagswahlkämpfe in Sachsen und Brandenburg fielen. Die Antwort des Bundesinnenministerium umfasst inklusive Tabellenanhang 63 Seiten (Quelle).

Zu den drei Kategorien „Politiker“, „Parteibüros“ und „Wahlplakate“ liefert das Bundesinnenministerium Gesamtzahlen aus dem gesamten Bundesgebiet. Demnach verteilen sich die entsprechenden „Unterangriffsziele“ (sic!) extremistischer Straftaten wie folgt:

„Parteigebäude/Parteieinrichtung“: 52 Straftaten
„Parteirepräsentant/Parteimitglied“: 278 Straftaten
„Wahlplakat“: 905 Straftaten

Das heißt: 73,3% aller extremistischen „Angriffe“ im 3. Quartal 2019 fielen Wahlplakate zum Opfer, keine Parteibüros oder gar Politiker! In den Tabellenanhängen werden diese Daten leider nicht auf Länderebene aufbereitet, aber die genannten Tatorte liegen aus nachvollziehbaren Gründen fast ausschließlich in Sachsen und Brandenburg. Als Beispiel zeigen wir hier Seite 32 aus der Antwort des Bundesinnenministeriums:

Die einzelnen Fälle zu betrachten, ist durchaus aufschlussreich! Wird ein Plakat der Linken gestohlen oder beschädigt, wird das automatisch als extremistische Straftat „Phänomenbereich: Rechts“ zugeordnet. Umgekehrt werden die gleichen „Angriffe“ auf AfD-Plakate als „Linksextremismus“ verbucht, auch wenn kein Tatverdächtiger ermittelt werden konnte. Bei CDU, Grünen, SPD oder FDP ist der Phänomenbereich meistens „nicht zuzuordnen“.

AfD-Theorie: „Hakenkreuz-Verschwörung“

Nebenbei räumt die Wahlplakate-Statistik auch mit einer bei der AfD sehr beliebten Verschwörungstheorie auf: Linksextremisten würden beispielsweise Hakenkreuze malen (§86a StGB), um die Straftaten im politisch motivierten „Phänomenbereich: rechts“ künstlich in die Höhe schnellen zu lassen. Bei Fall Nr. 714 wurde offenbar ein AfD-Plakat dementsprechend verunstaltet, die Straftat wird aber als linksextremistisch eingestuft.
Für derlei „False Flag“-Aktionen müsste ohnehin niemand eine bis zu dreijährige Freiheitsstrafe riskieren, das wäre offenbar auch mit weitaus geringerem Risiko möglich: Linke müssten einfach Plakate der Linken verschwinden lassen oder beschädigen, Rechte Plakate der AfD.

Es muss ja nicht einmal mit böser Absicht geschehen: wer weiß schon, wie viele heimlich mitgenommene Höcke-Poster über den Eichenholzbetten seiner Groupies hängen, die damit ausgerechnet „linksextremistische Angriffe“ verübt haben?

LKA Sachsen: „Sachbeschädigung“ an AfD-Politikern?

In einer kleinen Anfrage an das Sächsische Innenministerium forderte Kerstin Köditz, Landtagsabgeordnete der Linksfraktion, eine Zusammenfassung von „Straftaten gegen Politiker“ für Sachsen. Anders als in der Antwort des Bundesinnenministeriums sind „Wahlplakate“ allerdings nicht als eigene Rubrik erfasst, was zu einer äußerst skurrilen Klassifizierung führt und womöglich ursächlich ist für das „Missverständnis“ zwischen Landeskriminalamt und Deutscher Presseagentur.

In der Kategorie „Straftaten gegen Politiker bzw. Mandatsträger“ werden 30 verschiedene Delikte aufgeführt: von §185 StGB (Beleidigung) bis §315c (Gefährdung des Straßenverkehrs).

Grafik: SMI

Bei den Delikten mit den meisten, registrierten Straftaten kann aber gar kein Politiker „Opfer“ eines „Angriffs“ geworden sein: bei den 67 Fällen „Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen“ (§86a StGB) sind die geschützten Rechtsgüter der demokratische Rechtsstaat und der politische Friede. Nicht aber ein einzelner Politiker. Man kann somit wohl davon ausgehen, dass die verfassungswidrigen Kennzeichen überwiegend auf Plakate gemalt oder geklebt wurden, die wiederum konkrete Politiker zeigten. Ähnlich verhält es sich bei den 159 Fällen von „Sachbeschädigung“ (§303 StGB). Wer ein Plakat beschädigt, dass den Kandidaten Max Mustermann zeigt, verübt somit laut dpa-Meldung einen extremistischen „Angriff“ auf Max Mustermann selbst.

Voodoo in der Polizei-Statistik zur „Politisch motivierten Kriminalität“.

Der MDR hat am Wochenende ein kurzes Update seines Artikels zu diesen „Angriffen“ veröffentlicht. Darin wird ein Sprecher des LKA Sachsen zitiert, der den hohen Anteil mutwillig beschädigter Wahlplakate in der dpa-Meldung zu „Angriffen gegen Politiker“ bestätigt:



Artikelbild: shutterstock.com