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Atomausstieg: Wie der ÖRR Fake News FÜR Atomkraft verbreitet

von | Apr 15, 2023 | Faktencheck

Kurz vor Deutschlands Atomausstieg scheint das Personal der Öffentlich-Rechtlichen noch mal alles in die Waagschale werfen zu wollen, um die Entscheidung rückgängig zu machen. Die ARD hat mehrere Sendungen veröffentlicht, die den Ausstieg hart kritisieren, unter anderem „Deutschland schaltet ab – Der Atomausstieg und die Folgen“.

Positiv daran: Wer behauptet, bei den ÖR würde eine einseitige, links-grüne Agenda vorangetrieben, gerät nun in Erklärungsnot.

Negativ daran: Anstatt ausgewogen zu berichten, lebt diese Dokumentation von Auslassungen, Emotionalisierung und mangelndem Verständnis für die Thematik. Eine Entwicklung, die viele Doku-Formate durch das Outsourcen an externe Firmen durchlaufen haben und nun regelmäßig mit Gebührengeldern desinformieren. Das macht es mir als Verfechter des Konzepts Öffentlich-rechtlicher Rundfunk nicht gerade leicht.

Viele Fake-News über den Atomausstieg

Einer der Autoren ist Thomas Berbner, der in einem Tagesthemen-Kommentar im Juni 2022 (ab Minuten 8:50) bereits beweisen durfte, wie wenig er das Energiethema durchdrungen hat:

  • Damals musste Deutschland Kohlekraft aus der Reserve holen, um damit temporär auf den durch den Ukrainekrieg hohen Gaspreis reagieren zu können. Die Pläne vom Wirtschaftsministerium, laut denen dieser Kohleanstieg nur vorübergehend sein wird, kommentiert Berbner mit „Wer’s glaubt, wird selig.“

Wäre schön, wenn NDR-Redakteure mehr mit Wissen arbeiten als mit Glauben, denn damit lag er kolossal daneben: Der Anstieg der Kohleverstromung in Richtung Winter stieg im Jahr 2022 weit weniger steil als noch 2020 und 2021 und wir hatten im März 2023 sogar wieder weniger Kohlestrom im Netz als noch im Juni 2022:

Der Atomausstieg wurde 2011 von Schwarz-Gelb beschlossen, nicht den Grünen …

  • Er bemängelt, dass die Grünen im Jahr 2011 die Vision eines Umbaus hin zu Erneuerbaren Energien an die Wand gemalt hätten (so als wäre das was Schlechtes). Wenn der NDR seine Probleme mit dem Internetzugang behoben hat, können seine Redakteure ja vielleicht noch mal recherchieren, wer 2011 regiert hat und wer diese Vision ebenfalls genauso in DER zentralen Pressekonferenz zu dem Thema bespielt hat: Angela Merkel von der CDU, umringt vom damaligen FDP-Wirtschaftsminister und Peter Ramsauer von der CSU.

Und obwohl sie diese Vision mit deutlich mehr Leben hätte füllen können, hat sie im Großen und Ganzen funktioniert: Die Erneuerbaren haben in den letzten 20 Jahren die abgeschalteten Kernkraftwerke und 100 Terawattstunden Kohlekraft ersetzt.

  • Thomas Berbner behauptet, mit mehr Kernkraftwerken wären wir viel unabhängiger von russischem Erdgas gewesen. Das ist nachweislich falsch: Erdgas wird in Deutschland zu 88 % im Wärmesektor genutzt, wo wir es auch mit 250 Kernkraftwerken nicht hätten ersetzen können. Wer das nicht glaubt, darf gerne am Gasherd die Gasleitung abklemmen, eine Stromleitung anschließen und seiner Familie abends ein kaltes Abendessen servieren.

Im Strommix machte Erdgas in den letzten Jahren etwa 10 % Anteil aus und erfüllt dort zudem die Funktion, sehr flexibel die Leistung hoch- oder runterzufahren, um auf schwankenden Stromverbrauch und schwankende Erzeugung zu reagieren – eine Eigenschaft, die Kernkraftwerke eher nicht haben.

Polemik statt Fakten in den Tagesthemen

  • Er behauptet, die „Gretchenfrage“ der Erneuerbaren Energien sei auch heute technologisch noch nicht gelöst: „Woher kommt der Strom, wenn der Wind nicht weht und die Sonne nicht scheint? Aus Kohle? Ernsthaft?“

Nein, lieber Thomas, nicht aus Kohle. Ist ja eine berechtigte Frage, aber schade, dass offenbar kein guter Journalist anwesend war. Der hätte beim Fraunhofer-Institut ISI oder beim DIW nachfragen können, wie die saisonalen Speicher der Zukunft aussehen und schnell bemerkt, dass Kohle dabei schon allein deshalb keine Rolle spielt, weil Kohlekraftwerke nicht schnell genug hoch- und runtergefahren werden können, um Wind- und Solarkraft auszugleichen.

Wenn der NDR unter seinem Bildungsauftrag wieder mehr als das bloße Stellen rhetorischer Fragen versteht, kann er sich dort ja mal informieren, wie das in Zukunft funktioniert und dass auch alle anderen Länder diese Technologien benötigen werden, auch wenn sie weiter auf Kernkraft setzen.

Ganz kurz: Für kurze Phasen ohne genug Erneuerbare werden Batterien und kinetische Speicher (z. B.: Pumpspeicher) eine Rolle spielen. Für lange Phasen werden wir mittels EE-Strom synthetische Gase erzeugen, die wir in unser Erdgasnetz speisen können und dann in Gaskraftwerke wieder zu Strom machen, wenn der Bedarf da ist. Vielleicht sollten wir es dann umbenennen von Erdgasnetz in Grüngasnetz.

Es werden gerade mal 3 neue AKW gebaut in Europa

Es gibt also eine Menge Antworten. Antworten, die ein Sender gerne hinterfragen und analysieren kann, Thomas Berbner argumentiert aber einfach auf dem Entwicklungsstand von 1995. Warum man beim NDR entschieden hat, diese Person beim Drehbuch für eine Energiedokumentation mitwirken zu lassen, ist mir nicht ganz klar. Kompetenz oder Arbeitseifer werden es wohl nicht gewesen sein.

Direkt zu Beginn geht es dann los mit den Ungenauigkeiten: Deutschland schalte ab, während bei unseren europäischen Nachbarn neue Anlagen gebaut würden. Ja, in Europa werden neue Kernkraftwerke gebaut, und zwar aktuell genau 2:

Flamanville (Frankreich, Baubeginn 2004).

Hinkley Point (UK, geht voraussichtlich 2027 in Betrieb).

Die Kraftwerke Mochovce (Slovakei, Baubeginn 1986) und Olkiluoto (Finnland) sind vor Kurzem fertiggestellt worden.

Das ist halt schon übersichtlich. Es gibt darüberhinaus Pläne für Neubauten, aber ob und wie schnell diese Wirklichkeit werden, sehen wir in erst ein paar Jahren. Bis dahin wird der europäischen Kernkraftwerkspark immer älter, 90% der französischen Kernkraftwerke sind 40 bis 50 Jahre alt. der Zubau der Erneuerbaren steigt indessen stark an, wir werden also in jedem Fall einen prozentualen Rückgang der Kernenergie sehen.

Hätten wir zuerst aus Kohle aussteigen sollen? Ja, aber das hat auch die Fossil-lobby verhindert

Der eigentliche Punkt, um den es beim Atomausstieg im Subtext ja immer geht, ist: Wieso werden die jetzt aufgrund des Risikos abgeschaltet, obwohl den fossilen Kraftwerken doch auch ein hohes Risiko innewohnt. Hätten wir nicht lieber zuerst die Kohle abschalten sollen? Diese Frage beantworten heute mehr Deutsche mit Ja als früher und der Autor dieser Zeilen sieht das persönlich auch so.

ABER: Als der Atomausstieg beschlossen wurde, gab es kaum Widerstand gegen Kohle- und Gaskraft. Greta Thunberg war beim ersten Atomausstieg nicht mal geboren und beim zweiten 8 Jahre alt, entsprechend egal war uns das Thema CO₂ da noch und entsprechend fraglich ist es, ob wir uns damals gegen die noch mächtigere Fossillobby durchgesetzt hätten. Auch heute noch wird in Sachsen die Windkraft extrem vernachlässigt, um möglichst viel Kohlekraft im Netz zu behalten, sogar gegen eine globale Klimabewegung. 2011 waren diese Kräfte noch deutlich stärker.

Die Dokumentation versucht das so darzustellen, als sei Deutschland in der Frage beim Atomausstieg besonders ideologisch geprägt. Rafael Grossi, der Generaldirektor der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) wird dazu interviewt und erklärt, Deutschland trage da eine Sonderrolle, im Rest der Welt finde man das Gegenteil. Die meisten Länder versuchten, in ihrem Energiemix 15 bis 20 Prozent Atomkraft zu haben. Ja, tun sie das?

Die meisten Länder der Welt haben gar keine Atomkraft

Also mit versuchen ist es ja so eine Sache, ich habe als Schüler auch immer versucht, eine 1 zu schreiben. Aber Hand aufs Herz, in der zehnten Klasse war die Realität weit weg vom Versuch. Und so ist das in diesem Fall auch: 20 Prozent Kernenergie am Energiemix (!) haben maximal eine Handvoll Länder wie Frankreich, Belgien, Ungarn und die Slowakei umgesetzt. Tschechien kommt gerade noch auf 17 Prozent.

Der Energiemix ist übrigens etwas vollkommen anderes als der Strommix. Im deutschen Strommix lag die Kernkraft zu Spitzenzeiten bei etwa 30 Prozent, aber in den Energiemix fließt alle Energie ein, die wir verbrauchen, also auch das verbranntes Öl, Erdgas, Kohle für Stahlwerke etc. Der Atomanteil am gesamten Energiemix ist daher fast überall deutlich geringer, in Deutschland zu Spitzenzeiten vielleicht 14 Prozent.

Hat Rafael Grossi das wirklich so gesagt oder redete er vielleicht vielmehr von 20 Prozent anteilig vom Strommix? Das wäre dann schon eher ein erreichbares Ziel, aber umso erschütternder, dass die ARD derartige Begriffe so amateurhaft durcheinander wirft.

Und auch die wenigen, die sie haben, haben weniger als die Hälfte 20 % Kernenergie im Strommix, Tendenz fallend

Und die Idee, dass Deutschland der krasse Sonderfall ist und alle anderen 20 Prozent Kernkraft schaffen wollen? Von 195 Ländern betreiben 32 Kernreaktoren, das entspricht 16 Prozent. Und von diesen 32 Ländern schaffen wiederum nur 15 die 20 % Kernenergie im Strommix, Tendenz fallend. Wenn Rafael Grossi „Im Rest der Welt finden wir das Gegenteil“ sagt, meint er mit „Rest der Welt“ 15 von 195 Staaten, also 8 Prozent aller Länder. Sollte man so eine Aussage ohne Einordnung einfach so übernehmen?

Deutschland und Italien haben vielleicht eine Sonderrolle innerhalb der G7, aber weltweit ist das nicht der Fall. Deutschland schaltet jetzt außerdem Reaktoren ab, die noch hätten weiterlaufen können. Das kann man gerne hinterfragen, aber doch dann bitte mit Fakten, nicht mit ungeprüften Lobby-Aussagen. Hier wäre dann zudem zu erwähnen, dass in Deutschland die Auswirkungen der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl spürbarer waren als in den meisten anderen Ländern der Welt und auch 2022 noch eine Verzehrwarnung für bayerische Pilze gilt.

Das wiederum ist gegenüber den deutschen Kernkraftwerken etwas unfair, weil der graphitmoderierte Tschernobyl-Reaktor des Typs RBMK-1000 einen schweren Konstruktionsmangel aufwies, der dann letztendlich auch zur Katastrophe geführt hat (wer das genauer wissen will: Die HBO-Serie Tschernobyl erklärt sensationell gut). Angst ist halt selten rational, Menschen haben auch Angst vor einem Milliardstel Gramm Mineralöl in veganem Aufstrich.

Tage, an denen AKW mehr lieferten als Windenergie seit 2018: Null

Wem es nicht gefällt, wenn wichtige Entscheidungen unvernünftig getroffen werden, sollte umso mehr Sachlichkeit vorleben. Die ARD-Doku ist aber einfach ein verlängerter Tagesschau-Kommentar, eine Meinung von Leuten, die zentrale Begriffe der Energiewirtschaft durcheinanderwerfen und im Senderverbund solche Sharepics teilen:

An „manchen Tagen“ bedeutet konkret:

0 Tage in 2018
0 Tage in 2019
0 Tage in 2020
0 Tage in 2021
0 Tage in 2022
0 Tage in 2023

Was die Betreiberfirma PreussenElektra eigentlich gesagt hat: Selbst mit 70 Prozent Leistung erzeugt ISAR 2 noch so viel Strom, dass es in manchen Stunden mehr Strom erzeugt als die deutsche Windkraft, manchmal sogar doppelt so viel. Nun, das kann tatsächlich vorkommen, aber wir müssen uns dann mal über die Definition von „manchmal“ unterhalten. Wirklich doppelt so viel war 2023 noch nie der Fall, dass 70 % Isar2 mehr erzeugt hat als die deutsche Windkraft war in 5 von 2.500 Stunden der Fall (05.04.2023 von 9:15 bis 14:00 Uhr).

Fake News zum Atomausstieg: Unvermögen oder Agenda?

Und auch in diesen 5 Stunden waren Erneuerbare eine gute Stromquelle, denn sehr wenig Wind korreliert mit viel Sonneneinstrahlung, so dass wir in diesen Stunden zwischen 27 und 41 Gigawatt Wasser-, Biomasse und Solarstrom im Netz hatten (entspricht 27 bis 41 großen Kernkraftwerken). Aber wie gesagt, auf Stunden runtergebrochen mögen wir noch vereinzelt solche Werte finden, bei Tagen ist das anders und es ist für das Gesamtsystem auch irrelevant.

Nun sind Stunden aber was anderes als Tage. Vielleicht ist mein Anspruch an das Verständnis von Zeiteinheiten an Dokus der öffentlich-Rechtlichen ja auch zu hoch, aber hier stellt sich schon die Frage, warum jemand mit derartig hohen Verständnisproblemen Drehbücher für Dokumentationen verfassen darf. Zusätzlich dazu kommen dann derartige Berichte als wichtigste Meldung in der Tagesschau:

Und warum derartig falsche Sharepics dann innerhalb der Sendergruppe zum Atomausstieg verbreitet werden können, ohne dass irgendwem dieser Fehler auffällt. Ist das einfach nur Unvermögen oder steckt da eine Agenda dahinter?

Ein weiterer Faktencheck zum Thema:

Artikelbild: Screenshots twitter.com/Canva