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Faktencheck Seenotrettung: Innenministerium täuscht Bundestag

von | Nov 15, 2023 | Faktencheck

GASTBEITRAG DAVID WERDERMANN

Mit versteckten Änderungen und Falschinformationen versucht die Bundesregierung Fluchthilfe und Seenotrettung zu kriminalisieren.

Ich arbeite bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte, eine Organisation, die sich mit juristischen Mitteln für die Grundrechte einsetzt. Teil meiner Arbeit ist eine Art Monitoring, bei dem wir Gesetzentwürfe lesen und prüfen, ob sie mit dem Grundgesetz vereinbar sind. Wenn wir ein verfassungswidriges Gesetz entdecken, klagen wir oft dagegen. Man kann sagen, ich lese regelmäßig Gesetzentwürfe der Bundesregierung.

So auch an einem Abend Anfang des Monats. Auf tagesschau.de las ich, dass das Bundeskabinett beschlossen hat, Schleuser*innen härter zu bestrafen. Das weckte mein Interesse, denn ich finde, sog. Schleuser*innen machen oft einen sinnvollen Job. Zum Beispiel Menschen aus Kriegsgebieten retten und ihnen die Asylantragstellung in Europa ermöglichen. Ich las also diesen Beitrag auf tagesschau.de und schnappte mir anschließend den Gesetzentwurf der Bundesregierung, um mich ein bisschen intensiver mit der geplanten Verschärfung des Schleuserparagrafen zu beschäftigen.

Was ich fand, war massive Kriminalisierung von Fluchthelfer*innen, die im Endeffekt sogar Seenotretter*innen treffen kann.

Was jedoch fast noch skandalöser ist, ist das Vorgehen des Bundesministeriums des Inneren und für Heimat. Die Gesetzesänderung ist so gut versteckt, dass ich nur durch Zufall darauf gestoßen bin und selbst spezialisierte Jurist*innen sie nur mit Mühe nachvollziehen können. Und jetzt, nachdem die Süddeutsche Zeitung und andere Medien darüber berichtet haben, verbreitet das BMI Falschinformationen, um sich aus der Affäre zu ziehen und das Gesetz doch noch durch den Bundestag zu bringen. Aber der Reihe nach.

Teil I: Die versteckte Kriminalisierung der Seenotrettung

Wer die geplante Gesetzesänderung verstehen will, muss sich mit § 96 Aufenthaltsgesetz beschäftigen. Dieser enthält den Straftatbestand des Einschleusens. Für das Einschleusen nach Deutschland ist es so: Strafbar macht sich, wer einer anderen Person dabei hilft unerlaubt nach Deutschland einzureisen und dafür entweder einen Vorteil erhält (Nr. 1 Buchstabe a) oder wiederholt oder zugunsten mehrerer Personen handelt (Nr. 1 Buchstabe b).

Das Einschleusen in ein anderes EU-Land, zum Beispiel Italien oder Griechenland, ist in § 96 Absatz 4 geregelt. Dieser verweist bisher nur auf die Nr. 1 Buchstabe a) aber nicht auf Nr. 1 Buchstabe b). Das heißt kurz gesagt: Das Einschleusen in die EU ist nur strafbar, wenn man dafür Geld bekommt. Uneigennützige Helfer*innen machen sich nicht strafbar.

Kompliziert? Es geht gerade erst los. Die Bundesregierung hat schon am 25. Oktober einen ersten Entwurf für ein „Rückführungsverbesserungsgesetz“ beschlossen, der unter anderem folgende Änderung von § 96 Abs. 4 Aufenthaltsgesetz vorsieht.

Nicht verstanden? Macht nichts.

Denn die Bundesregierung hat nur eine Woche später eine sogenannte Formulierungshilfe vorgelegt. Hierbei handelt es sich um eine Änderung der Gesetzesänderung. Diese wird jedoch nicht von der Bundesregierung selbst in den Bundestag eingebracht. Vielmehr sollen die Regierungsfraktionen (hier: SPD, Grüne und FDP) die Formulierungshilfe nehmen und einen Änderungsantrag zu dem ursprünglichen Gesetzentwurf stellen. Diese Änderung der Änderung lautet:

Um diesen Änderungsbefehl geht es. Der Verweis auf „Nr. 1 Buchstabe a“ wird ersetzt durch den Verweis auf „Nummer 1“. Das heißt: Eigentlich werden nur die Wörter „Buchstabe a“ gestrichen. Das hat jedoch weitreichende Konsequenzen. Denn die Beschränkung auf Buchstabe a führte bisher dazu, dass sich nur strafbar macht, wer für die Schleusung Geld bekommt. Zukünftig soll sich auch strafbar machen, wer wiederholt oder zugunsten von mehreren Personen handelt (Nr. 1 Buchstabe b). Hier habe ich die maßgeblichen Änderungen hervorgehoben:

Das kann auch Seenotrettung treffen

Die Änderung führt also dazu, dass uneigennützige Helfer*innen künftig wegen Einschleusens in die EU bestraft werden können. Das kann auch Seenotretter*innen treffen, wie ich an anderer Stelle ausführlich dargelegt habe. Deren Organisationen sind zurecht empört (siehe zum Beispiel hier und hier).

Um das Verständnis zu erleichtern, habe ich die aktuelle Rechtslage der geplanten zukünftigen Rechtslage gegenübergestellt und die maßgebliche Änderung fett markiert:

Aktuelle RechtslageÄnderung nach Gesetzentwurf und Formulierungshilfe
§ 96 Einschleusen von Ausländern§ 96 Einschleusen von Ausländern
(1) Mit Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf Jahren, … wird bestraft, wer einen anderen anstiftet oder ihm dazu Hilfe leistet, eine Handlung nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a zu begehen unddafür einen Vorteil erhält oder sich versprechen lässt oderwiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handelt oder…1) Mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren, … wird bestraft, wer einen anderen anstiftet oder ihm dazu Hilfe leistet, nach § 95 Abs. 1 Nr. 3 oder Abs. 2 Nr. 1 Buchstabe a zu begehen unddafür einen Vorteil erhält oder sich versprechen lässt oderwiederholt oder zugunsten von mehreren Ausländern handelt oder…
(4) Absatz 1 Nr. 1 Buchstabe a, Nr. 2, Absatz 2 Satz 1 Nummer 1, 2 und 5 und Absatz 3 sind auf Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder eines Schengen-Staates anzuwenden, wenn sie den in § 95 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 oder Abs. 2 Nr. 1 bezeichneten Handlungen entsprechen und…(4) Absatz 1 Satz 1 Nummer 1 und 2, Satz 2, Absatz 2 Satz 1 Nummer 1, 2, 3, 5 und 6, Satz 2 und Absatz 3 sind auf Zuwiderhandlungen gegen Rechtsvorschriften über die Einreise und den Aufenthalt von Ausländern in das Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten der Europäischen Union oder eines Schengen-Staates anzuwenden, wenn sie den in § 95 Abs. 1 Nr. 2 oder 3 oder Abs. 2 Nr. 1 bezeichneten Handlungen entsprechen und…  

Diese Gegenüberstellung ist eine Synopse

Solche Synopsen erstellt man, um Gesetzesänderungen verständlicher zu machen. Auch das Innenministerium hat für interne Zwecke eine solche Synopse – darauf verwette ich mein Grundgesetz. Warum es diese nicht dem Gesetzentwurf und der Formulierungshilfe beifügt, bleibt sein Geheimnis. Wahrscheinlich wollen die Beamten, dass die Abgeordneten und die Öffentlichkeit nicht verstehen, über was genau im Bundestag abgestimmt wird. Im Koalitionsvertrag finden sich übrigens folgende Sätze. Ich lasse das mal so stehen.

„Gesetzentwürfen der Bundesregierung wird künftig eine Synopse beigefügt, die die aktuelle Rechtslage den geplanten Änderungen gegenüberstellt. Wir wollen Gesetze verständlicher machen.“

Man möchte meinen, dass die Bundesregierung dann wenigstens begründet, warum sie uneigennütziger Helfer*innen künftig bestrafen will. Aber auch hier: Fehlanzeige. In der Begründung zu der Formulierungshilfe findet sich nur folgender kryptischer Satz:

Hier komme auch ich an meine Grenzen

Was mit der „Änderung zu Nummer 2 Buchstabe a Doppelbuchstabe ee und Buchstabe b Doppelbuchstabe bb“ gemeint ist, lässt sich nicht nachvollziehen. Die Verweise gehen ins Leere. Ich vermute, dass andere Änderungen am Gesetz gemeint sind (der neue § 96 Abs. 1 Satz 2 und § 96 Abs. 2 Satz 2 Aufenthaltsgesetz), die auf den Absatz 4 erstreckt werden sollen, aber nicht die neue Strafbarkeit von uneigennützigen Helfer*innen.

Dass die maßgebliche Änderung in einer Formulierungshilfe für die Ampel-Fraktionen untergebracht wurde, macht die Sache nicht nur unnötig kompliziert, sondern führte im Übrigen auch dazu, dass es keine Verbändebeteiligung gab. Bei normalen Gesetzentwürfen bekommen Verbände und NGOs nämlich die Gelegenheit, vor der Beschlussfassung durch die Bundesregierung Kritik zu äußern. Zu dem ursprünglichen Entwurf des „Rückführungsverbesserungsgesetz“ hatten etwa Amnesty International und Pro Asyl Stellungnahmen abgegeben. Bei der Formulierungshilfe gab es diese Möglichkeit nicht.

Fassen wir zusammen: Die Bundesregierung beschließt eine politisch brisante Gesetzesänderung und versteckt diese in einer Änderung zu der Änderung des ohnehin schon komplizierten § 96 Aufenthaltsgesetz. Das Ganze soll dann ohne Synopse, ohne Begründung und ohne Verbändebeteiligung an die Ampel-Fraktionen geschickt werden, damit diese es in das Gesetzgebungsverfahren einbringen und abnicken.

Wäre ich nicht durch Zufall auf die Verschärfung gestoßen und hätte die Presse nicht darüber berichtet, wäre es wahrscheinlich tatsächlich so gekommen. So musste sich das Bundesinnenministerium eine neue Strategie überlegen.

Teil II: Täuschung der Abgeordneten mit Falschinformationen und Quatsch-Jura

Nachdem die Presse über die geplante Änderung berichtete und es Kritik hagelte, sah sich das Innenministerium zum Handeln gezwungen. Es teilte über seine Social-Media-Kanäle eine „Klarstellung“, nach der Seenotretter nicht kriminalisiert würden. Zudem verschickte es eine E-Mail an mindestens einen Bundestagsabgeordneten. Hier die gesamte E-Mail:

Diese E-Mail enthält Aussagen, die teils eindeutig falsch sind, teils zumindest irreführend. Schauen wir uns die einzelnen Abschnitte genauer an.

Das Innenministerium behauptet hier, dass die Gesetzesänderung nicht Rettungen erschweren „soll“. Sie tut es aber! Seenotretter*innen erfüllen künftig den objektiven Tatbestand des Einschleusens. Sie helfen bei der unerlaubten Einreise der EU durch mehrere Personen. Das bestreitet das BMI auch nicht. Seine Einwände beziehen sich allein auf den angeblich fehlenden Vorsatz und auf die Rechtfertigung (dazu unten).

Das Ministerium spricht von einem „skrupellosen und menschenverachtenden Geschäft der Schleuser“ und behauptet, dass Schleuser Menschenleben aufs Spiel setzen würden, während Seenotretter Menschen retten würden. Diese Aussagen sind grob irreführend. Denn die Darstellung hat nichts zu tun mit dem Gesetz, wie es das Ministerium vorschlägt.

Der neue Straftatbestand hat im Kern drei Merkmale:

1. Hilfeleisten

2. zur unerlaubten Einreise in die EU

3. wiederholt oder zugunsten mehrerer.

Ende.

Ein skrupelloses, menschenverachtendes oder gefährliches Verhalten ist keine (!) Voraussetzung für die Strafbarkeit. Es gibt auch keine ausdrückliche Ausnahme für Seenotretter*innen.

Diese Aussage zum angeblich fehlenden Vorsatz gehört in die Kategorie „Quatsch-Jura“. Im Strafrecht unterscheidet man zwischen Vorsatz und Absicht. Vorsätzlich handelt, wer weiß, dass er*sie den Tatbestand erfüllt. Seenotretter*innen wissen, was sie tun. Dass es ihnen nicht auf die Hilfe zur unerlaubten Einreise ankommt (Absicht) ist rechtlich egal. Lernt man im 1. Semester. Müsste den Spitzenbeamt*innen im Innenministerium eigentlich bekannt sein.

Dieser Satz ist ausnahmsweise richtig. Seenotretter*innen können sich tatsächlich auf den rechtfertigenden Notstand nach § 34 Strafgesetzbuch berufen. Sie wehren eine gegenwärtige Gefahr für Leib und Leben der Flüchtlinge ab.

Das Problem ist: Was ist, wenn die Staatsanwaltschaft das anders sieht? Der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) setzt eine Interessenabwägung voraus. Es reicht, wenn eine Staatsanwaltschaft einen Anfangsverdacht bejaht. Telekommunikationsüberwachung, Durchsuchungen, Beschlagnahmen u.s.w. können folgen. In Italien können wir beobachten, was Seenotrettungsorganisationen droht. Es kommt dort immer wieder zu Ermittlungsverfahren (siehe hier und hier). Die Crew des ehemaligen Rettungsschiffs Iuventa muss sich aktuell wegen angeblichen Einschleusens vor Gericht verantworten. Solche Verfahren behindern massiv die Arbeit der Organisationen.

Der letzte Satz ist wieder eindeutig falsch. Die Strafbarkeit von Schleusungen mit Waffe (§ 96 Abs. 2 Nr. 3 Aufenthaltsgesetz) und das Durchbrechen einer polizeilichen Kontrolle (neuer § 96 Abs. 2 Nr. 6 Aufenthaltsgesetz) sind völlig unabhängig von der einfachen uneigennützigen Schleusung (§ 96 Abs. 1 Nr. 1 Buchstabe b Aufenthaltsgesetz). Das Innenministerium wirft hingegen alles in einen Topf.

Es ist ohne Weiteres möglich, uneigennützige Helfer*innen nur dann zu bestrafen, wenn sie gefährlich handeln. Das Innenministerium behauptet hier eine Alternativlosigkeit, die es nicht gibt.

Wer macht die Gesetze?

Das Verhalten des Innenministeriums gegenüber dem Parlament ist erschreckend. Zuerst versucht es, den Ampel-Fraktionen in einer komplizierten Formulierungshilfe (ohne Begründung, ohne Synopse und ohne Verbände-Beteiligung) eine politisch umstrittene Verschärfung unterzujubeln. Und jetzt führt es die Abgeordneten mit Falschinformationen und hinters Licht.

Eigentlich müsste der Bundestag empört aufschreien und das Gesetzgebungsverfahren erstmal auf Eis legen. Auch personelle Konsequenzen im Innenministerium sind in meinen Augen angezeigt. Stattdessen plant die Ampel-Koalition offenbar, das Gesetz noch vor der Weihnachtspause durch den Bundestag zu bringen.

In unserer Demokratie werden Gesetze eigentlich vom Parlament gemacht. Die Regierung soll hierbei den Bundestag unterstützen. Manchmal frage ich mich, ob es in Wirklichkeit anders herum ist.

David Werdermann ist Rechtsanwalt und lebt in Berlin. Er arbeitet bei der Gesellschaft für Freiheitsrechte (GFF) und in einer auf Informationsfreiheitsrecht spezialisierten Kanzlei. Artikelbild: