Triggerwarnung: Es wird in diesem Artikel über militärische Gewalt, getötete Menschen, getötete Tiere und Angriffe auf zivile Infrastruktur berichtet. Wir zeigen allerdings keine Bilder von toten Menschen.
Am vergangenen Freitag griff die israelische Armee einen Krankenwagen-Konvoi in Gaza an, wodurch mehrere Zivilist:innen getötet wurden. Ein häufig verbreitetes Bild beinhaltet ein getötetes Pferd unter einem der Krankenwagen, was viele fälschlicherweise zur Annahme führte, die Bilder seien gestellt oder zeigten einen unzusammenhängenden Unfall. Das stimmt allerdings nicht, tatsächlich fand der israelische Angriff genau so statt – das bestätigte sogar die israelische Armee selbst. Sie vermutete in den Krankenwagen Hamas-Terroristen und nahm deshalb zivile Opfer in Kauf. Die Hintergründe dieses Falls sind enorm komplex. Das tote Pferd wirkt merkwürdig, es gibt jedoch keinen Grund, deshalb die Fakten anzuzweifeln. Wir zeigen euch in diesem Artikel, was faktisch gesichert ist, wie kompliziert die völkerrechtliche und moralische Einordnung ist – und warum wir gerade deswegen darauf beharren, nur gesicherte Fakten zu teilen.
Seit dem Überfall der Terrororganisation Hamas auf Israel Anfang Oktober kursiert eine bislang ungeahnte Menge an Desinformation im Netz. Wir haben schon mehrfach darauf hingewiesen, dass wir nicht jeden einzelnen Fake widerlegen können – es gibt schlicht zu viele. So lügt vor allem die Hamas über ihre schrecklichen Terrortaten, doch auch von israelischer Seite wird Desinformation verbreitet. Wir stehen solidarisch an der Seite Israels und setzen uns für dessen Existenzrecht wie auch das damit verbundene Recht auf Selbstverteidigung ein. Gleichzeitig sehen wir unsere Aufgabe darin, unseren Leser:innen dabei zu helfen, sich im chaotischen Nahost-Diskurs zurecht zu finden und Desinformation zu bekämpfen, egal woher sie kommt.
Angriffe auf Krankenwagen? Das sagt das Völkerrecht
Im Völkerrecht sieht es auf den ersten Blick ziemlich simpel aus. Schauen wir in die Genfer Konventionen, die wichtigsten Abkommen, die Regeln im Krieg beinhalten. Genauer gesagt in Artikel 48 des ersten Zusatzprotokolls, in dem die Regelungen der Konventionen konkretisiert wurden:
“Um Schonung und Schutz der Zivilbevölkerung und ziviler Objekte zu gewährleisten, unterscheiden die am Konflikt beteiligten Parteien jederzeit zwischen der Zivilbevölkerung und Kombattanten sowie zwischen zivilen Objekten und militärischen Zielen; sie dürfen daher ihre Kriegshandlungen nur gegen militärische Ziele richten.” (Quelle)
Also: Militärische Ziele dürfen grundsätzlich angegriffen werden, zivile Objekte grundsätzlich nicht. Außerdem gilt auch, dass im Zweifelsfall immer davon ausgegangen werden muss, dass eine Person eine Zivilperson und ein Objekt ein ziviles Objekt ist. Das heißt im Umkehrschluss, man muss sich zweifelsfrei sicher sein, dass ein Ziel militärischer Natur ist, bevor man es angreift. Und sogar wenn man sich sicher ist, dass ein Ziel militärischer Natur ist, darf man es dann nicht angreifen, wenn die Schäden an der Zivilbevölkerung “in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen.” Diese Formulierung lädt natürlich zu sehr zynischen Abwägungen zwischen Menschenleben und militärischem Nutzen ein.
Soweit die Theorie. Doch man ahnt es schon: In der Praxis ist es natürlich sehr viel komplizierter.
Schutz von Zivilisten – höchstes Gut und komplizierte Angelegenheit
So hat das Völkerrecht beispielsweise auch eine Regelung, nach der man diesen hohen Schutz der Zivilbevölkerung als Kriegspartei nicht missbrauchen darf. So steht im Römischen Statut des Internationalen Strafgerichtshofs:
“Im Sinne dieses Statuts bedeutet “Kriegsverbrechen” […] schwere Verstöße gegen die innerhalb des feststehenden Rahmens des Völkerrechts im internationalen bewaffneten Konflikt anwendbaren Gesetze und Gebräuche, nämlich jede der folgenden Handlungen: […]
xxiii) die Benutzung der Anwesenheit einer Zivilperson oder einer anderen geschützten Person, um Kampfhandlungen von gewissen Punkten, Gebieten oder Streitkräften fernzuhalten. “
Quelle
Diese beiden Regelungen sorgen ergänzend dafür, dass alle Seiten im Konflikt eine grundlegende Verantwortung tragen: Die “angreifende” Seite muss respektieren, dass zivile Objekte oder auch die Zivilbevölkerung nicht attackiert werden dürfen. Die “verteidigende” Seite muss aber genauso respektieren, dass man deswegen nicht seine militärische Infrastruktur und seine Soldat:innen hinter diesem zivilen Schutzschild verstecken darf.
Die rechtliche Grundlage sagt also: Man darf keinesfalls zivile Objekte (wie einen Krankenwagen) attackieren, sondern nur militärische Ziele. Und man darf aus der anderen Perspektive diesen Umstand auch nicht nutzen, um Waffen, Kämpfer:innen oder sonstiges militärisches Material in zivilen Objekten (wie einem Krankenwagen) transportieren. Und damit kommen wir zum aktuellen Fall in Israel.
Bilder vom beschädigten Krankenwagen: Das sind die Hintergründe
Denn entsprechend emotional werden auch scheinbare oder echte Fälle diskutiert, in denen Sanitäter:innen, Krankenwagen oder ähnliche zivile Infrastruktur angegriffen werden. So auch im Nahostkonflikt, der ohnehin für viele Menschen ein noch emotionaleres Thema ist, als Krieg sowieso.
Und genau das ist nun passiert: Durch die Medien, vor allem die sozialen Medien, gehen aktuell viele Bilder, auf denen offensichtlich zu sehen ist, dass Krankenwagen zerstört oder beschädigt wurden. Darunter entbrennen hitzige Diskussionen darüber, ob die Bilder echt sind, wer für den Angriff verantwortlich ist und welche Konsequenzen man jetzt daraus ziehen müsste.
Darum schauen wir jetzt erst einmal darauf, was eigentlich genau passiert ist. Denn um das Ganze noch komplizierter zu machen, gibt es aktuell nicht nur einen, sondern sogar zwei ähnliche Fälle, die von einigen Leuten verwechselt und durcheinandergebracht wurden. Einer dieser Angriffe fand auf einen Konvoi des Palästinensischen Roten Halbmonds im Zentrum der Stadt Gaza statt und der andere eher im Süden der Stadt.
Faktencheck: Israelische Armee bestätigt Angriff auf Krankenwagen!
Der erste Fall ist der am häufigsten diskutierte. Man sieht auf den verbreiteten Bildern einen offenbar beschädigten Krankenwagen, unter dem ein totes Pferd eingequetscht liegt. Die Bilder sind echt und sind auch tatsächlich Ergebnis eines Angriffes der israelischen Armee auf den Krankenwagen. Das können wir mit so großer Bestimmtheit sagen, weil die Israelische Armee bestätigt hat, diesen Angriff nahe des Al Shifa Krankenhaus durchgeführt zu haben.
Auch Israelische Medien berichteten darüber, ein AFP-Fotograf vor Ort lieferte das Fotomaterial, welches auch das tote Pferd zeigt.
Nach Berichten des Palästinensischen Roten Halbmonds (PRCS) habe es sich dabei konkret um einen Konvoi von 5 Krankenwagen gehandelt, der am Freitag kurz nach 16 Uhr Ortszeit vom al-Shifa-Krankenhaus im Norden des Gazastreifens in Richtung Süden zur ägyptischen Grenze aufgebrochen war. In den Krankenwagen befanden sich laut Palästinensischen Angaben Verwundete, die in Ägypten behandelt werden sollten. Diese Angaben können wir nicht überprüfen. Allerdings musste der Konvoi umdrehen, da eine Straße der geplanten Route zerstört war. Auf der Rückfahrt zum Krankenhaus wurde der Krankenwagen-Konvoi zweimal angegriffen. Der erste Angriff erfolgte ungefähr einen Kilometer vor dem Krankenhaus, er forderte allerdings laut PRCS-Angaben keine Todesopfer. Zum ersten Angriff sind uns keine Bilder oder Berichte bekannt, das beruht auf Angaben des PRCS.
Der zweite Angriff erfolgte dann unmittelbar am Krankenhaus. Von diesem zweiten Angriff stammen auch die weit verbreiteten Bilder mit dem beschädigten Krankenwagen und dem Pferd darunter. Das ist der Angriff, den das IDF bestätigt und die Verantwortung dafür übernommen hat.
Auch Bild mit dem toten Pferd ist echt!
Das Bild mit dem toten Pferd sorgte dafür, dass viele die Authentizität des Geschehens anzweifeln. Es zeigt allerdings nur einen kleinen Ausschnitt der Szene. In der Gesamtschau von Videos der Szene wird das Ausmaß der Zerstörung deutlich. Wir verlinken die Videos hier nicht, da es sich um extrem verstörende Szenen handelt. Sie sind aber mehrfach direkt vor dem Krankenhaus geolokalisiert. In den Videos sieht man sehr viele Leichen und Verletzte in großen Blutlachen auf der anderen Seite des Krankenwagens liegen. Der Krankenwagen wurde anscheinend nicht direkt getroffen. Auch handelt es sich bei der Munition nicht um große Fliegerbomben, sondern offenbar um ein kleines Geschoss, welches vor allem Schrapnellschaden verursacht. Solcher Schaden ist an der Szene sichtbar. Möglich wären beispielsweise sogenannte “Spike-Raketen”, aber wir können das hier nicht abschließend beurteilen, weil wir zu wenig Informationen haben und uns zu Munitionstypen nicht gut genug auskennen.
Also nochmal: Dass dieser Krankenwagen-Konvoi von Israel angegriffen wurde, bestreitet niemand – weder die Hamas, noch die israelische Armee. Es gibt allerdings Verwirrung und Desinformation darüber, weil es noch einen zweiten, ähnlichen Angriff gegeben hat. Hier gilt es gerade für diejenigen, die solidarisch an der Seite Israels stehen, wachsam zu bleiben und sich nicht verwirren zu lassen.
Zweiter Angriff auf anderen Krankenwagen ist ohne Zusammenhang
Dieser zweite Angriff fand südlich der Stadt Gaza statt und muss mindestens einen Tag vor dem Fall mit dem Krankenwagen-Konvoi und dem Pferd passiert sein. Das können wir wiederum so sicher sagen, weil dazugehöriges Geolocation-Material bereits vom 2. November, also einem Tag früher, stammt:
Was genau die Hintergründe dieses Angriffs sind, können wir aktuell nicht rekonstruieren. Uns ist auch noch keine Stellungnahme der Israelischen Armee dazu bekannt, wir wissen kaum mehr, als dass es offenbar einen Angriff gab und dass, wie man im Video sieht, mindestens ein Krankenwagen komplett ausgebrannt ist. Der Ort liegt auch in der Nähe von dem Gebiet südlich von Gaza-Stadt, in das die israelische Armee in den letzten Tagen einmarschiert ist. Demnach ist es umso schwerer zu sagen, welche Seite hier Schuld hat.
Diese komplizierte Faktenlage hält allerdings offenbar einige nicht davon ab, diese beiden Fälle fälschlicherweise zu vermischen und die Existenz des anderen Angriffs als scheinbaren Beleg dafür zu verwenden, dass der Angriff, in dessen Zusammenhang das Bild mit dem toten Pferd entstand, eine “false-flag” Operation sei. Diese offensichtlich falsche Behauptung fand sich unter anderem als beantragte Community Note unter einem Tweet von ZDF heute:
Wie wir bereits ausführlich geklärt haben, ist der Vorfall eben kein Verkehrsunfall gewesen – das hat sogar die Israelische Armee bestätigt (die ja nun wirklich kein Interesse daran hat, sich eine für sie selbst so pikante Story auszudenken). Und das als scheinbarer “Beweis” verlinkte Video ist wie gesagt in einem ganz anderen Zusammenhang entstanden.
Trotz Hamas-Kriegsverbrechen muss Israel Zivilisten schützen
Besonders kompliziert ist die moralische Frage. Es ist komplett klar, dass ein Krankenwagen nicht angegriffen werden darf. Israel hält allerdings als Entschuldigung vor, dass sie davon ausgegangen sind, dass sich im Krankenwagen Hamas-Terroristen befanden. Es geht also davon aus, dass das zivile Objekt, das der Krankenwagen in dem Fall ist, von der Hamas als “ziviles Schutzschild” missbraucht wurde. Das wäre, wie oben geschildert, ebenfalls ein Verstoß gegen das Völkerrecht.
Ein Grund für diese Annahme Israels könnte sein, dass die israelische Armee schon lange davon ausgeht, dass sich unter dem Krankenhaus, vor dem der zweite Angriff stattfand, eine Zentrale der Terrororganisation Hamas befindet. Laut Angaben der israelischen Armee haben sie Hamas-Strukturen unter dem Krankenhaus schon seit mehr als 10 Jahren auf dem Schirm. Außerdem gehörten laut PRCS vier der fünf Krankenwagen dem Gesundheitsministerium von Gaza – welches komplett unter Hamas-Kontrolle ist. Die israelische Armee ging deshalb offenbar davon aus, dass sich in den Krankenwagen Hamas-Kämpfer befinden könnten, die sich heimlich über die Grenze nach Ägypten absetzen wollten. Genau eine solche Aktion hatte die Hamas schon einmal am Grenzübergang nach Ägypten versucht, die Anschuldigungen sind also nicht ganz aus der Luft gegriffen.
Gleichzeitig muss man aber auch festhalten, dass selbst wenn die eine Seite im Konflikt (also die Hamas) das Völkerrecht bricht, dies der anderen Seite (Israel) keinen Blankoschein gibt, selbst jegliches geltende Völkerrecht zu ignorieren. Selbst wenn israelischen Geheimdiensten möglicherweise gesicherte Informationen vorlagen, dass in diesen Krankenwagen Hamas-Kämpfer nach Ägypten geschmuggelt werden sollten, bleibt die Frage, ob die Inkaufnahme von vielen zivilen Todesopfern, die es beim Angriff am Krankenhaus gab, verhältnismäßig war. Wie gesagt, diese Abwägungen sind sehr zynisch. Und letztlich gibt es auch keine einfache Antwort.
Fazit: Auf Fakten schauen, nicht auf Freund-Feind-Denken!
Wir können ein paar Dinge mit Sicherheit sagen, immerhin. Es gab einen Angriff der israelischen Streitkräfte auf einen Krankenwagen-Konvoi in der Stadt Gaza. Bei diesen Angriffen sind Menschen ums Leben gekommen. Israel behauptet, dass der Angriff Hamas-Kämpfern galt, die sich im Krankenwagen befunden haben sollen. Ob das stimmt, können wir nicht beweisen oder widerlegen. Was wir wissen ist, dass es ein Verstoß gegen das Völkerrecht ist, zivile Objekte anzugreifen – genauso wie das Vorgehen der Hamas, ihre militärische Infrastruktur mit zivilen Objekten wie dem Krankenhaus zu verknüpfen. Auch kann nicht der eine Verstoß gegen das Völkerrecht mit dem anderen “gegengerechnet” werden. Denn das Ziel des Völkerrechts im Kriegsfall ist der Schutz der Zivilbevölkerung. Auge um Auge, Zahn um Zahn kann da nicht funktionieren.
Was wir auch wissen ist, dass die Hamas eine brutale Terrororganisation ist, die dem Frieden im Nahen Osten aktiv im Weg steht. Sie bedroht die Existenz des jüdischen Staates Israel und nutzt für ihre Propaganda tote Zivilist:innen nur zu gern aus. Es ist verständlich, dass die israelische Armee der Hamas mit aller Kraft entgegen tritt. Dabei sollte nur weiterhin klar zwischen Fakt und Fake unterschieden werden können. Auch wenn die Propaganda der Hamas in den sozialen Medien unerträglich ist, sollte sich die Gegenseite nicht dazu hinreißen lassen, nur noch die Dinge zu glauben, die ihr gut gefallen.
Das gilt für den Angriff auf die Krankenwagen genauso wie für die verkürzte Erzählung vom angeblichen “Pallywood”. Als Demokrat:in sollte man sich niemals dazu hinreißen lassen, echte Todesopfer als “Schauspieler:innen” zu bezeichnen. In diesem Krieg gibt es auf beiden Seiten Grausamkeiten und zivile Opfer – das zu benennen und zu verurteilen muss weiterhin möglich sein, ohne den Hamas-Terror zu relativieren oder von der Solidarität mit Israel abzurücken.
Artikelbild: -/XinHua/dpa