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Netanjahu & Hamas: Haftbefehl nur beantragt, noch nicht erlassen!

von | Mai 21, 2024 | Faktencheck

Am Montag beantragte Karim A. A. Khan, Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Haftbefehle für Führungspersönlichkeiten der islamistischen Terrororganisation Hamas, aber auch für Israels Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Joaw Galant. Das war aber bisher nur der Antrag, NICHT der Haftbefehl selbst, wie es viele Medien fälschlicherweise berichtet haben. Wie so oft bei Themen, die den Nahostkonflikt betreffen, waren die Reaktionen in Deutschland darauf nicht nur von blinder Emotionalität, je nachdem, auf welcher „Seite“ man steht, sondern auch von entsprechender Desinformation geprägt. Wir haben für euch noch einmal die Fakten zusammengetragen.

Reminder: Das Thema „Nahostkonflikt“ wird oft extrem emotional diskutiert. Gerade in westlichen sozialen Medien wird oft der Eindruck erzeugt, man müsse sich hier ganz klar für die eine oder andere „Seite“ des Konflikts entscheiden und lautstark entsprechend positionieren. Wir bei Volksverpetzer vertreten von Anfang an die Position, dass dieser Konflikt extrem komplex ist und die Antworten keineswegs so schwarz-weiß, wie manche Aktivist:innen es darstellen wollen. Dabei möchten wir aber auch klarstellen, dass wir jegliche Form von Islamismus, Antisemitismus und Rechtsextremismus entschlossen ablehnen und solidarisch hinter dem Existenzrecht Israels sowie dem Völkerrecht stehen. Unser Beileid gilt allen Opfern von Terror, Krieg und Geiselnahme.

Internationaler Strafgerichtshof: Diese Fakten sind klar

Fangen wir einmal mit den Fakten an, die unumstritten sind. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH, oft wird auch die englische Abkürzung ICC verwendet) ist ein Gerichtshof, der in über 120 Staaten auf dem Gebiet des Völkerstrafrechts zuständig ist. Der IStGH kann nur über Personen urteilen, darf also nicht mit dem Internationalen Gerichtshof (IGH, englisch ICJ) verwechselt werden, der über Staaten urteilen kann und zu den Vereinten Nationen (UN) gehört. Im Gegensatz dazu ist der IStGH nämlich nicht Teil der UN, es hängt also von der Mitarbeit der Staaten ab. Deutschland und alle anderen EU-Staaten erkennen den Gerichtshof an, ebenso wie Norwegen, Kanada, Australien, Japan und weitere Staaten. Auch Palästina ist seit 2015 Vertragsmitglied.

Allerdings haben viele große Staaten das Römische Statut, also quasi den Beitritt zum IStGH, nicht unterschrieben oder ihre Unterschrift zurückgezogen. Dazu gehören die USA, Russland, China, Indien, Syrien, Saudi-Arabien, die Türkei und eben auch Israel. Und an diesem Punkt kommt es schon zu Missverständnissen. Denn jetzt kommen wir zu den Entwicklungen der letzten Tage – und was sie bedeuten.

Hamas, Netanjahu, Haftbefehle – Viele Medien machen FEhler!

Am Montag hat IStGH-Chefankläger Karim A. A. Khan Haftbefehle für drei führende Köpfe der islamistischen Terrororganisation Hamas sowie für den israelischen Premier Netanjahu und seinen Verteidigungsminister Galant beantragt. Daraufhin kann jetzt aber erst einmal noch gar niemand verhaftet werden. Denn zunächst muss die sogenannte Vorverfahrenskammer den Antrag von Khan überprüfen und entscheiden, ob er begründet genug ist und ob die Festnahme der Personen notwendig erscheint.

Anders, als es einige deutsche Medien wie die Berliner Zeitung und der stern anfangs titelten, ist also weder gegen Netanyahu, noch gegen Galant oder die Hamas-Chefs bisher ein Haftbefehl erlassen worden. Die Artikel selbst sind beide ordnungsgemäß korrigiert worden, die dazugehörigen Tweets sind zum Zeitpunkt dieses Faktenchecks jedoch noch unverändert und falsch online und tragen weiter zu Desinformation bei. Das ist fahrlässig.

Auch Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty Deutschland verbreiten die Botschaft falsch oder zumindest irreführend.

Die Frage, ob wirklich ein Haftbefehl erlassen wird, ist also Stand heute (21.05.2024) noch gar nicht geklärt. Viele bringen es – möglicherweise auch aufrichtig unabsichtlich – durcheinander und sorgen so für Verwirrung in dieser ohnehin aufgeheizten Debatte.

Darf der Chefankläger das?

Einige fragen sich wahrscheinlich jetzt berechtigterweise: Wenn Israel gar nicht Mitglied des IStGH ist, wie soll dieser dann überhaupt über Netanyahu oder Galant urteilen können?

Grundsätzlich kann der IStGH das tatsächlich, denn er ist nicht nur verantwortlich für Staatsangehörige der Mitgliedstaaten, sondern auch für (mögliche) Verbrechen, die auf dem Territorium von Mitgliedstaaten stattfanden. Die möglichen Kriegsverbrechen durch die israelische Armee (für die Netanjahu und Galant rechtlich verantwortlich sind) gegen die Zivilbevölkerung im Gazastreifen, die Chefankläger Khan als Begründung für die Beantragung der Haftbefehle nennt, sind ja auf dem Territorium von Palästina geschehen, einem Mitglied des IStGH. Die Verantwortlichen dafür können also auch dann vor den IStGH kommen, wenn sie Staatsangehörige von Nicht-Mitgliedstaaten sind.

Das ist auch der Grund, warum andere Kriegsverbrecher wie der syrische Präsident Baschar al-Assad aktuell nicht verfolgt werden: Dessen Verbrechen fanden auf syrischem Staatsgebiet statt und Syrien ist kein Mitglied des Gerichtshofs. Eine Verfolgung wäre dennoch möglich, wenn der UN-Sicherheitsrat dem zustimmt. Das ist wegen der Veto-Macht Russlands in dem Gremium aber extrem unwahrscheinlich.

Für Palästina ist diese Frage aus Sicht der IStGH weniger kompliziert – was jedoch nicht heißt, dass sie auch tatsächlich einfacher ist.

Praktische Umsetzung kompliziert bis unmöglich

Denn letztlich ist ja auch die Frage, auf welchem Territorium die möglichen Kriegsverbrechen stattgefunden haben, extrem politisch. Ob Palästina nun ein eigener Staat ist oder nicht – um genau diese Frage geht es ja in diesem Konflikt nun schon seit 75 Jahren. Die Professorin für internationales Strafrecht Stefanie Bock schreibt dazu bei verfassungsblog.de, dass der IStGH selbst dazu nur eine Notlösung gefunden hat:

[Die IStGH-Vorverfahrenskammer] ließ in ihrer Entscheidung aus dem Jahr 2021 die allgemeine Frage nach der Staatlichkeit Palästinas offen und beschränkte sich auf die Feststellung, dass Palästina mit erfolgreicher Ratifizierung des IStGH-Statuts in den Kreis der Vertragsstaaten aufgenommen worden ist und damit jedenfalls in diesem Kontext wie ein Staat zu behandeln sei.

Prof. Dr. Stefanie Bock bei verfassungsblog.de

Das heißt, aus Sicht des IStGH werden mögliche Verhandlungen zumindest nicht an dieser Frage scheitern. Kompliziert wird es allerdings weiterhin bleiben, selbst wenn Netanjahu und Galant verurteilt werden sollten. Denn der IStGH kann seine Urteile selbst nicht durchsetzen – er ist auf Kooperation der Staaten angewiesen. Dass Israel Netanjahu ausliefern wird, obwohl es den IStGH nicht anerkennt und auch die Argumentation ablehnt, dass Palästina im Kontext des IStGH ein eigener Staat sei, ist schon sehr unwahrscheinlich. Auch die Terroristen von der Hamas werden sich wahrscheinlich eher nicht selbst ausliefern.

Mögliche Konsequenzen auch für Deutschland

Für Deutschland und die anderen EU-Staaten könnte das übrigens trotzdem Konsequenzen haben. Wenn der IStGH für Netanyahu und Galant einen Haftbefehl ausstellen, dann muss auch Deutschland die beiden ausliefern, sobald sie deutschen Boden betreten. Es gibt sogar ein Gesetz über die Zusammenarbeit mit dem IStGH. Welches also die deutsche Exekutive gesetzlich verpflichtet, den Entscheidungen des IStGH Folge zu leisten. So argumentierte auch Justizminister Marco Buschmann (FDP), nachdem der IStGH einen Haftbefehl gegen Wladimir Putin ausgestellt hatte.

Sollte der IStGH nun ähnlich über den israelischen Präsidenten urteilen, wäre es für die Bundesregierung schwierig und rechtswidrig, nicht dasselbe Maß bei Netanyahu anzulegen – auch, wenn es aus diplomatischer Sicht natürlich ein krasser Affront gegen Israel wäre. Deutschland könnte sich darüber hinaus noch auf Art. 19 des Römischen Statuts berufen und die Zuständigkeit des IStGH anfechten, da ja aus deutscher Sicht der Staat Palästina offiziell nicht existiert und somit auch keine Verbrechen in diesem Staat geahndet werden können. Das wäre allerdings dann der offene Bruch mit dem IStGH.

Für die Hamas-Terroristen selbst wären die Konsequenzen einer Verurteilung weit weniger gravierend. Die Staaten, in denen sie sich regelmäßig aufhalten, wie Iran oder Katar, sind keine Mitgliedsstaaten des Gerichtshofs. Und die zivile Führung unter Palästinenserpräsident Abbas hat aktuell auch keine Kontrolle über den Gaza-Streifen, in dem die Hamas regiert. Die Gefahr, dass sie ausgeliefert werden, ist also sehr gering.

Fazit

Es ist in dieser hochemotionalen Stimmung zum Thema Nahostkonflikt immer wieder wichtig, einmal tief durchzuatmen und genau zu überlegen, was gerade die Lage ist. Der Chefankläger des IStGH hat also erstmal einen Haftbefehl gegen Netanjahu, Galant und Hamas-Führer beantragt. Das bedeutet noch nicht, dass diese Leute jetzt verhaftet werden oder als verurteilt gelten. Es bedeutet genauso wenig, dass sie aus moralischer Sicht damit unschuldig sind.

Leider sind viele Menschen bei diesem Thema schon derart tief dem schwarz-weiß-Denken verfallen, dass ein differenzierter Umgang mit diesem Gerichtsverfahren wie mit dem gesamten Nahostkonflikt kaum stattfindet. Deswegen hier noch einmal der dringende Appell, unabhängig davon, was beim IStGH herauskommt: Angriffe auf jüdische Studierende oder Journalist:innen am Rande von pro-Palästina-Demos sind absolut kein legitimes Mittel, seine Emotionen zu diesem Thema herauszulassen. Sie helfen weder den leidenden Menschen im Gaza-Streifen, noch sonst irgendwem auf der Welt. Leider beobachten wir seit dem 07. Oktober 2023 verstärkt genau solche Angriffe, die auch noch von manchen als legitimer Protest zumindest relativiert werden.

Wir als Zivilgesellschaft in Deutschland können den Nahostkonflikt nicht lösen. Was wir tun können, ist, Dinge kritisch zu hinterfragen, gerade dann, wenn sie gefühlt perfekt zu unserer Meinung passen. Wir sollten nicht aufhören, einander zuzuhören. Und gleichzeitig ganz klar bei Antisemitismus, Rassismus, Islamismus und sonstigen Hassideologien die Grenze zu ziehen. Und, immer wieder wichtig: Keine Demokratie ohne Fakten.

Artikelbild: Screenshots twitter.com; Canva