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Diese Ergotherapeutin klagt an: Wir sind systemrelevant, aber vom System vergessen!

von | Apr 2, 2020 | Aktuelles, Corona, Gastkommentar, Gesundheit

Systemrelevant und vom System vergessen!

Liebes Gesundheitssystem, wir müssen reden. Ich weiß, Du hast gerade mächtig viel zu tun. Corona fordert Dich über alle Maßen. Täglich tausende neue Infektionsfälle. Zig Todesopfer. Das schlaucht. Was Dir möglicherweise nicht bewusst ist: Es könnte auch einen Teil Deiner selbst coronabedingt tödlich treffen, wenn Du nicht schnell aktiv wirst: Die ambulanten Heilmittelpraxen.

Seit Jahrzehnten bin ich als Ergotherapeutin für Dich tätig. Ich gehöre somit zu den systemrelevanten Held*innen, die auch während der Corona-Krise weiterarbeiten, weil mein Tagwerk für ein funktionierendes Gemeinwesen unerlässlich ist. Mein Job ist es, Arbeitsfähigkeit zu erhalten oder auch überhaupt erst wieder herzustellen und Pflegebedürftigkeit zu verhindern oder zu vermindern. Dass Menschen sich beispielsweise nach einem Schlaganfall oder einer Gelenkersatzoperation wieder selbst versorgen können, liegt in der Regel daran, dass eine Ergotherapeutin oder ein Ergotherapeut genau dies mit ihnen geübt hat.

Wir helfen Kindern auf den richtigen Weg, trainieren Wahrnehmungsverarbeitung und Verhaltenssteuerung, damit sie ebenfalls ihren Teil zur Gemeinschaft beitragen können. Wir helfen auch Menschen, die sich eigentlich schon aufgegeben hatten, neuen Lebenssinn, Mut und Selbstständigkeit in sich selbst zu finden und ein aktiver Teil der Gesellschaft zu sein.

Ein toller Beruf.

Ich stehe voll und ganz dahinter, dass meine Arbeit auch und besonders in Krisenzeiten gebraucht wird, um Schaden vom Gemeinwesen abzuwenden. Und selbstverständlich stelle ich meine Arbeitskraft, wie von Dir verlangt, auch zum jetzigen Zeitpunkt zur Verfügung.

Während also Einkaufszentren schließen und Menschen dazu angehalten sind, auf Abstand zu gehen, zuhause zu bleiben, um die Infektionsrate niedrig zu halten, stehe ich voller Tatendrang in der Praxis und … warte. Auf die Patient*innen, die meine Arbeitskraft in Anspruch nehmen möchten. Die aber aus lauter Angst vor einer Infektion lieber zuhause bleiben.

Oder mich bitten, nicht zu ihnen nach Hause zu kommen. Auch wenn sie dann in Kauf nehmen, vermehrt unter Schmerzen und Bewegungseinschränkungen leiden zu müssen oder errungene Therapiefortschritte wieder dranzugeben. Pflegeheime verweigern uns den Zutritt, obwohl er uns gesetzlich eigentlich gewährt werden müsste. Die Realität ist also: Wir müssen und dürfen behandeln – aber man lässt uns nicht. 40-90 % aller Behandlungen fallen, je nach Klientel, aus.

40-90 % aller Behandlungen fallen aus

Finanzielle Hilfen sind geplant, aber zum jetzigen Zeitpunkt weiß niemand, ob die Ergotherapiepraxen davon überhaupt profitieren. Rücklagen gibt es, wenn überhaupt, nur in sehr geringem Ausmaß, weil Du uns Therapeut*innen seit jeher durch geringe Vergütungssätze sehr kurz hältst. Viele von uns sind derzeit sogar noch damit beschäftigt, Ausbildungskredite zurückzuzahlen. Denn während andere Branchen während der Lehre bereits Geld verdienen, zahlen wir dafür. Und lassen uns später mit einem geringen Gehalt abspeisen. Das klingt unfair? Ist es auch.

Dass wir in irgendeiner Weise für Dich wichtig wären, und zwar so wichtig, dass Du auch jetzt nicht auf uns verzichten kannst, haben wir bislang nicht wirklich gespürt. Im Gegenteil: Jeder nur denkbare bürokratische Fehler, ob von uns selbst verursacht oder nicht, hat dazu geführt, dass Du uns für erbrachte Arbeit einfach mal nicht bezahlt hast. Ein Kreuzchen auf einer Verordnung falsch, eine Formulierung in einem vom Katalog abweichenden Wortlaut, eine Behandlungsfrist um einen Tag überschritten: Zack, Vergütung durch die Kasse gekürzt.

Dass wir im zentralen Desinfektions- und Schutzkleidungsverteiler nicht vorkommen, Läden und Onlineshops nach Handschuhen und Co. durchforsten, Behelfsmasken selbst nähen – geschenkt. Das schaffen wir dann auch noch. Schön ist das nicht, und es unterstreicht auch nicht gerade unsere Wichtigkeit für das System. Aber gut, wir wissen uns erst mal zu helfen.

Applaus allein sicher nicht unsere Existenzen

Wichtiger wäre es allerdings, Du würdest genau jetzt und sehr unbürokratisch einen finanziellen Rettungsschirm aufspannen, der seinen Namen auch wirklich verdient hat, um sicherzustellen, dass es uns Heilmittelpraxen auch in einem halben Jahr noch gibt. Schulterklopfen und das Wissen, zum ganz wichtigen unverzichtbaren Teil der Gesellschaft zu gehören, ist toll. Aber das reicht nicht. Auch wir müssen Miete zahlen, heizen und Kinder füttern und kleiden.

Und eins ist sicher: Du wirst uns brauchen. Rehakliniken schicken Patient*innen frühzeitig nach Hause, um Betten für Coronapatient*innen frei zu bekommen. Diese Rehapatient*innen werden ambulant versorgt werden müssen. Durch uns. Wenn es uns dann noch gibt. It’s up to you, Gesundheitssystem.

Hilf uns, das hier zu überstehen. Kredite, die niemand zurückzahlen kann, sind nicht wirklich hilfreich. Außer für die Banken. Wir brauchen jetzt Einmalzahlungen, die unser Überleben sichern. Du hast das Geld, das eigentlich für die Therapien ausgegeben werden sollte, die nun durch Corona nicht stattfinden, ja bei Dir liegen.

Und wenn das alles vorbei ist, dann müssen wir dringend noch mal über unsere Vergütungssätze sprechen. Damit junge Leute diese Arbeit nicht nur toll und sinnvoll finden, sondern sich auch dafür entscheiden, selbst Ergotherapeut*in werden zu wollen, weil man davon leben kann. Und damit wir selbst dafür sorgen können, dass uns die nächste Krise nicht wieder so von den Füßen haut wie diese hier.



Text: Rebecca Löwenkamp. Artikelbild: pixabay.com, CC0