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Politik dechiffriert Teil 2: „Wir sind das Volk“ und die Geschichte dahinter

von | Okt 7, 2019 | Analyse, Kolumnen, Politik dechiffriert

Ist „Wir sind das Volk“ noch erlaubt?

Woran denkt man im Jahr 2019, wenn man „Wir sind das Volk!“ hört oder liest? Denkt man tatsächlich in erster Linie noch an 1989 und die Demonstrationen, die zur Wiedervereinigung führten? Viele Leute haben mittlerweile tatsächlich ein anderes Bild vor Augen: PEGIDA-Demos, wütend gröhlende AfD-Anhänger und AfD-Politiker.

Der Ruf „Wir sind das Volk“, 25 Jahre lang als DER Ruf nach Einigkeit und Recht und Freiheit verstanden, wird auf einmal mit einer rechtspopulistischen, fremdenfeindlichen Partei assoziiert.

Wie konnte das geschehen?



Die Geschichte von „Wir sind das Volk“

Werfen wir zuerst einen Rückblick in die Geschichte:

Auf den Ausspruch „Wir sind das Volk“ gibt es natürlich kein Patent oder Urheberrecht. Das erste Mal bedeutende Erwähnung fand er 1835 in einem Drama über die Französische Revolution namens „Dantons Tod“. Der Autor Georg Büchner lässt einen Bürger ausrufen:

Erster Bürger.
Wir sind das Volk und wir wollen, daß kein Gesetz sei, ergo ist dieser Wille das Gesetz, ergo im Namen des Gesetzes gibts kein Gesetz mehr, ergo totgeschlagen!

zitiert nach Wikipedia

Schon damals hatte der Ausspruch also einen revolutionären Hintergrund.

Auch in anderen revolutionären Zeiten wurde der Slogan verwendet, ebenso wie von Parteien, die einen revolutionären Zeitgeist für sich beanspruchten. Beispielhaft dafür stehen die 1848er Revolution aber auch die Nationalsozialisten mit u.a. dem Philosophen Martin Heidegger (siehe hier).

„Wir sind das Volk“ – 1989/90

Auch wie genau es zu dem Entstehen von „Wir sind das Volk“ im Jahre 1989 kam ist nicht ganz klar. Vermutlich begann es am 2. Oktober 1989. SPIEGEL-Reporter und Zeitzeuge Holger Dambeck berichtet hier von seinen Erlebnissen an diesem Tag. Es waren die ersten richtig großen Montagsdemonstrationen mit mehr als 10.000 Teilnehmern.

Die Demonstranten waren zuvor vom DDR-Regime als Unruhestifter und damit extreme Randgruppe stigmatisiert worden. Das wollten sie sich nicht gefallen lassen, woraus der Sprechchor „Wir sind keine Rowdies – wir sind das Volk!“ entstand (siehe hier). Zusammen mit „Wir sind ein Volk“ wurde es zum Slogan der friedlichen Revolution.

Die Verwendung von „Wir sind das Volk“ ab PEGIDA

Dass es nicht bei dieser friedlichen, durchweg positiven Konnotation blieb, ist die Schuld des fremdenfeindlichen „PEGIDA“-Bündnisses. Seit Ende des Jahres 2014 veranstalteten die Gründer um den vorbestraften Lutz Bachmann „Spaziergänge“, welche eigentlich fremdenfeindlich-rassistische Demonstrationen waren, in Dresden. Die Radikalisierung fand besonders 2015 statt, zur Zeit der angeblichen „Flüchtlingskrise“. Dies stellte auch die zweite und letzte Spitze der Aufmerksamkeit dar. Momentan sind pro Demonstration wohl noch um die 1.000 Demonstranten anwesend (siehe hier), Pegida selbst ist bedeutungslos.

Doch der Ruf „Wir sind das Volk“ wurde von Pegida in 2014/15 stark in den Dreck gezogen. Schon zu Beginn der ersten Demonstrationen wurde er bewusst eingesetzt um eine historisch im positiven Sinne besetzte Stimmung zu erzeugen. Die revolutionäre Tendenz sollte von Anfang an hervorstechen. Doch Pegida wollte sich damit auch die Deutungshoheit über diesen historisch bedeutungsvollen Satz krallen. Was sie zu einem gewissen Teil geschafft haben.

„Wir sind das Volk“ – was bedeutet das?

Von 1989 war man sich 25 Jahre lang einig, was die Bedeutung ist. Im Zentrum stehen dabei die Begriffe „Wir“ und „Volk“.

Das starke „Wir“-Gefühl war dabei nötig, um dem scheinbar übermächtigen Staatsapparat der SED etwas entgegenzusetzen. Einzelne Protestanten wären schnell diskreditiert, stigmatisiert und eingesperrt worden. Erst, als sich zeigte, dass es eine große Bewegung ist, die da auf die Straße geht, hatten diese auch ohne Waffen genug Macht. Das Gewaltmonopol half dem Staat nichts mehr. Die Legitimation der DDR als Vollender der Revolution und Vertreter der Arbeiter und Bauern wäre endgültig zerstört, wenn man den Protest blutig niedergeschlagen hätte.

Der Begriff „Volk“ kommt einerseits aus dem oben genannten Zusammenhang. Die Demonstranten beanspruchen für sich, dass sie im Namen des Volks sprechen. Was das SED-Regime vor ein Legitimationsproblem stellt: Entweder sie lassen dies zu und erkennen damit die Meinung der Demonstranten als richtig an. Oder sie unterdrücken die Demonstranten, was aber auch ein Schuss in den Ofen wäre. Dann hätten sie ja „Das Volk“, das sie eigentlich vertreten sollten, verraten.

Andererseits stammt es vermutlich auch aus dem Kontext des etwas unbekannteren „Wir sind EIN Volk“. Dieser Spruch drückte mit Fortschreiten der Proteste den Wunsch nach Einheit aus. Mit „Volk“ waren „Wir Deutschen“ gemeint. Es ist klar: Auch wenn die Systeme sich unterscheiden, im Herzen blieben die Deutschen eine Einheit. Viele hatten Verwandte oder Freunde im Westen und wollten sich nicht einfach sagen lassen, dass diese jetzt „der Feind“ seien.

Insgesamt also eine positive Botschaft.

Übernahme und Umdeutung

Pegida wollte natürlich auch dieses „Wir“-Gefühl und die Legitimation als „Vertreter des Volks“ haben.
Aber: Sie drehten die Bedeutung außerdem noch um und nutzten eine mögliche Kehrseite der positiven Botschaft aus. Mit „Wir“ entsteht nämlich automatisch ein „Die Anderen“. Man kann sich abgrenzen. Und diese Abgrenzung nutzt Pegida für ihre rassistische Propaganda aus. „Wir“, das sind die Deutschen oder zumindest Europäer. „Die“, das sind Flüchtlinge und Muslime. Fronten entstehen, Hass wird entladen.

Dennoch fällt es anfangs schwer, sich gegen diese Erzeugung von Feindbildern zu stellen. Denn Pegida haben ein Totschlagargument auf ihrer Seite: Die Revolution 89. Wenn man die „Wir sind das Volk!“ schreiende Schar kritisiert, kommt man schnell in die moralische Zwickmühle, damit ja irgendwie auch ungewollt gegen diesen Geist von 89 zu sein.
Ein perfider Trick, der sich allerdings ins Lächerliche zog. Das geschah spätestens in dem Moment, als nur noch einzelne bzw. einige wenige diese Parole grölen. Dass man einer handvoll Extremisten abnimmt, für „Das Volk“ zu sprechen, ist eher unwahrscheinlich. Eine Selbstoffenbarung als Anhänger „völkischer“ Bewegungen ist da schon wahrscheinlicher.

Was Pegida aber erreicht hat, Bedeutungslosigkeit hin oder her: „Wir sind das Volk“ wurde negativ konnotiert. Der einstige Ruf nach Einigkeit und Recht und Freiheit hat den faden Beigeschmack von etlichen Demonstrationen gegen diese 89 erkämpften Werte.



Fazit – Was nun?

Die 89er-Bewegung hat sich am „Wir sind das Volk“ aufgebaut, es verband die Demonstranten wie ein Codewort. Es bestärkte sie im Glauben an Demokratie, Einheit und Freiheit. Pegida hingegen verkehrte die Bedeutung des Slogans ins Gegenteil. Sie missbrauchten die fast schon legendären Worte für Abgrenzung, Diskriminierung und Rassismus. Angela Merkel fasste es in ihrer Neujahrsansprache 2015 ganz treffend zusammen:

Heute rufen manche montags wieder „Wir sind das Volk“. Aber tatsächlich meinen Sie: Ihr gehört nicht dazu – wegen Eurer Hautfarbe oder Eurer Religion.

zitiert nach bundesregierung.de

Und wie sieht es jetzt aus?

Man darf sich nicht unterkriegen lassen. Die wahre Bedeutung von „Wir sind das Volk“ muss hochgehalten werden. Die Menschen müssen immer wieder daran erinnert werden, welche Werte wirklich zählen: Offenheit, Freiheit, Toleranz, Demokratie, Menschenrechte. Pegida steht gegen all diese Werte. Doch von einer schreienden, aber minimalen Minderheit dürfen wir uns keine Deutungshoheit gefallen lassen. Der Geist von 89 darf nicht missbraucht werden.

Ein lesenswerter Artikel zum Abschluss: In diesem Artikel der taz geht es um den „Weihnachtsgruß von Neunundachtzigern“. Demonstranten von 89 erklären dabei, wie und warum Pegida „ihren“ Ruf nach Freiheit missbraucht. Nehmt euch die Zeit!

Hier geht es noch zum ersten Artikel der Serie:

Politik dechiffriert Teil 1: Was hinter „Mut zur Wahrheit“ wirklich steckt

Artikelbild: pixabay.com, CC0