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Euer Ost-Bashing ist scheiße und kontraproduktiv

von | Okt 30, 2019 | Aktuelles, Hintergrund, Kommentar, Politik

Lasst doch endlich diesen Scheiß!

Hört endlich auf, nach Wahlen im Osten die Mauer wieder aufbauen zu wollen! Was soll denn das? Was habe ich euch getan, dass ich wieder hinter eine Mauer soll? Ja, die Rechnung, dass 76% die AfD nicht gewählt haben, wird angesichts des überwältigen Erfolges eines Faschisten mittlerweile nur noch müde belächelt. Dann formuliere ich das mal um: 76% haben es nicht verdient, wieder eingesperrt, gebrochen, abgehört oder unterdrückt zu werden. Denn das folgt aus dieser dummen Forderung, die Mauer wieder aufzubauen.  Aber nicht nur das: Ihr würdet diese 76% mit dem Kampf gegen Rechtsextremismus im Stich lassen!

Auf der anderen Seite drückt der Wunsch nach der Mauer die Hilflosigkeit in der Erklärung aus. Und was haben wir nicht schon alles gelesen? Der Bus kommt nicht ins Dorf, die Straßen sind kaputt, die Treuhand hat alles ruiniert, ein großer Teil ist einfach rechtsextrem, die Alten wählen AfD, die Jungen wählen AfD, ein System hat das andere geschluckt usw. Das ist alles irgendwo richtig. Aber immer dann, wenn man glaubt, man hat es verstanden, kommt ein Höcke um die Ecke und haut dir die Erklärungsansätze um die Ohren. Wie z.B. dass nur die Alten die AfD wählen. Im Gegenteil. Die haben uns in Thüringen den Arsch gerettet.



Wir brauchen andere Erklärungsmuster

Was ich sagen will: Wir werden uns andere Erklärungsansätze überlegen müssen als Alter, Herkunft oder Bildungsgrad. In den Kommentarspalten bei Facebook machen wir schon folgendes: Da wir nicht wissen, wer genau hinter dem Katzenbild steckt, schauen wir auf den Inhalt des Kommentars. Daraus ergibt sich eine Kategorisierung nach Trollen, Infokriegern, Stillen Mitlesern, Extremisten, politisch motivierten Gruppen, Frustrierten usw. Wir beobachten deren Motive und Methoden leiten daraus die Interaktion mit ihnen ab. Was wäre, wenn wir das auch auf unsere Gesellschaft übertragen? Genau das tut Laura-Kristine Krause mit ihrer Organisation More in Common in ihrer Studie „Die andere deutsche Teilung“.

Sie teilten die Deutschen anhand von Interviews in 6 Kategorien ein: Die Involvierten, die Etablieren, die Offenen, die Wütenden, die Pragmatischen und die Enttäuschten. Jeweils zwei Kategorien bilden dann die Dreiteilung unserer Gesellschaft: Die Stabilisatoren (Involvierte und Etablierte), die Pole (Wütende und Offene) und das unsichtbare Drittel (Pragmatische und Enttäuschte). Die Merkmale, die eine Kategorie beschreiben, sind dann unabhängig von der Frage der Herkunft oder des Alters. Ich finde, das ist eine sehr plausible und gerade zu aufdrängende Herangehensweise, um eine Gesellschaft zu begreifen und Handlungen abzuleiten.

 

Sechs etwa gleich große Kategorien

Das spannende, so Krause:

„Das unsichtbare Drittel stellt die Hälfte aller Nichtwähler in Deutschland. Eine Mehrheit von ihnen sagt, dass ihnen die Kategorien links und rechts nicht helfen, zu verstehen, was politisch passiert. Sie sind nach den Wütenden am anfälligsten dafür, AfD zu wählen. Und vor allem die Jungen sind hier sehr stark vertreten. Es heißt zurzeit oft, die Jugend sei links und progressiv. Aber das ist ein Trugschluss.“

Die Bestätigung dieser These haben wir erlebt: Die AfD hat die meisten Nichtwähler in Sachsen, Thüringen und Brandenburg aktiviert, unabhängig von der Altersgruppe. Also: Wir müssen die Gesellschaft neu denken, so der Ansatz von Laura-Kristine Krause und ihrem Team. Kein Ost oder West, kein alt oder jung, dumm oder klug. Die Merkmale der 6 Kategorien sind annähernd gleich verteilt.

Wir brauchen neue Erklärungsmuster, nicht falsche Klischees

Aber was heißt das alles nun für die vergangenen Wahlen in Thüringen, Brandenburg und Sachsen? Oder wie Krause es formuliert: „Wie kriegen wir es eigentlich hin, dass der Laden zusammengehalten wird?“ Ich möchte jetzt nicht einfach, den Zeit-Text weiter zitieren. Der ist so gut, dass er für sich steht, und jede_r ist eingeladen, ihn mehrmals zu lesen. Um Menschen anzusprechen bzw. ihr Wahlverhalten zu erklären, müssen wir wohl erst noch Methoden und Interaktionen finden.

Was aber vermutlich nicht mehr funktionieren wird, ist, auf Alter, Herkunft, Bildung oder andere Merkmale abzuzielen. Damit werden wir keine Erfolge haben. Wir müssen eine Etage höher und hinter die jeweilige Stirn gelangen. Wir müssen den Kern der Menschen extrahieren und methodisch dort ansetzen. Die AfD hat das verstanden und pointierte den Wahlkampf im Osten nicht (oder weniger) mit rassistischen Narrativen. Vielmehr zielte sie auf Wendeerfahrungen ab. Dass im Osten Rechtsextremismus und Rassismus viele viele Jahre unter dem Radar liefen und verharmlost wurden, spielt dann noch zusätzlich in die Karten. Die Erklärung, DASS Rechtsextreme und Faschisten gewählt wurden, ist sicher ein Mix aus allen Erklärungen, und es ist schlimm, dass diese Politiker offensichtlich für manche das kleinere Übel darstellen.

Ihr verbreitet eine Karikatur des Ostens

Es ist an den Menschen selbst, sich ihren Osten nicht narrativ zerstören zu lassen. Eine Möglichkeit ist es, Erzählungen und Narrative zu kreieren und zu etablieren. Der Osten wird oft noch wie ein Comic dargestellt, wie eine Komödie. Wie „Sonnenalle“ oder „Goodbye Lenin“. Dabei hat die DDR Menschen getötet und für immer gebrochen. Die Wendezeit war für viele der damaligen Jugendlichen traumatisch und geprägt von Übergriffen durch Neo-Nazis. Am Baggersee, in der Wohngebiet, auf Partys. Immer, wenn ich das jemandem erzähle, werden die Augen groß.

Es wird Zeit, sich das anzuhören. Es wird Zeit, dass viele Ostdeutsche ihre Geschichten erzählen und damit ihre Vor-, Wende und Nachwendezeit verarbeiten. Es wird Zeit, mit dem Jammern aufzuhören und selbstbewusst von ihren Erfahrungen zu erzählen, andere zu begeistern und diese Geschichtsklitterung und das Rückwärtsgewandte abzustreifen. Es wird Zeit, dass die ostdeutsche Geschichte Teil der gesamtdeutschen Geschichte wird. Die ostdeutsche Geschichte beginnt nicht erst 1990. Alles davor ist auch Teil der gesamtdeutschen Geschichte. Kurzes Gedankenexperiment: Seht ihr die RAF als Teil der westdeutschen oder der gesamtdeutschen Geschichte?

Wir brauchen weniger sprachliche Teilung

Eine Möglichkeit (und auch Krauses Kategorien übergreifend) ein neues Bild des Ostens zu etablieren, ist die Plattform „Wir sind der Osten„. Es ist nur ein Ansatz, aber es ist ein Ansatz. Und bevor nun alle auf den Osten zeigen und „ganz humorvoll“ eine Mauer bauen wollen: Fasst euch an die eigene Nase! Ihr seid dann auch nicht besser als diejenigen, die um Europa eine Mauer ziehen wollen. Ihr seid gemeinsam mit dem „Ossi“ Teil dieser Gesellschaft. Krause formuliert das so: „Unsere sechs gesellschaftlichen Typen umfassen allesamt jeweils zwischen 14 und 19 Prozent. Das macht mich erst einmal bescheidener, weil ich anerkennen muss, dass die Menschen, die exakt so auf Gesellschaft blicken wie ich, nicht in der Mehrheit sind.“

Artikelbild: fizkes, shutterstock.com