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Ikonen der Querdenker-Szene sollen bei Tagung an Hochschule in Witten sprechen

von | Okt 5, 2022 | Aktuelles

Von Matthias Meisner

So wird False Balance inszeniert, falsche Ausgewogenheit: Am 21. und 22. Oktober soll an der anthroposophisch geprägten Privatuniversität Witten/Herdecke in Nordrhein-Westfalen eine Tagung über die Bühne gehen, die laut Programm die „Perspektivenvielfalt in Wissenschaft und Gesellschaft“ in der Corona-Debatte widerspiegeln soll. Die dann aber unter dem Motto „Die Würde des Menschen – (un)antastbar?“ voraussichtlich vor allem zu einer Bühne wird für Impfskeptiker:innen und Corona-Verharmloser:innen wird, unter ihnen beispielsweise der Finanzwissenschaftler Stefan Homburg aus Hannover und die Bonner Politikwissenschaftlerin Ulrike Guérot.

Der Plan: Unter der Schirmherrschaft des Gründungspräsidenten der Universität, Konrad Schily – gemeinsam mit seinem älteren Bruder, dem bekannten früheren Politiker Otto, ist er in einem anthroposophischen Haushalt aufgewachsen (Quelle) – soll bei „hochkarätigen Vorträgen, lebendigen Seminaren und einer spannenden Podiumsdiskussion“ beispielsweise gestritten werden, wo die Würde des Menschen bedroht ist und über die Frage gesprochen werden, ob wir uns in Richtung einer zunehmenden Kontrolle des öffentlichen Lebens bewegen. Dazu sollte laut dem im Internet veröffentlichten vorläufigen Programm der Rechtswissenschaftler Stefan Huster, Mitglied der Nationalen Akademie der Wissenschaften Leopoldina und Chef des im Sommer aufgelösten Corona-Sachverständigenrates (mehr dazu), mit Homburg auf einem Podium sitzen. Zum Abschluss der Tagung will dann Guérot mit den anwesenden Referent:innen über die „Aufrechterhaltung demokratischer Lebensräume“ diskutieren.

Huster sagte Teilnahme ab: Homburg pflege nur sein „wirres Weltbild“

Doch so wird es nicht kommen. Denn Huster sagte mit einer geharnischten E-Mail an den Leiter des Instituts für Medizinrecht der Hochschule, Peter Gaidzik, seine Teilnahme am Wochenende ab. Wegen Homburg. Wegen Guérot. Und überhaupt. Als er vor Wochen zunächst zugesagt hatte, wusste er nichts von den anderen eingeladenen Diskutant:innen. Nun sagt Huster dem Volksverpetzer: „Man kommt sich wie ein Feigenblatt vor. Das ist eine eingeschworene Truppe mit fester Meinung.“

Huster schrieb an Gaidzik: „Beim besten Willen: Mit Frau Guérot und Herrn Homburg werde ich nicht diskutieren. Das wertet völlige abwegige und polemische Positionen unnötig auf.“ Homburg pflege nur sein „wirres Weltbild“. Und: „Es ist mir schleierhaft, wie Sie auf die Idee kommen, diese Figuren einzuladen, die spätestens in der Pandemie völlig falsch abgebogen sind. (…) Erwarten Sie da irgendwelche ernsthaften Erkenntnisse???“

„Das ist […] einfach schlimmste verschwörungstheoretische Hetze“

Aber weil Gaidzik nicht lockerließ, legte auch Huster nach. Seine nächste E-Mail an den Wittener Wissenschaftler: „Ich gehe keiner Auseinandersetzung aus dem Weg, aber ich habe mir im Laufe des letzten Jahres so viel Quatsch und Verdächtigungen und üble Nachrede (vgl. den Tweet vom Homburg) anhören müssen, dass es reicht. Ich war und bin gegenüber vielen Corona-Maßnahmen und einem No/Zero-Covid-Rigorismus selbst kritisch (vgl. anhängende Texte aus der Frühzeit der Pandemie), aber mit diesem Querdenkertum, das unsere gesamte politische Ordnung diskreditiert, will ich nichts zu tun haben.“ Huster zitierte dann aus Guérots neuem Buch „Wer schweigt, stimmt zu“:

„Zuerst räumen wir auf, jeder in seinem Land. Wir überantworten die Verantwortlichen dem Internationalen Strafgerichtshof, sollte sich herausstellen, dass es nicht die Fledermaus war, sondern doch ein Labor, das uns das Virus beschert hat, wie der dänische Sonderbeauftragte der UNO kürzlich leakte. Wir bitten die USA, sich um Anthony Fauci und Bill Gates zu kümmern. Wir schließen die Weltgesundheitsorganisation WHO und durchforsten ihre finanziellen Verstrickungen mit der Pharmaindustrie. Wir lassen die dunklen Gestalten von Pfizer und Co nicht entkommen, wie wir damals, vor zehn Jahren, die Banker haben entkommen lassen. Wir setzen einen parlamentarischen Untersuchungsausschuss ein. Wir wählen einen neuen Kanzler, der wieder rote Linien kennt. Wir ernennen neue Verfassungsrichter, die wieder das Recht und die Freiheit verteidigen, anstatt uns zu sagen, dass Not kein Gebot kennt. Wir entlassen alle Mitglieder des Ethikrates, die permanent Ethik und Politik verwechselt und sich dem biopolitischen System angebiedert haben, anstatt Menschlichkeit und Würde zu verteidigen. (…)“

Zitiert von Huster aus „Wer schweigt, stimmt zu“

Huster schrieb dazu: „Das ist – mit Verlaub – einfach schlimmste verschwörungstheoretische Hetze. Soll sie ,zum Schweigen bringen und ,sich kümmern‘, um wen sie will – ich finde das auf keiner Ebene mehr diskussionswürdig. Wer diesen Leuten und Positionen Gehör und Publikum verschafft, übernimmt Mitverantwortung für schlimme politische Fehlentwicklungen und muss sich daher auch Kritik gefallen lassen.“

Nicht die einzige Absage

Selbstverständlich würde man jetzt gern wissen, wie die Organisator:innen der Tagung der Universität Witten/Herdecke über diese Absage Husters denken. Doch Gaidzik beantwortete die Fragen des Autors dieses Textes dazu nicht. Bekannt ist indes, dass Husters Absage nicht die einzige ist. Auch die im Programm angekündigte Heidelberger Wissenschaftlerin Beate Ditzen, die sich mit Berührungsforschung beschäftigt (Quelle), wird nicht nach Witten kommen – offiziell wegen „einer Terminkollision“ und weil sie den offenbar nur telefonisch vereinbarten Auftritt gar nicht in ihrem Kalender finde.

Dass an der Universität Witten/Herdecke eigenwillige Zirkel agieren, ist seit einiger Zeit bekannt. Dokumentiert hat das der auf das Thema Anthroposophie spezialisierte Journalist und Blogger Oliver Rautenberg (https://anthroposophie.blog). Er berichtete im Februar über eine Petition aus der Hochschule gegen eine Impfpflicht: „Akteure sind Verschwörungsideologen, anthroposophische ,Mediziner_innen‘ und Vertreter von #DieBasis“ [sic], schreibt er – und nennt „Die Basis“ eine „rechtsoffene Verschwörungsideologen-Partei“. Eine Analyse des Volksverpetzers zur neuen „Aluhut-Partei“ hier:

„für die pseudowissenschaftliche und auf Hellseherei basierende anthroposophische ,Medizin‘ „

Rautenberg sagt, die Privatuniversität stehe heute „für die pseudowissenschaftliche und auf Hellseherei basierende anthroposophische ,Medizin‘. Zweifelhafte Aktivitäten belegt er anhand einer ganzen Reihe von Wissenschaftler:innen: Esoteriker:innen, Gegner:innen der Corona-Schutzmaßnahmen, Verschwörungsideolog:innen, die an der Universität tätig sind.

Manche von ihnen tauchen auch im Tagungsprogramm „Die Würde des Menschen – (un)antastbar?“ auf. Etwa David Martin, Professor an der Fakultät für Gesundheit: Er ist Co-Autor der Studie „Corona bei Kindern“ („CoKi“), laut Rautenberg eine „anonyme Umfrage zu ,Masken-Gefahren‘ bei Kindern in Querdenker-Kreisen“. Oder der Sozialwissenschaftler Heiko Kleve, unter anderen neben Gaidzik Erstunterzeichner der erwähnten Petition gegen eine Impfpflicht. Rautenberg sagt, die Petition stecke „voller medizinischer Falschaussagen“. Kleve selbst polemisiere unter anderem unter Berufung auf Guérot immer wieder gegen Lockdowns und nenne die Coronamaßnahmen „unverhältnismäßig“.

Nicht die ersten Verschwörungsideologischen Gäste

Einige dieser Stränge haben eine lange Tradition: Im Oktober 2015 lud die Universität den Schweizer Verschwörungsideologen Daniele Ganser zu einem Vortrag ein, ein Auftritt des Verschwörungstheoretikers Ken Jebsen im selben Jahr wurde nach Protesten abgesagt. 2006 porträtierte der „Spiegel“ den Bochumer Arzt Dietrich Grönemeyer als „geschäftstüchtigen Medikus“ und „Professor Hokuspokus“. Das Magazin berichtete (Quelle), dass der Gründungspräsident der Privatuniversität, Konrad Schily, Grönemeyer 1982 an die damals junge Hochschule berufen habe. Und dies nicht wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen oder auf der Basis einer umfangreichen Habilitationsschrift. „Bei Grönemeyer reichte eine magere Sammlung von Publikationen.“

Als Veranstalter der Tagung zeichnet eine Gruppe von Angehörigen der Universität, die unter dem Titel „Das Ich im Wir – Corona und die eigene Existenz“ für Pluralität und Diskurs in der Coronakrise sorgen möchte. In den meisten der bisherigen Veranstaltungen ging es um Impfnebenwirkungen.

Thema daneben war auch die „angstschürende und irreführende Aufbereitung von Fakten“ zum Virus. Aber wohl nicht so, wie der Volksverpetzer das meinte, als er im Mai über die „Quatsch-,Studie‘“ des Berliner Charité-Professors Harald Matthes über vermeintliche Impfnebenwirkungen und ihre Resonanz in den Medien berichtete (mehr dazu). Ein Akteur, der das Tagungsprogramm am 21./22. Oktober abrundet: Matthes soll dort in einem Panel über „Wirkungen und Nebenwirkungen der Covid-Impfungen“ auftreten.

Gelten als Aushängeschilder der Querdenker-Szene

Eine Schlussbemerkung noch zu Homburg und Guérot: Beide gelten als Aushängeschilder in der Szene der Pandemieleugner:innen. Die Masche der beiden ist sehr ähnlich. Im Juni 2022 schrieb die FAZ über Guérot (Quelle), die „Ikone der Querdenkerszene“, sie sehe sich als Streiterin für die Meinungsfreiheit und werde von ihren Anhängern wegen dieser Ansage als Ikone verehrt. So rechtfertige sie selbst ihre Auftritte bei verschwörungsideologischen Portalen wie Apolut, Rubikon oder Punkt.Preradovic.

Im Mai 2020 schrieb der „Tagesspiegel“ über Homburg (Quelle), der Wissenschaftler beziehe sich auf seriöse Datenquellen. Homburg riss den einen Satz dazu aus dem Kontext und zitiert ihn bis heute im Hintergrundbild seines Twitter-Profils: „Homburg nennt solide Zahlen und zieht Schlüsse, die nur schwer zu widerlegen sind – und gerade das macht ihn so gefährlich.“ Vollständig zitiert ging es im „Tagesspiegel“ aber so weiter: Der Finanzwissenschaftler interpretiere seine Quellen so, dass sie ausschließlich seine Thesen stützen würden. „Er unterstellt Politik, Medien und Wissenschaft im nächsten Schritt, Panik zu verbreiten und die freie Meinungsäußerung zu unterdrücken.“

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