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Gab es wirklich 700 Sprachwissenschaftler gegen Gendern?

von | Jul 3, 2023 | Aktuelles

In einem seltsam widersprüchlichen Argument versucht WELT „700 Sprachwissenschaftler“ zu präsentieren, die sich gegen das Gendern aussprechen, unter anderem, weil das so elitär sei. Doch hinter der vermeintlich erdrückenden Menge an Doktortiteln verstecken sich einige Personen, die doch recht wenig Expertise als deutsche Sprachwissenschaftler:innen haben dürften, wie Romanist:innen, Lateinphilolog:innen, auch Deutschlehrer:innen sind auf der Liste. Ein Kampf mit vorgeblicher wissenschaftlicher, fachlicher Autorität, gegen eine missliebige Entwicklung.

Die Unterschriften-Listen

Da es offenbar keine größeren Probleme gibt, sammelt die Initiative „Linguistik vs. Gendern“ seit einiger Zeit Unterschriften von Menschen, die sich gegen das Verwenden von geschlechterneutraler Sprache in den öffentlich-rechtlichen Medien aussprechen. Dafür wurden zwei Listen ins Leben gerufen: Auf der ersten sollten sich Personen eintragen, die ein sprach- oder literaturwissenschaftliches Studium abgeschlossen haben. Diese erste Liste ist die angebliche „Expert:innen-Liste“, von der alle reden. Die zweite Liste ist für alle anderen Personen, unabhängig ihres Berufs oder Abschlusses. Auf der ersten Liste haben zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Artikels 835 Menschen unterschrieben, auf der zweiten Liste sogar 4012.

Auf den ersten Blick soll das beeindruckend und autoritär wirken. Laut WELT später „700 Experten, die entweder ein sprachwissenschaftliches oder ein literaturwissenschaftliches Studium absolviert haben“, die sich gesammelt gegen das Gendern im ÖRR aussprechen. Ein zweiter Blick lohnt sich aber wieder einmal.

Sind die wirklich alle echt?

Wenn man sich die erste Liste anschaut, fallen direkt etliche Professor:innen und Doktor:innen auf. Einige lassen sich auch durch eine einfache Google-Suche verifizieren, so zum Beispiel Prof. Dr. Dr. Horst M. Müller (Nr. 196) oder Prof. Dr. Dietz Bering (Nr. 572). Klingt also erstmal nach vielen schlauen Leuten, die gegen das Gendern sein müssten. Ein wenig lustig ist allerdings schon das paradoxe Framing, dass hier jede Menge „Sprachexperten“ als Kronzeugen dagegen halten sollen, dass das Gendern als „Jargon einer Elite“ wahrgenommen werde.

Wer ist sonst noch auf der Liste? Tja, ich. Also so halb. Denn tatsächlich macht es einem „Linguistik vs. Gendern“ ziemlich leicht, den eigenen Namen mit einem akademischen Titel zu verschönern. Da gibt es keine Nachfragen und keine Belege, die hochgeladen werden müssen, um einen bestimmten Titel oder wenigstens das abgeschlossene Studium zu beweisen. Nicht mal die eigene Identität muss bestätigt werden. Aber dazu komme ich gleich noch.

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Zeitweise hatten sich übrigens auch eine „PF Erika Mustermann“ [sic] oder ein „Prof. Dr. Weiß nicht Werichbin“ [sic] auf die Liste eingetragen. Die beiden Namen sind mittlerweile jedoch wieder gelöscht. Um zu schauen, ob es aber wirklich so einfach ist, einen Namen auf diese angebliche Expert:innen-Liste zu bekommen, hab ich das einfach selber mal versucht.

Eintragen kann sich jede:r. Gerne auch doppelt und dreifach

Ausgestattet mit einer falschen E-Mail-Adresse und einem lustigen Namen mit ausreichend Titeln (natürlich um seriös zu wirken), habe ich mich an das Unterzeichnungsformular gesetzt. Na ja und was soll ich sagen … Es hat keine zwei Minuten gedauert, da stand Frau Prof. Dr. Dr. Genderngut schon auf der Liste. Es wurden zuvor weder meine ausgedachten Abschlüsse in „Gendernistik“ und „Reden“ überprüft, noch meine erlogenen Titel hinterfragt. Erst einige Stunden später wurde Frau Genderngut wieder von der Expert:innen-Liste gelöscht. Ob das an meinem auffälligen Namen oder tatsächlich an einer stattgefundenen Überprüfung der akademischen Titel von Frau Genderngut lag, weiß ich natürlich nicht. Trotzdem ist es bedenklich, dass es der Name überhaupt auf die Liste geschafft hat.

Worauf ich hinaus will ist Folgendes: Offensichtlich kann sich jede:r ohne Überprüfung auf die Expert:innen-Liste schreiben. Man muss sich einfach nur ein paar Titel und einen angeblich belegten Studiengang ausdenken. Dementsprechend sollte auch angezweifelt werden, dass sich bisher über 800 reale Wissenschaftler:innen in die Liste eingetragen haben. Denn wer kann schon bei so vielen Namen den Überblick behalten, ob es diese Personen wirklich alle gibt? Ob weniger offensichtliche Fälschungen auch entdeckt werden?

Übrigens: Auch auf die zweite Liste kann man sich ohne Weiteres mit einer falschen E-Mail-Adresse eintragen. Wenn man will, auch doppelt und dreifach. Deshalb kann auch hier die Anzahl von angeblich mehr als 4000 Unterschriften angezweifelt werden.

Deutschlehrer als „Sprachwissenschaftler“?

Okay, aber auch wenn wir davon ausgehen, dass wirklich jede Person zumindest nach einer späteren Prüfung echt wäre, wer sind denn diese „700 Sprachwissenschafler“? Gehen wir also mal davon aus, das wären das alles verifizierte, real existierende Wissenschaftler:innen. Sind das denn auch wirklich alles Expert:innen für die deutsche Sprache?

Schauen wir uns doch einfach mal ein paar Namen aus der „Expert:innen-Liste“ an, die überall als Aufhänger genutzt wurde. Nr. 37 ist Professor:in für Altgriechisch. Nr. 65 ist Informatiker:in. Nr. 126 hat einen Doktortitel in Turkologie. Nr. 246 hat Romanistik studiert. Nr. 573 hat ein Chemie- und Romanistikdiplom. Nr. 685 hat Afrikanistik studiert. Auffällig: Darunter auch Lehrer:innen, die halt Deutsch unterrichten, oder Literaturwissenschaftler:innen. 259 ist Altphilologe in Latein und Griechisch.

Die Definition von „Sprachwissenschafler:in“ ist extrem weit gefasst. Literaturwissenschaftler:innen zu inkludieren ist schon weit gedehnt, aber wirklich jede:r, der nur im Entferntesten mal Kontakt mit Sprache hatte, wie Deutschlehrer:innen, ist dabei. Besonders absurd: Sprachwissenschaftler:innen oder Linguist:innen, ja – aber nicht der deutschen Sprache. Ich meine, versteht mich nicht falsch: Jemand, der zum Beispiel einen Abschluss in Romanistik, Anglistik oder Afrikanistik hat, hat natürlich sprachwissenschaftliches Studium absolviert. Aber diese Fächer sind für die deutsche Gender-Debatte – um die es mit dem Unterzeichnen der Liste ja geht – doch ziemlich irrelevant, oder?

Einen Romanisten implizit einen „Experten“ zum Gendern in der deutschen Sprache zu nennen, hinkt durchaus. Schließlich gehört Deutsch nicht mal zu den romanischen Sprachen; es ist eine germanische Sprache. Und deshalb muss hier noch einmal dringend unterstrichen werden: Sprachwissenschaftler:in ist nicht gleich Sprachwissenschaftler:in! Eine Dermatologin kann schließlich auch kein Herz operieren, nur weil sie auch Ärztin ist.

Und jetzt: Ja und?

Aber was soll mit diesen Listen überhaupt erreicht werden? Na ja, unter dem Deckmantel der Wissenschaft und vermeintlicher Autorität soll gegen ein bestimmtes Thema – in diesem Fall das Gendern – gehetzt werden. Ähnlich hatte es der Axel-Springer-Verlag ja auch schon mit ihren „100 Lungenärzt:innen“ versucht, die sich gegen Schadstoffwerte ausgesprochen hatten. Hier noch einmal unser Beitrag zu dem Thema:

Und jetzt hat es die WELT einfach nochmal gemacht, nur eben mit angeblichen Sprachexpert:innen. Kann ja niemand damit rechnen, dass Leute wirklich wissen wollen, welche Expert:innen sich auf diese Liste eingetragen habe.

Auch wenn es also auf den ersten Blick eindeutig wirkt, sollte man nicht immer alles direkt glauben, was im Internet kursiert – besonders dann nicht, wenn es von der WELT kommt. Schließlich geht es nur in den wenigsten Fällen um eine sachliche und faire Debatte. Die wichtigere Frage: Wird überhaupt so viel in den Öffentlich-Rechtlichen gegendert? Und ist es wirklich so ein wichtiges Problem, dass man es gleich verbieten lassen will? Und ist mit einem Verbot zu reagieren, während viele dort mutmaßlich für eine „Freiheit der Sprache“ plädieren würden, wirklich ein konsistentes Argument?

Hier soll einfach mit allen Mitteln Aufmerksamkeit erzielt werden für einen identiätsstiftenden Kulturkampf. Dabei gibt es doch gerade viel größere und wichtigere Probleme als geschlechtergerechte Sprache. Die Klimakrise zum Beispiel. Denn dass im ÖRR gegendert wird, ist doch eine Seltenheit.

Über die Taktik, durch aufgeblasene Nachrichten Aufmerksamkeit zu erzielen, haben wir übrigens in der Vergangenheit schon berichtet:

Und letztendlich ist es auch reine Heuchelei: Gendern soll schlecht sein, weil es ein „Jargon einer Elite“ sei – sagt die Elite? Mit einer vermeintlich erdrückenden Menge an „Expert:innen“ soll Autorität vorgegaukelt werden. Gendern ist schlecht, weil die „Elite“ das sage? Hier wird ein Narrativ bedient, das sich im Grunde genommen einfach selbst widerspricht.

Wirklich wissenschaftliche Fakten übers Gendern

Unabhängig von den eigentlichen Argumenten Für oder Wider das Gendern – die eigentliche Debatte, die dabei völlig untergeht – verstärkt es wieder ein Narrativ, das letztlich nur autoritäre Reflexe von Verbot und Unterdrückung fördert – angeblich um genau gegen so etwas vorzugehen. Im Namen von Sprechfreiheit will man vorschreiben, wie andere zu sprechen haben. Dazu haben wir hier bereits geschrieben:

Im Zweiten zeigen wir, dass sich sogar Markus Söder fürs Gendern ausgesprochen hat! Na, wenn das nicht überzeugend ist.

Artikelbild: canva.com/screenshot welt.de