Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz sinnvoll?
von Anastasia Tikhomirova
Vorgestern wurde bekannt gegeben, dass die gesamte AfD, deren Landesverbände in Thüringen, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Brandenburg bereits als rechtsextremistische Verdachtsfälle eingestuft wurden, nun für den Verfassungsschutz als ein solcher rechtsextremer Verdachtsfall gilt (Quelle). Bislang war die Partei seit 2019 ein Prüffall – was bedeutet, dass alle öffentlich zugänglichen Quellen auf rechtsextreme Einstellungen untersucht wurden. Die Einstufung zum Verdachtsfall erlaubt die konkretere, detailliertere und intensivere Beobachtung durch den Verfassungsschutz. Also mit nachrichtendienstlichen Mitteln und V-Leuten. Für die Mitglieder der AfD, welche im öffentlichen Bereich tätig sind, bedeutet dies zunächst, dass sie über einen Austritt nachdenken müssen, da sie zumindest dienstlich zur Neutralität verpflichtet sind. Und sich nicht extremistisch politisch betätigen dürfen.
Ansonsten könnte dies personalrechtliche Konsequenzen für sie bedeuten. Außerdem könnte die Beobachtung durch den Verfassungsschutz auch eine abschreckende Wirkung haben und die letzten gemäßigteren Wähler:innen vertreiben, die zwar konservative, nationalliberale und rechte Tendenzen unterstützen, jedoch nicht rechtsextrem sind. Dies könnte einen Stimmeneinbruch für die Partei im Superwahljahr bedeuten. Klingt erstmal gut. Die AfD spricht von einem Skandal und hat verkündet, rechtlich dagegen vorgehen zu wollen. Das rechtsextreme Lager der AfD wird sich jedoch umso mehr durch die Einstufung bestärkt fühlen und gemäßigte Kräfte umso mehr geschwächt werden. Eine notwendige Entscheidung?
Kein Zweifel an der Gesinnung der AfD
Das gesamte Neonazi-Netzwerk hinter der AfD: Verbindungen zu NSU, NPD & dem Lübcke-Mörder
Es besteht kein Zweifel an der rechtsextremistischen Einstellung der Alternative für Deutschland. Jedoch stellt sich die Frage, ob der Verfassungsschutz die richtige Institution ist, um diese zu beobachten. Zunächst einmal ist unklar, weshalb die Einstufung so lange auf sich warten lassen hat – die bevorstehenden Landtagswahlen und die Bundestagswahlen geben der AfD nun die Möglichkeit, die Entscheidung als politische, antidemokratische Instrumentalisierung des Verfassungsschutzes gegen die Partei zu diffamieren.
Außerdem hat die jahrelange Arbeit und Recherche unzähliger Journalist:innen, Wissenschaftler:innen, zivilgesellschaftlicher Akteur:innen und Antifaschist:innen bereits gezeigt, dass die AfD zu einem großen Teil rechtsextrem ist. Eine telekommunikative Überwachung ist zwar sinnvoll, jedoch nicht notwendig für diese Erkenntnis. Darüber hinaus ist das Gutachten des Verfassungsschutzes nicht öffentlich einsehbar. Ist somit intransparent und verhindert eine kritische Auseinandersetzung mit den Beschlüssen und Überwachungsmethoden und macht es sogar unmöglich, diese nachzuvollziehen.
Intransparenz mit Tradition
Diese Intransparenz hat schon lange Tradition – und damit auch die Verharmlosung und Vertuschung rechter Gewalt, das Ausbauen antidemokratischer Szenen sowie des eigenen Einflusses und die Ausspähung von Linken. Es ist nicht das erste Mal, dass der Verfassungsschutz eine Bundestagspartei beobachtet – 2006-2014 wurde die Linke durch den Verfassungsschutz beobachtet. Sogar Bodo Ramelow, der seinen Einstellungen nach eher als Sozialdemokrat einzuordnen ist. Insgesamt wurden 27 Bundestagsabgeordnete und 11 Landtagsabgeordnete über Jahre hinweg ausgespäht, darunter die Vizepräsidentin des Bundestages, darunter auch Petra Pau, die die Verfassungsschützer seit 1995 im Visier hatten (Quelle).
Ganz nach der Manier des Antikommunismus und der „Extremismusforschung“ (mehr dazu) geht es in erster Linie darum, linke Politik unter Generalverdacht zu stellen und zu kriminalisieren. Wie beim Antikommunismus führt das unter anderem zu einer Verharmlosung rechter Ideologie und Gewalt und begünstigt Bedingungen, unter denen rechtsterroristische Netzwerke entstehen können.
Das zeigt sich an der Amtszeit von Hans-Georg Maaßen, der von 2012-2018 Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz war. Währenddessen verharmloste er rassistische Ausschreitungen in Chemnitz, traf sich mehrfach mit Vertretern der Alternative für Deutschland, bauschte den Linksextremismus als Problem auf und unterstellte gar der SPD linksradikale Tendenzen.
Der Verfassungsschutz – der Feind wurde links verortet
Solche Vorfälle haben jedoch in der gesamten Geschichte des Verfassungsschutzes Kontinuität. Seit seiner Gründung 1950 hat sich der Verfassungsschutz, der eigentlich zum Schutz der freiheitlich demokratischen Grundordnung, des Bestandes und der Sicherheit des Bundes und der Länder dienen sollte, nicht als erfolgreich bewährt. Schon damals konnten hochrangige Nazis als freie Mitarbeiter in den Verfassungsschutz mit einsteigen und Karriere machen (Quelle). In den nachfolgenden Jahren zeigte die Mitarbeit der Funktionäre Wirkung – der Feind wurde links verortet.
Zahlreiche Berufsverbote wurden in den 1970er Jahren gegen Bewerber:innen aus dem linken Spektrum erlassen, viele wurden über Jahrzehnte lang bespitzelt. Auch ein Bombenanschlag geht auf das Konto des Verfassungsschutzes – Stichwort „Celler Loch“. Am 25. Juli 1978 detonierte eine Bombe an der Justizvollzugsanstalt Celle. Erst 8 Jahre später deckte ein Journalist auf, dass es ein inszenierter Anschlag durch den Verfassungsschutz war, um auf diese Weise V-Leute in den harten Kern der RAF einzuschleusen – denn es sollte wie eine Befreiungsaktion aussehen (Quelle).
Außerdem war der Verfassungsschutz in den Mord am linken Studenten Ulrich Schmücker verstrickt, welcher die linksradikale Szene bespitzeln sollte. Der sich darum drehende Strafprozess war der längste in der Geschichte der Bundesrepublik, begann 1976 und endete nach 591 Verhandlungstagen und vier Verfahren 1991 mit der Einstellung des Strafverfahrens. Der Prozess gilt als Justizskandal, da das Verfahren – wie offiziell festgestellt – vom Verfassungsschutz und mindestens zwei Staatsanwälten vielfach manipuliert und massiv behindert wurde, etwa durch Unterdrückung von Beweismitteln, wodurch die gerichtliche Aufklärung unmöglich wurde (weiterlesen).
Die Erfolge des VS sind… geheim?
Obwohl die Verfassungsschützer häufig behaupten, ihre Präventionsmaßnahmen hätten viele Anschläge verhindert, kann dies durch die Geheimhaltung der Akten nicht nachvollzogen werden. Was jedoch nachvollzogen werden kann, ist, dass vieles, was durch dem Verfassungsschutz bekannte Informationen hätte verhindert werden können, nicht verhindert wurde. Mit einem Blick auf jüngste Ereignisse wie den Mord an Walter Lübcke treten viele Fragen auf. Der Mörder Stephan E. war dem Verfassungsschutz bereits als Rechtsextremist bekannt und doch hat man ihn trotz mehrerer Hinweise auf Gewaltbereitschaft und rechtsextremistische Einstellungen „aus den Augen verloren“.
Gehen wir etwas weiter zurück: Zwischen 2000 und 2007 ermordete der NSU neun Menschen mit Migrationshintergrund aus rassistischen Motiven und eine Polizistin verübte 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge (Nürnberg 1999, Köln 2001 und 2004) und 15 Raubüberfälle. Der Verfassungsschutz hätte auch hier eingreifen und das Schlimmste verhindern können, aber er trug exakt nichts zur Aufklärung bei. Obwohl Nichts nicht ganz richtig ist – eher das Gegenteil: Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe waren beim “Thüringer Heimatschutz” (THS) aktiv. Von etwa 150 Aktivisten des THS waren 43 V-Leute des Verfassungsschutzes, welche mithalfen, die Strukturen der militanten rechten Szene aufzubauen und zu festigen sowie zum Teil erhebliche Straftaten begingen (Quelle).
Und natürlich der NSU-Skandal
Der Chef des THS war Tino Brandt und selbst der war ein Spitzel des Verfassungsschutzes. Für Brandts V-Mann-Tätigkeit flossen zwischen 1994 und 2001 staatliche Mittel in Höhe von 200.000 DM an ihn, die er weitgehend für seine „politische Arbeit“ verwendete. Brandt war ein enger Vertrauter des Trios, hielt auch nach ihrem Untertauchen sporadischen Kontakt und wurde auch zuverlässig vor anstehenden Hausdurchsuchungen gewarnt. (Stefan Aust, Dirk Laabs: Heimatschutz, München 2014). Die Beamten bekamen keinen Tipp von ihrer V-Leute-Truppe, wo sich das Trio aufhielt und Ermittlungen liefen jahrelang ins Leere. Auch die Rolle des Verfassungsschützers Andreas Temme, V-Mann-Führer des NSU-Kontakts Benjamin G., wirft Fragen auf. Denn dieser hielt sich zum Tatzeitpunkt in genau jenem Internetcafé in Kassel auf, wo Halit Yozgat 2006 ermordet wurde (Weiterführend).
Insbesondere nach Aufdeckung des NSU kam es zu umfangreichen Vernichtungen von Akten mit NSU-Bezug. Der Bericht des Verfassungsschutzes, der wichtige Antworten auf die Fragen enthalten könnte, wie der NSU Tatorte auswählte und wie er dabei auf die Unterstützung der lokalen Neonaziszene zurückgriff, wird bis ins Jahr 2134 (!) geheim und unter Verschluss gehalten, was dem Gegenteil von Aufklärung entspricht (Quelle).
Rechtsextreme Strukturen & Attentate verhindern… oder sie unterstützen?
Was wusste der Verfassungsschutz über die Wehrsportgruppe Hoffmann und das Oktoberfest-Attentat, immerhin der schwerste terroristische Anschlag in der Geschichte der Bundesrepublik? Und inwiefern wurden hier Ermittlungen behindert (Quelle)? Oder über den Mord am Rabbiner Shlomo Lewin und dessen Lebensgefährtin Frida Poeschke, der noch im selben Jahr verübt wurde und ebenfalls auf das Konto der Wehrsportgruppe Hoffmann geht. Er gilt als der erste antisemitische Mord eines Rechtsextremen in der Bundesrepublik (jungle.world – Ein Mord in einem Jahr voller Terror), doch die Serialität und politischen Motive dahinter wurden zu der Zeit von ermittelnden Behörden verkannt.
Auch am Aufbau der NPD hat unser Verfassungsschutz tatkräftig mitgewirkt – wieder einmal durch den Einsatz von V-Männern. V-Mann und NPD-Funktionär Wolfgang Frenz arbeitete ganze 36 Jahre für den Verfassungsschutz. Aber nicht nur das: Er baute mit den Geldern, die er für seine verbindungsmännlichen Dienste erhielt, fleißig die NPD mit auf, war sogar eines ihrer Gründungsmitglieder. Über Jahre gab er nur öffentlich zugängliche Informationen aus dem Parteileben weiter. An ihm scheiterte auch 2003 das NPD-Verbot. Frenz sollte als Kronzeuge im NPD-Verbotsverfahren auftreten, bis aufflog, dass er all die Jahre als V-Mann fungiert hatte (Quelle).
Verfassungsschutz: Voller Skandale, Ungereimtheiten und Verbindungen in die rechtsextreme Szene
Die Geschichte des Verfassungsschutzes ist eine Geschichte voller Skandale, Ungereimtheiten und Verbindungen in die rechtsextreme Szene. Die Befugnis, im Geheimen operieren zu dürfen, macht den Verfassungsschutz undurchdringlicher und unkontrollierbarer als jede andere staatliche Institution. Der Verfassungsschutz ist zu einer Art Staat im Staate geworden. Und die Freude darüber, dass die AfD nun endlich von ihm als Verdachtsfall eingestuft wurde, ist trügerisch. Natürlich sind die Aufgabenbereiche des Verfassungsschutzes von großer Bedeutung für die innere Sicherheit. Jedoch kommen bei den jahrelangen kontinuierlichen Verstrickungen des Verfassungsschutzes ins rechte Milieu große Zweifel an seiner Eignung dafür auf.
Der Einsatz von V-Leuten hat einen massiven Haken: Zwar halten die Dienstvorschriften des Geheimdienstes ausdrücklich fest, dass V-Leute „weder die Zielsetzung noch die Tätigkeit des Beobachtungsobjekts entscheidend mitbestimmen“ dürfen – in der Praxis tun sie jedoch genau das. Mitglieder einer Szene sind dann als V-Personen von Interesse, wenn sie maßgeblich in jene Prozesse eingebunden sind, die Ziel der Beobachtung sind. Die ideale V-Person, die zwar über alle relevanten Vorgänge Bescheid weiß, jedoch nicht darin eingebunden ist, ist ein Paradoxon, das in der Wirklichkeit selten bis nie vorkommt.” (Quelle).
Auch die Beobachtung der AfD sowie der Einsatz von V-Männern sollte kein Anlass zur voreiligen Freude sein. Denn auch hier könnte die Beobachtung ebenfalls zu einem Skandal ausufern. Die Geschichte zeigt, dass auch die bisherigen Skandale keine Ausrutscher oder Einzelfälle waren, sondern über traurige Kontinuität verfügen.
UPDATE:
Das Verfassungsgericht Köln hat heute die Beobachtung der gesamten AfD durch den Verfassungsschutz vorerst untersagt. Dies gilt, bis das Gericht über einen Eilantrag der Partei dazu entscheidet – wann, bleibt zunächst noch offen. Das Verwaltungsgericht warf dem Inlandsgeheimdienst vor, die mit dem Gericht vereinbarte Vertraulichkeit des Falles gebrochen zu haben. Dieser Artikel ist stets aktuell, da er sich über diesen Fall hinaus generell mit der Frage auseinandersetzt, ob der Verfassungsschutz die richtige Institution ist, um rechtsextreme Parteien wie die AfD zu beobachten, umreißt die Geschichte des Verfassungsschutzes und formuliert eine Kritik an seinen Strukturen und Verstrickungen in die rechte Szene.
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Artikelbild: Michael Kappeler/dpa
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