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Deutschsprachige Medien, die die Kreml-Lügen zu Butscha übernommen haben

von | Apr 8, 2022 | Aktuelles

Butscha: (Wie) sollte man die Lügner zitieren?

Bereits Anfang März gab es Augenzeugenberichte von Human Rights Watch über Hinrichtungen von Zivilist:innen in Butscha, das zu diesem Zeitpunkt unter der Kontrolle der russischen Armee war (Quelle). Am 19. März sind auf Satellitenbildern der privaten Firma Maxar bereits Leichen auf den Straßen von Butscha zu sehen (Quelle). Deren Standort entspricht exakt später zu sehenden Aufnahmen. Es gibt unzählige Videoaufnahmen, Fotos, Satelliten- und Drohnenbilder, die zum Beispiel zeigen, wie Zivilist:innen getötet werden. Hinzu kommen Augenzeugenberichte. Es besteht keinen Zweifel: Es wurden unfassbare Gräueltaten an der Zivilbevölkerung in Butscha während der russischen Besatzung verübt. Wir haben die Beweise hier gesammelt:

Butscha: Luft- & Satellitenaufnahmen liefern erdrückende Beweise für das Massaker

Das Täterregime Putins, das (nicht erst seit Beginn des Krieges, aber vor allem seit da) pausenlos Lügen und Propaganda verbreitet, leugnet diese Verbrechen wenig überraschend. Der Außenminister Russlands, Lawrow, spricht von einem erfundenen Angriff und leugnet dreist die Realität (Quelle). Der russische UN-Botschafter Nebenzia spricht derweil davon, dass es bei einem solchen „warfare“ eben zivile Opfer gäbe und Russland Beweise für deren Unschuld vorlegen will (Quelle, ab Minute 21). Im UN-Sicherheitsrat meinte der russische Botschafter dann auch noch völlig ohne Beweise, es habe während der Besetzung der Stadt durch Russland kein einziger Zivilist an irgendeiner Form der Gewalt gelitten (Quelle). Es ist offensichtlich, dass die Kreml-Ausreden sich sogar gegenseitig widersprechen.

False Balance?

Wir haben also auf der einen Seite etliche Videos, Augenzeugenberichte und Aussagen, die sich mit den Kriegsverbrechen in Butscha beschäftigen und auf der anderen Seite an Regime, das ununterbrochen offensichtlich falsche und sogar in sich widersprüchliche Lügen fabriziert. Das Ziel dahinter ist natürlich nicht, jemanden zu überzeugen, der nicht ohnehin schon parteiisch der Propaganda glaubt, sondern Verwirrung und Verunsicherung zu stiften. Das funktioniert aber nur, wenn die russische Propagandalügen als gleichwertige Aussagen neben der Wahrheit stehen. ZDF-Journalist Christoph Schattleitner hatte auf Twitter diese Screenshots deutschsprachiger Medien gesammelt.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die offensichtlichen Lügner zitieren?

Es ist eigentlich ein extrem wichtiges, grundlegendes Prinzip des Journalismus: Man wertet nicht, fällt keine voreiligen Urteile und bei einem Konflikt Wort gegen Wort lässt man „beide Seiten“ gleichberechtigt zu Wort kommen. Und trotz der vielen, vielen Beweise zu Butscha ist es eigentlich geboten, von „mutmaßlich“ zu sprechen, wenn man die russischen Kriegsverbrechen bezeichnet, denn es stehen noch juristische Urteile aus. Kollege Reisin von Übermedien hat darüber bereits geschrieben. Darin ging es konkret um die Berichterstattung über die Kriegsverbrechen. Die BBC spricht konsequent von „Beweisen“, die auf „Kriegsverbrechen hindeuten“ oder von „Kriegsverbrechen, die möglicherweise verübt wurden“. (Quelle, Quelle). Andere sprechen von „offenbaren“ Kriegsverbrechen.

Umgekehrt scheint der Umgang mit der anderen Seite viel komplizierter. „BILD“-Redakteur Piatov wirft der ARD vor, Lawrows Lügen unkommentiert zu wiederholen (Quelle). Die ehemalige Moskau-Korrespondentin der ARD, Golineh Atai, kritisierst die Praxis, notorische Lügner:innen zu zitieren: „Wie oft in den vergangenen acht Jahren haben wir immer wieder davor gewarnt, Kreml-Behauptungen (sprich: LÜGEN) einfach nur wiederzugeben, ohne den Nachsatz: ‚Das entspricht nicht den bekannten Fakten.‘ Wie oft? Ich kann echt nicht mehr. Ich hab’s aufgegeben.“ Sie hebt das BBC hervor, das solche Disclaimer bringt:

https://twitter.com/GolinehAtai/status/1511046583772663809

Der Kollege Reisin hat die Problematik dahinter auch bereits beschrieben:

„Das ist eine mögliche Form des Umgangs, aber es ist auch kompliziert. Denn natürlich zieht eine solche Praxis ebenfalls Diskussionen nach sich, weil damit eine journalistische Wertung einhergeht – was ebenso häufig kritisiert wird, insbesondere bei öffentlich-rechtlichen Medien. Ein Hauptvorwurf, insbesondere von rechtskonservativer Seite, lautet: Es werde viel zu viel gewertet, statt neutral zu berichten, wozu die Sender ja verpflichtet seien.“

Das Problem sei die Willkürlichkeit – und damit Wertung – bei wem diese Einordnung stattfindet. Aber

„Umgekehrt ließe sich natürlich argumentieren, dass Russland ein Spezialfall ist, weil der Kreml eben mit Desinformation und Lügen arbeite. Was inzwischen aber auch den meisten klar sein sollte.“

Keine Demokratie ohne Fakten

Und natürlich entbehrt es nicht einer Gewissen Komik, dass die „BILD“, das wahrscheinlich unseriöseste deutsche „Mainstream“-Medium der Tagesschau zu große journalistische Vorsicht vorwirft. Aber hier ist es auch: Das schwierige Verhältnis, die Gratwanderung zwischen „False Balance“, falsch akzentuierte Neutralität, die dem Lügner dadurch einen Vorteil verschafft, und dem wichtigen Aspekt, Kriegsverbrechen Kriegsverbrechen zu nenne und Lügner Lügner, ohne sich mit Propaganda gemein zu machen.

Ich würde argumentieren – und es dürfte Volksverpetzer-Leser:innen unschwer aufgefallen sein – dass man diejenigen, die sich wiederholt als unzuverlässig herausgestellt haben, anders behandeln muss als diejenigen, die sich ernsthaft um die Wahrheit bemühen. Sei es die rechtsextreme AfD, die extremistische Querdenken-Bewegung und ihre Führungsriege oder jetzt das autokratische Putin-Regime. Bei wem die Lüge, die Propaganda, die Ideologie über allem steht, und Wahrheit keine Rolle mehr spielt, sollte als Gefahr betrachtet werden. Denn diese Gruppen untergraben mit allen schmutzigen Tricks unseren Informationsfluss.

Und seit Jahren sieht man immer deutlicher, durch die AfD, durch Halle, Hanau, Lübcke, Querdenken: Desinformation führt viel zu oft zu extremistischen Gruppen führen zu Terror, Hass, Gewalt und Tod. Direkt durch Terror oder indirekt, wenn sinnvolle Corona-Maßnahmen sabotiert werden oder lebensrettende Impfungen abgelehnt werden. Es liegt in der Verantwortung der Medien, die Wahrheit zu zeigen. Und wer nachweislich stets lügt, darf da nicht als potentiell vertrauenswürdig behandelt werden. Man muss ja ihre Positionen nicht verschweigen, es gibt Abstufungen. Aber vielleicht wäre es definitiv sinnvoll, nicht ein gelogenes Zitat in den Titel packen.

Zum Thema:

Butscha: Leichen wurden direkt nach der Befreiung gefunden – Faktencheck

Artikelbild: Screenshots

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