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Nein, die Verteidigung von Osama bin Laden ging nicht auf TikTok viral

von | Nov 17, 2023 | Aktuelles

Du hast es sicher auch gehört: 12 Jahre nach seinem Tod reden plötzlich alle über Osama bin Laden. Eine kleine Anzahl von TikTok-Nutzern fand einen von bin Laden geschriebenen Brief, der 2002 vom Guardian veröffentlicht wurde, und war der Ansicht, dass der Terrorist und Al-Qaida-Führer trotz des antisemitischen Mülls und des islamisch-fundamentalistischen Unfugs in einigen Punkten in Recht mit seiner Kritik an der amerikanischen Außenpolitik haben sollte.

Ich glaube, hier müssen wir nicht groß diskutieren, dass das extrem verwerflich ist, antisemitisch, verschwörungsideologisch, grotesk und ekelerregend. Und ich habe darauf genau so reagiert wie du wahrscheinlich auch: Das reflexhaft auch zu äußern oder sich über diese Absurdität lustig zu machen. Dafür ist Social Media ja da: Sich über Dinge empören. Und dass einige auch aus dem linken Spektrum beim Nahost-Konflikt jegliche Differenzierung verlieren, ist ja auch nichts Neues. Dass z.B. eine Greta Thunberg völlig unkritisch und einseitig Accounts bewirbt, die Hamas-Massenmorde relativieren und sogar feiern, wurde ja schon kritisiert.

Die (absolut richtige) Verurteilung solcher Positionen und das Abfeiern des Terroristen Osama bin Laden waren voll in meinem Feed, und ich wollte mich der Verurteilung auch direkt anschließen.

Da Leute mir aber schnell an die Gurgel gehen, wenn ich als Anti-Fake-News-Blogger einfach auf irgendein Narrativ aufspringe und mir allein aufgrund von Überschriften eine Meinung bilde – weil genau so Fake News entstehen – wollte ich mehr wissen. Und war ein wenig irritiert darüber, was inzwischen als „viral“ durchgeht.

Ich würde mir nicht die Mühe machen, extrem problematische Videos zu relativieren, wenn dieses aufgebauschte Phänomen nicht sofort dazu genutzt worden wäre, um es gegen das jeweils genehme Feindbild zu instrumentalisieren. Wer „Tiktok“ nicht mag, „Gen Z“ oder „Woke“, der kommt hier auf seine Kosten. Daher hier der Versuch einer Einordnung.

Die AfD hat mehr reichweite

Ja, es gab definitiv einige extrem kritisierenswerte Videos, die sich auf den „Letter to America“ von Osama bin Laden aus dem Jahr 2002 bezogen, keine Frage. Aber es gibt sehr viele Videos, zu sehr vielen Themen und auch mit sehr vielen verachtenswerten Positionen. Das sind noch keine „Trends“ und von den meisten hörst du nicht mal was. Da können Videos auch sehr schnell mehrere Millionen Aufrufe erlangen. Hier ein ebenfalls schreckliches Video von der AfD mit knapp 2 Millionen. Die rechtsextreme AfD ist auf Tiktok übrigens besonders erfolgreich, ihren Zuschauern mit Hass und Desinformation eine Gehirnwäsche zu verpassen. Sind das „Trends“? Ist das Gen Z?

Wenn ein paar Dutzend Leute irgendetwas auf Tiktok machen – egal, wie verwerflich – und damit auch ein paar Millionen Aufrufe generieren können, ist das noch kein Trend. Wie kam es dann in diesem Fall plötzlich zum Medienhype? Ein wenig „Schuld“ daran hat der Guardian. Der hatte 2002 den Brief von Osama bin Laden veröffentlicht. Und hat am Mittwoch, den 15. November 2023 festgestellt, dass sie plötzlich ungewöhnlich viele Zugriffe darauf bekamen – wegen der Tiktok-Videos. Damit der Brief von Osama bin Laden nicht aus dem Kontext gerissen werden konnte und um weiteren Schaden zu vermeiden, wurde er offline genommen.

Ich glaube, hier ist der Ursprung für die Bekanntheit. Indem der Guardian vermehrte Zugriffe bemerkte und darauf reagierte – und darüber berichtete – machte er die Sache mit dem Osama-Brief zur News-Meldung. CNN berichtete dann auch: „Dutzende von jungen Amerikanern haben diese Woche Videos auf TikTok gepostet, in denen sie ihre Sympathie für Osama bin Laden ausdrücken.“ Klar, ist jeder einzelne problematisch, aber „einige wenig dutzend“ (CNN) Tiktok-Nutzer sind immer noch sehr wenig. Und kein „Trend“. Und sicherlich nicht „Gen Z“.

Sind jetzt schon „Hygiene Tipps“ viral gegangen?

Wer war das überhaupt? Klar, es gab Tiktok-Nutzer, die das machten. Eine, die dahinter steckte, war zum Beispiel die Nutzerin @kianaleroux, die möglicherweise das Ganze überhaupt gestartet hatte. Ihr Video soll eine Million Aufrufe bekommen haben. Das klingt erstmal nach viel, ist es aber für Tiktok nicht wirklich. Nicht einmal für sie selbst – ihre viralen Videos haben 3 bis 12 Millionen Aufrufe. Ihre „Hygiene Tipps“ werden allerdings nicht als „Trend“ bezeichnet.

Von dem angeblichen Trend, Osama bin Ladens Brief zu feiern, erfuhr die Öffentlichkeit erst durch einen Twitter-Zusammenschnitt eines Twitter-Nutzers, der das sogar postete, bevor der Guardian den Brief offline nahm. Und es ist grundsätzlich nicht falsch, diese gefährlichen und verwerflichen Videos anzuprangern. Jedoch steht der Verdacht im Raum, dass die Auswahl und der Zusammenschnitt das als eine größere Sache dargestellt haben, als es war. Der Tweet wurde jetzt bereits mehr als doppelt so oft gesehen, wie es überhaupt je Interaktionen zu dem angeblichen Osama-Trend gab.

Ja, wirklich. Bevor der Sturm der Empörung losging, sollen die Videos laut einer Analyse Anfang der Woche gerade mal 2 Millionen VIews gehabt haben. Insgesamt. Das ist nichts. Selbst unser popeliger Volksverpetzer-Tiktok-Account hat schon Videos, die auf die eine Million Views zugehen. Wenn eine Million der Views auch die Influencerin von oben waren, dann war es vielleicht ihr Video und ein paar kleine Trittbrettfahrer. Ich konnte leider nicht alle gezeigten Nutzer identifizieren, auch weil einige gelöscht sind und Tiktok den Trend gesperrt hat, aber die, die ich fand, hatten teilweise nur 5000 Follower und 70.000 Views auf ihr Video, eine andere, die inzwischen gesperrt hat, immerhin 177.000 Follower. Unklar ist, wie viel dieser Views und Reichweite auch überhaupt Zustimmung ist, da die meisten inzwischen gelöscht zu sein scheinen. Ohnehin sind Tiktok Videos ja sehr kurz und schon die erste Sekunde Abspielen zählt, ein „View“ bedeutet da nicht so viel.

Streisand-Effekt

Der Trend „#lettertoamerica“ war nicht in den Tiktok-Trends, bevor der Twitter-Nutzer darauf aufmerksam machte. Man könnte vermutlich sogar sagen, dass erst die Aufregung darüber für den Streisand-Effekt sorgte. Die Aufregung über den angeblichen Osama-Trend am Mittwoch und Donnerstag führte dazu, dass er erst bekannt wurde. Die New York Times berichtete somit, dass der Hashtag gerade mal 14 Millionen Views bekam bis Donnerstag und die Washington Post berichtete, dass es gerade mal 274 Videos mit dem Hashtag gab, bevor „Tweets und Medienberichte“ Aufmerksamkeit darauf lenkten. Tiktok sperrte den Hashtag und löschte einige der Accounts.

Wer nicht auf TikTok ist, den mag eine „Million“ vielleicht beeindrucken, aber auf TikTok sind das lachhaft kleine Zahlen. Klar, nichts harmloses. Aber ein Video, wo ein Typ indisches Essen isst, macht da allein schon 19 Millionen Aufrufe. Oder wo jemand einen verstopften Abfluss befreit – 26 Millionen. Volksverpetzer-Videos auf Instagram erreichen auch mehrere Millionen, wie zum Beispiel hier beim Aufruf von Bela B, unsere AfD-Verbot-Petition zu unterstützen. Das ist jetzt nicht so viel.

Wie gesagt, es sind extrem kritisierenswerte Pro-Osama Videos. Und gut, dass man das kritisiert. Aber ein „viraler Trend“? Kaum. Der Tweet, der das erst bekannt machte, hat knapp 38 Millionen Views. Und dazu muss man sagen, dass ein Großteil derjenigen, die später zum Hashtag beitrugen, die sein durften, die sich über die Pro-Osama-Videos aufregten und sie kritisierten. Nicht jeder View ist auch Zustimmung. Wie viele den antisemitischen Thesen wirklich zustimmten, lässt sich kaum quantifizieren. „Hunderttausende Kommentare“ mit Zustimmung? Unter einem Video mit 5.000 Kommentaren? Es waren wohl nicht so viele, wie es dargestellt wird.

Der Backlash ging viral

Es war wohl der virale Tweet und der Fakt, dass der Guardian den Beitrag löschte, der das ganze erst zur News-Story machte. Die Entfernung durch den Guardian und die strenge Überwachung durch TikTok haben wahrscheinlich noch Öl ins Feuer gegossen und mehr Aufmerksamkeit auf ein eher verdecktes Problem gelenkt, den Streisand-Effekt. In der Liste der meistgesehenen Beiträge des Guardian steht jetzt „Removed: document“ ganz oben – ein Platzhalter für die Stelle, an der der Brief einst stand.

Und ich hätte mir nicht die Mühe gemacht, diese Übertreibung eines kleinen Phänomens von ekelerregenden Videos überhaupt in Relation zu setzen, wenn nicht das passiert, was immer in solchen Fällen passiert: Das Narrativ gewinnt ein Eigenleben und wird von verschiedenen für die eigene Agenda missbraucht. Al-Qaida feiert laut ZDF den angeblichen Trend zu eigenen Propaganda-Zwecken:

Die rechte WELT sieht natürlich die Schuld in einem ihrer Feindbilder „woke Teenager“:

Andere nutzen es im immergleichen „Die Jugend von heute!“-Duktus, um die „Generation Z“ kollektiv zu kritisieren.

Und wieder andere sehen darin eine Bestätigung, wie gefährlich die chinesischer Plattform Tiktok ist. Und völlig egal, wie man all das bewertet – Osama bin Laden und seine antisemitische Hetzschrift, oder die jeweiligen Feindbilder – der aufgebauschte Vorfall wird jetzt von vielen Seiten instrumentalisiert, um altbekannte Feindbilder zu attackieren.

Fazit

So funktionieren Dynamiken auf Social Media: Empörung ist Reichweite. In diesem Fall ist die Empörung natürlich gerechtfertigt, und derartige Einstellungen sind gefährlich. Aber wenn ein Großteil der Diskussion aus denjenigen besteht, die einen „viralen Trend“ verurteilen, und jenen viralen Trends dadurch erst erschaffen, dann müssen wir uns dessen auch bewusst sein. Eben damit nicht verschiedene Akteure das ausnutzen können, um ihre eigenen Narrative zu befeuern. Und dann werden „wenige dutzend“ Volldeppen auf Tiktok plötzlich als repräsentativ für Gen Z oder „Woke“ halten.

Solche Narrative entwickeln dann schnell ein Eigenleben. Hier gilt es, auch aufzupassen, dass man selbst nicht einfach nur in einen Strom gerät, wo man Dinge nicht mehr kritisch hinterfragt, sondern der kollektiven Bewegung seiner eigenen Blase folgt. Auch wenn hier „die Richtung“ stimmt – Osama bin Laden und seine islamistischen und antisemitischen Hetzschriften sind zu verurteilen. Gleichzeitig sollten wir uns nicht angewöhnen, wie die AfD, Dinge zu kritisieren, die es nicht gibt oder die aufgebauscht sind, nur weil „es ja schon irgendwie passt“. Wir sollten uns auf die wichtigen Dinge und Trends konzentrieren und aufpassen, wie viele „Trends“ echte Trends sind und welche. Es gibt genug echte Dinge und große Accounts, die problematische Einstellungen zu Antisemitismus und Terror haben. Zum Beispiel Greta Thunberg:

Artikelbild: Epa/epa/dpa; Ascannio