Der Bundestag ist so groß wie nie, das behindert den demokratischen Prozess und kostet den Steuerzahler ganz schön viel Geld. Das liegt vor allem an der Sonderbehandlung für die CSU. Kein Wunder also, dass man dort gegen die Pläne der Ampel zur Wahlrechtsreform ist, die den unfairen Vorteil beseitigen will. Das Problem: In ihrer Kritik greift die CSU zu Desinformation, Rechtspopulismus wie Trump und die AfD und zu Heuchelei.
Bayern bittet mit ihrer Extrawurst ganz Deutschland zur Kasse
Für die aktuelle Debatte zur Wahlrechtsreform wollen wir euch erst mal ein paar Fakten zur aktuellen Wahlrechtslage mitgeben. In Deutschland gilt das Verhältniswahlrecht. Das bedeutet, dass das Sitzverhältnis im Bundestag dem Zweitstimmenverhältnis entsprechen soll. Mit der Erststimme wählt ihr Direktkandidat:innen aus eurem Wahlkreis, mit der Zweitstimme wählt ihr eine Partei. Die Direktkandidat:innen, die übrigens auch parteilos sein können, ziehen in jedem Fall in den Bundestag ein. Erhält eine Partei bundesweit beispielsweise 20 Prozent der Zweitstimmen, soll sie aber auch 20 Prozent der Sitze im Bundestag erhalten. Die Sitze werden zunächst durch die Direktkandidat:innen aufgefüllt – fehlen dann noch Sitze kommen die Listenmandate zum Zug, die ausgleichen, bis das Verhältnis aus dem Zweitstimmenanteil stimmt.
In Deutschland gibt es insgesamt 299 Wahlkreise, das entspricht also 299 Direktmandaten. Die weiteren gesetzlich vorgesehenen 299 Sitze sind eigentlich Listenmandate. Insgesamt sollte der Bundestag also auf 598 Sitze kommen.
Theorie entspricht nicht der Praxis – wegen der CSU
Das aber nur in der Theorie: in der Praxis ist der Bundestag schon seit 1990 größer als vorhergesehen. Seit der letzten Bundestagswahl 2021 sitzen sogar 736 Abgeordnete im Parlament, so viel wie noch nie zuvor in der Geschichte des Bundestags.
Woran liegt das? Achtung, Spoiler: an der CSU. Und am derzeitigen Wahlrecht, das den Bundestag aufbläht und bei der nächsten Bundestagswahl zu neuen Rekordzahlen führen könnte. Laut aktuellem Wahlrecht bekommen andere Partei Ausgleichsmandate, die entstehen, wenn eine Partei mehr Direktkandidat:innen stellt, als ihr eigentlich durch die Zweitstimmen zustehen würde – also selbst “Überhangmandate” erhält.
Durch Ausgleichsmandate wird versucht, diesen Vorteil zu neutralisieren, den die Partei dadurch erhält. Die restlichen Parteien erhalten also auch mehr Sitze, sodass das Zweitstimmenverhältnis wieder hergestellt sein soll. Diese Ausgleichsmandate sind seit der Wahlrechtsreform 2013 ab drei nötigen Überhangmandaten erforderlich.
Ist nur ein bisschen komisch, dass besonders auch die CDU von diesen Überhangmandaten profitiert, oder? Obwohl so viele davon überhaupt erst wegen der CSU, ihrer Schwesterpartei nötig werden? Da es die CSU nur in Bayern gibt, können ihre Überhangmandate nicht mit den Listenmandaten aus anderen Bundesländern verrechnet werden, wie das bei anderen Parteien, die keine bundesweite Extrawurst bekommen, gehandhabt wird. Also: Wegen den Sonderfall der CSU werden sehr viele Überhangmandate nötig, die vor allem ihre Schwesterpartei bekommt. Also einfach ganz viele Extra-Abgeordnete für die Union.
Kleines bayerisches Rechenbeispiel
Bei der Bundestagswahl 2021 holte die CSU in Bayern 45 Direktmandate. Das sind als kleine Schwesterpartei der CDU, die gerade mal so die 5%-Hürde schafft, richtig viele. Eigentlich wären ihr gemäß der Zweitstimmen nur 34 Sitze zugestanden. Fest steht, dass die Sonderbehandlung der CSU zu elf Überhangmandaten geführt hat, für die wiederum 127 Ausgleichsmandate nötig waren. 127!
Die CSU ist damit der definitiv Hauptverantwortliche für die absurde Aufgeblähtheit des Bundestags. Die Schwesterpartei CDU erhielt so 30 Ausgleichsmandate, die SPD 36, die AfD 14, die FDP 16, die Linke 7 und die Grünen 24. Insgesamt sah die Bundestagswahl 2021 so aus: 598 Abgeordnete gesetzlich vorgesehen + 11 Überhangmandate der CSU + 127 Ausgleichsmandate = 736. Das macht den Bundestag nicht nur unnötig groß und teuer, es geht auch nicht auf: Die CSU hatte nur 5,2% der Zweitstimmen, stellt aber 6,1% der Abgeordneten. Die CSU erhält (auch!) durch diese Regelung also buchstäblich unfairerweise mehr Anteil am Bundestag, als ihr eigentlich zusteht.
Falls sich wer fragt, warum das früher nicht so dramatisch war: Die Union hat bei der letzten Bundestagswahl ein historisch schlechtes Wahlergebnis erhalten, die CSU hat trotzdem (wenn jedoch viel knapper) viele Direktmandate geholt. Die Diskrepanz aus Direktmandaten und Zweitstimmenanteil ist damit größer als üblich.
Die Union mag es kuschlig im Bundestag
Absurd allein im internationalen Vergleich: Deutschland hat eines der größten Parlamente der Welt. In den USA, wo mehr als viermal so viele Menschen leben wie in Deutschland, sitzen lediglich 535 Abgeordnete im Kongress. Die Gesamtausgaben in Deutschland lagen 2022 bei circa einer Milliarde Euro, 2014 waren es noch 716 Millionen. Noch nie war die CSU-Extrabehandlung so teuer, auch mit eingerechneter Inflation nicht. Aber es geht ja nicht nur um die Kosten, die die Steuerzahler:innen tragen müssen. Auch die Ausschüsse des Bundestags, die Vorschläge zu einzelnen Politikfeldern erarbeiten, sind durch den Exzess an Abgeordneten immer handlungsunfähiger.
So ziemlich alle Parteien sind sich einig, dass das bestehende Wahlrecht reformiert werden muss, und zwar grundsätzlich, nicht mit irgendwelchen Mini-Reformen wie in vergangenen Legislaturperioden. Alle Parteien? Verständlicherweise fühlt sich die CSU in ihrer bundesweiten Sonderposition, mit die sie überproportional viele Sitze im Bundestag einheimst, ziemlich wohl. Verwunderlich ist daher nicht, dass grundlegende Wahlrechtsreformen mit der Großen Koalition gescheitert sind. Anders gesagt: Wenig überraschend ist die CSU gegen eine Reform, die ihre unfaire Übervorteilung abschafft. Das Problem jedoch: Sie argumentiert nicht ehrlich und greift tief in die Desinformations- und Populismuskiste.
Wer fegt gute Ideen vom Tisch und inszeniert sich als Opfer?
Die Ampel-Regierung will jetzt den ganzen Überhangs- und Ausgleichsmandat-Spaß abschaffen. Die Idee ist, wieder zu den vorgesehenen 598 Sitzen zurückzukehren. Dazu sollen die Direktkandidat:innen im Zweifelsfall leer ausgehen. Würde eine Partei also mehr Erststimmen erhalten, als ihr eigentlich über die Zweitstimmen zustünde, könnten die betroffenen Direktkandidat:innen mit dem schlechtesten Ergebnis aus dem Wahlkreis einfach nicht in den Bundestag einziehen. Ihr ahnt es schon: vor allem die CSU würde damit ihren Überhangmandatsvorteil verlieren.
Die ist dementsprechend sauer: CSU-Generalsekretär Martin Huber ist richtig vorgeprescht und wirft der Ampel sogar „organisierte Wahlfälschung“ und ein “Schurkenstaat“ werden vor. Die Wortwahl kommt euch irgendwie bekannt vor? Das ist Rechtsextremisten-Sprech. Auch Donald Trump bemühte nach seiner Niederlage gegen Joe Biden wiederholt die Lüge, es sei zu Wahlfälschungen gekommen und er sei der rechtmäßige Gewinner der Präsidentschaftswahlen.
Auch die AfD nutzt regelmäßig die demokratiefeindliche Rhetorik von “Wahlbetrug”, um die Demokratie zu untergraben. Extrem gefährlich also.
Wäre die vorgeschlagene Reformregelung schon bei der Wahl 2021 angewandt worden, wären elf der direkt gewählten 45 CSU-Abgeordneten nicht in den Bundestag eingezogen. Sie würde nur noch 5,7 statt der aktuellen 6,1 Prozent der Abgeordneten stellen. Wohlgemerkt: Der bundesweite Anteil an CSU-Zweitstimmen lag bei nur 5,2 Prozent. 2021 profitierte die CSU unfairerweise von der Sonderregelung, dass die ersten drei Überhangmandate nicht ausgeglichen werden. Der Ampel-Reformvorschlag wäre also weder verfassungswidrig noch „organisierte Wahlfälschung“, sondern einfach eine demokratische Wiederherstellung des aktuell verzerrten Kräfteverhältnisses. Ein unfairer Vorteil der CSU würde wegfallen.
Fun fact am Rande: auch Ex-Verkehrsminister Andi Scheuer wäre mit dem aktuellen Reformvorschlag nicht in den Bundestag eingezogen.
“Wo sonst auf der Welt kann man einen Wahlkreis gewinnen, aber nicht ins Parlament kommen?” Na, in Bayern.
Witzig ist auch die Doppelmoral in der CSU-Argumentation. Das vielleicht stärkste Argument gegen die Ampel-Wahlrechtsreform ist, dass zukünftig höchstwahrscheinlich nicht mehr alle Wahlkreissieger:innen in den Bundestag einziehen werden – natürlich vor allem Kandidat:innen der CSU. Das sei ein Kriterium eines “Schurkenstaates”. Aber auf Landesebene ist dies in Bayern laut Landesverfassung schon immer möglich. Direktkandidat:innen bei der Landtagswahl ziehen dort ebenso nicht garantiert ins Parlament ein – ihre Partei muss auch die 5 % erreichen.
Da stellt sich die Frage, wieso etabliertes Wahlrecht auf Landesebene keinen stört, während es auf Bundesebene „verfassungswidrig“ sein soll. CSU-Bundestagsabgeordneter Thomas Silberhorn fragt empört auf Twitter: “Wo sonst auf der Welt kann man einen Wahlkreis gewinnen, aber nicht ins Parlament kommen?” Na, in Bayern.
Wenn du sagst, du hast eine bessere Idee, du aber der einzige bist, der davon profitiert…?
Fairerweise muss man sagen, dass die CSU zwar viel gemeckert, aber trotzdem einen eigenen Vorschlag zur Verschlankung des Parlaments vorgelegt hat. Aber leider würde der an der unverhältnismäßigen Bevorzugung der CSU aber nichts ändern. Im Gegenteil.
Laut Union wäre das sogenannte Grabenwahlrechtssystem der beste Weg, um die Sitze im Parlament wieder auf die vorhergesehenen 598 zu beschränken. Das würde mit diesem System zwar funktionieren, unterm Strich aber würde jede Partei außer CDU/CSU und SPD verlieren, während gerade die Union unverhältnismäßig viele Sitze hinzugewinnen würde. Die Hinzugewinne der SPD sind vernachlässigbar. Beim Ampel-Vorschlag hingegen verlieren alle Parteien gleichmäßig viele Sitze – und die CSU ein paar wenige mehr, um ihren unfairen Vorteil auszugleichen.
Beim Unions-Vorschlag würden “zufällig” FDP, Grüne, Linke und AfD viel mehr Sitze verlieren, während die CSU sogar MEHR Sitze erhalten hätte, mit dem 2021 Wahlergebnis. Fair ist das sicher nicht. Aber anderen wird “Wahlbetrug” vorgeworfen.
Gute Politik, statt Populismus und rechte Rhetorik?
Wir sind der Meinung: gute Politik führt dazu, wie viele Wähler:innen eine Partei überzeugt und wie viele Sitze sie dementsprechend in Bundestag bekommt. Da muss man nicht eine Wahlrechtsreform erfinden, damit man viel mehr Mitspracherecht erhält, als man vom Volk erhalten hat. Rhetorik wie die der Demokratiefeinde von Trump und der AfD sowie Argumente mit Desinformation und Doppelstandards sind jedoch sicher nicht der Weg zurück zu einem faktenbasierten Diskurs.
Artikelbild: photocosmos1